Wirklichkeit mit Gender*

Wenn wir über die aktuellen Auswirkungen und die Bedeutung von Sprachpolitik für literarisches Schreiben nachdenken, so kristallisieren sich sehr schnell zwei umkämpfte Diskussionsfelder heraus: Zum einen die Frage „Wer darf über was schreiben?“, also der Versuch, die Debatten über kulturelle Appropriation auf das Feld der Literatur zu übertragen, zum anderen die im engeren Sinne sprachpolitische Forderung nach der Verwendung von nicht-diskriminierenden Begrifflichkeiten bzw. solchen, die den Selbstdefinitionen minoritärer Gruppen entsprechen.

Allen Debatten um Sprachpolitik und Literatur gemeinsam ist, dass sie literarische Texte durch die Brille kulturwissenschaftlicher, insbesondere postkolonialer Theoriebildungen nicht nur lesen (das hatte schon Edward Said getan, der die Gewalt der britischen Kolonialherrschaft zwischen den Zeilen der englischen Romane des 19. Jahrhunderts aufspürte), sondern auch – und das ist neu – selbst schreiben oder dieses Schreiben einfordern. Was bei Said zu einer kritischen Relektüre des Kanons führte, wird hier nicht nur zur Forderung nach einem neuen Kanon, sondern steckt auch den engen Korridor ab, wie und von wem an diesem Kanon weitergeschrieben werden soll und darf.

#dignidadliteraria

Als die weiße US-Schriftstellerin Jeanine Cummins 2020 den Roman American Dirt herausbrachte, wurde sie zunächst hochgelobt, weil sie mit Realismus und Empathie das Schicksal illegaler mexikanischer Migrant*innen in den USA sichtbar machte. Bald jedoch schlug die Stimmung um, und das in einer Heftigkeit, wie wir sie vielleicht von der Debatte um das Bild der weißen US-Künstlerin Dana Schutz kennen, die den ermordeten Afroamerikaner Emmett Till gemalt hatte und das Bild auf der Whitney-Biennale 2017 in New York ausstellte. Jedenfalls wurde Jeanine Cummins unter dem Hashtag #dignidadliteraria in Blogs und Rezensionen vorgeworfen, sie würde mit dem Buch das Verbot der kulturellen Aneignung überschreiten, indem sie Mexiko und die Lebenssituation der Migrant*innen darstelle, wozu sie grundsätzlich als weiße Autorin nicht berechtigt sei. Der gewählte Hashtag macht sehr deutlich sichtbar, um was es hier geht: um die Würde derjenigen, die sich in American Dirt in verletzender, stereotyper Weise oder von falscher Seite beschrieben fühlten.
Lesereisen mussten abgesagt werden und schließlich entschuldigten sich sowohl der Verlag als auch prominente nicht-weiße Leser*innen, die das Buch zuvor gelobt hatten, wie Oprah Winfrey oder Selma Hayek, ihre Begeisterung wäre wohl das unreflektierte Ergebnis einer zu kurzsichtigen Lektüre gewesen. Der Roman hätte sie also in gewisser Weise mit der Macht seiner erzählerischen Mittel zu Gefühlen verführt, die sie in späterer Selbstkritik als nicht adäquat erkannt hätten.
Cummins wurde vorgeworfen, sie schlachte das Schicksal mexikanischer Migrant*innen aus, wozu sie aufgrund fehlender eigener Erfahrung kein Recht habe, kurzum, sie betreibe „Geschichtenklau“. Dem zugrunde liegt die Vorstellung, Geschichten „gehörten“ denjenigen, von denen sie handelten, deren Erfahrungen sie erzählten.

Dass sich hier weiße Autoren mit dem Anspruch, seit jeher über alles schreiben zu dürfen, dagegenstellen, ist nicht weiter interessant. Spannend – und für mich sehr überzeugend – ist aber die Argumentation, die die britisch-jamaikanische Schriftstellerin Zadie Smith in ihrem großartigen Essay In Defense of Fiction versucht: Smith schreibt, es sei zwar verständlich, wenn sich marginalisierte Gruppen mit dieser Forderung vor weiterer Diskriminierung schützen wollten und damit das Recht beanspruchten, „für sich und über sich“ selbst zu sprechen, allerdings sei dieses „Selbst“ eben weder eindimensional noch linear. Im Gegenteil: Es sei vielstimmig und habe Anteil an Erfahrungen, die keineswegs auf die Zugehörigkeit zu class, race oder gender zu reduzieren seien. Und auch wenn – oder vielleicht gerade weil – Fiktion sowohl fundamental zur Unzuverlässigkeit und zur Vereinnahmung fremder Erfahrungen neige, sei eben Fiktion auch idealerweise vielstimmig, empathisch und untrennbar einem universalistischen Anspruch verbunden.

Wenn Zadie Smith die Freiheit der Fiktion mit „All storytelling is the invitation to enter a parallel space, a hypothetical arena, in which you have imagined access to whatever is not you“1 verteidigt, so tut sie dies nicht nur als Schreibende, sondern vor allem auch als Lesende, die ihren Lektüren den Zugang zu und das Verständnis für unterschiedlichste fremde, andere Erfahrungen verdankt. Nicht nur hätten weiße Leser*innen durch die Romane von Toni Morrison wesentliche Einblicke in die Lebensbedingungen Schwarzer Menschen gewonnen, auch Morrison selbst habe andererseits nie verheimlicht, wieviel sie den Werken von William Faulkner verdanke. Dasselbe gilt laut eigener Aussage auch für James Baldwin. Literarische Genealogien verlaufen eben komplexer, als eine eindimensionale Lesart es wahrhaben möchte.

In einer Diskussion über literarische Aneignung (Oktober 2020, Literaturforum im Brechthaus) argumentiert Saba-Nur Cheema, Leiterin der Pädagogischen Programme und Projekte der Bildungsstätte Anne Frank, ganz ähnlich: „Was mir in dieser Debatte fehlt, ist die Frage, wie sich Solidarität ausdrücken kann. In Zeiten, wo völkisches Denken eine Konjunktur erlebt, ist dies ein gefährlicher Essentialismus – nur schwer von einem rechten Essentialismus zu unterscheiden. Es entscheidet nicht mehr die politische Haltung eines Autors, sondern seine Zugehörigkeit, sein ‚Wesen‘.“ Dieser Gefahr, denke ich, gilt es sich zumindest bewusst zu sein, wenn die eigene Erfahrung als Besitz und das Schreiben über sie als exklusives Recht reklamiert wird. Und auch die Ambivalenz im Blick zu behalten, wenn Empathie und gesellschaftliche Wahrnehmung einerseits eingefordert, denjenigen aber, deren Beruf das fiktionale Überschreiten des Eigenen hin zum Anderen ist, das literarische Recht darauf abgesprochen wird.

So wesentlich es ist, dass mit Autor*innen wie Ronya Othmann, Marko Dinić, Barbi Marković, Sasha Marianna Salzmann, Nino Haratischwili oder Sandra Gugić, um nur einige zu nennen, wesentliche, mehr oder weniger autofiktionale Narrative migrantischer Erfahrungen auch in der deutschsprachigen Literatur nicht nur formuliert, sondern auch sehr erfolgreich das Zentrum literarischer Wahrnehmung für sich beansprucht haben, so problematisch ist es, wenn diese Stimmen (mit dem Verweis auf einen biografischen Essentialismus) für sich das alleinige Recht der Beschreibung einer postmigrantischen Realität beanspruchen würden (was die Genannten im Übrigen allesamt nicht tun).

Sich dieses Widerspruchs zwischen fiktionaler Empathie und der Vielstimmigkeit von Narration einerseits und problematischer Aneignungsmechanismen andererseits bewusst zu sein, ist nicht erst durch migrantische Positionen relevant geworden. Es gilt genauso für einen feministischen Anspruch an Literatur, wie die junge österreichische Autorin Katherina Braschel das Dilemma für sich beschreibt: „Ich denke viel darüber nach, was meine gesellschaftliche Position ist und zu welchen Themen ich mir in meinem Schreiben Raum nehmen kann/will/darf/muss. Und wo es wichtig ist, die Stimmen anderer zu multiplizieren, aber sich den Raum selbst nicht zu nehmen. Natürlich ist das auch mit viel Ärger und der Reflexion von Widersprüchen verbunden. Ein gutes Beispiel: Ich will, dass sich Männer auch zu feministischen Themen äußern, gleichzeitig ärgert es mich, wenn dadurch wieder nur Männer die Aufmerksamkeit bekommen (für Sachen, die Frauen schon ewig thematisieren) und denen dann womöglich auch noch für ein bare minimum groß auf die Schultern geklopft wird.“

Broken German & broken identities

Eng verbunden mit der Debatte um das Recht auf Themen und Biografien ist die im engeren Sinne sprachpolitische Kontroverse. Welcher Sprache kann sich literarisches Schreiben bedienen, wenn es herrschende Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen nicht reproduzieren will? Einer diskriminierungsfreien, gendergerechten, würde man antworten wollen. Wie aber soll mit einer solchen Sprache eine keineswegs diskriminierungsfreie, gendergerechte Welt dargestellt werden, wie soll der eigene politische Kampf zum Thema gemacht werden, wenn das Bekämpfte keine Bühne bekommen soll, wie kann Rassismus aufgezeigt werden, wenn rassistisches Sprechen nicht gezeigt werden darf?

Und weiter: In welcher Sprache soll die Realität migrantischer Erfahrungen erzählt werden? Sowohl Emine Sevgi Özdamar in ihren Erzählungen Mutterzunge (1990) als auch Feridun Zaimoğlu in Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft (1995) setzten damals auf eine Kunstsprache, die zwischen der offensiven Aneignung rassistischer Terminologien und einer Schaffung jener neuen poetischen Bilder changierte, mit denen die Erstsprachen in die neu eroberte deutsche Literatursprache eindrangen und sie besetzten. Eine Strategie, die Rap und gelebter Mehrsprachigkeit sicher mehr verdankte als den Kulturwissenschaften.

Heute, 30 Jahre später, lese ich zum ersten Mal einen literarischen Text, in dem das Adjektiv Schwarze großgeschrieben wird, der Begriff BIPoC für in Deutschland lebende Protagonist*innen mit indischem oder afro-amerikanischem Hintergrund und grundsätzlich das Gender-* im Plural verwendet wird – und sich all das völlig selbstverständlich anfühlt. Nicht mehr als der mit den Mitteln der Literatur geführte Angriff auf ein Mehrheitsdeutsch, der in Kanak Sprak oder auch in Tomer Gardis brillantem Broken German (2018) immer mitschwingt. Wie kann das gehen? Und welche Realität wird hier beschrieben? Die Rede ist von Identitti (2021), dem sehr selbstironischen und sehr intelligenten ersten Roman der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, und die beschriebene Realität ist im Grunde ein utopisches Biotop: das von politisch bewussten, kritischen, woken Menschen bevölkerte kulturwissenschaftliche Institut einer deutschen Universität. Die Story selbst ist eine Art postkoloniale Campus Novel, aber darum soll es hier nicht gehen.

Vielmehr geht es um die Frage, ob sich in dieser radikal an politischen Kategorien ausgerichteten Sprache auch eine von Widersprüchen, Diskriminierung und mehrheitsgesellschaftlicher Normalisierung geprägte Gesellschaft beschreiben ließe. Und da zeigt sich schnell: Was in theoretischen oder politischen Texten als Kampfbegriffe, als Forderungen oder als utopische Setzungen funktioniert, würde in einem Roman ganz schnell zu einer idealisierenden Art „rosa Brille“, gänzlich ungeeignet zur kritischen Beschreibung von Wirklichkeit.

Viel produktiver ist hier eine Strategie, die die Autorin Kaśka Bryla als „das Besondere zum Allgemeinen machen“ beschreibt: Wer aus einer minoritären Perspektive schreibt, sollte die Welt nicht begrifflich beschönigen, sondern sich das Recht herausnehmen, Repräsentant*innen minoritärer Erfahrungen in einer durchaus real-rassistischen Wirklichkeit von der Peripherie ins Zentrum des Geschehens zu rücken und dort zu stärken – bis hin zu der Entscheidung, die Bryla in ihrem Debütroman Roter Affe getroffen hat, in dem alle Hauptfiguren migrantisch und/oder queer sind, ohne dass darüber ein Wort der Rechtfertigung verloren wird.

Und wie verträgt sich nun Sprachpolitik mit der Suche nach einer eigenen, individuellen Ausdrucksweise? Hier möchte ich nur mehr die Lyrikerin Caca Savic zitieren: „Ich habe Anschreibungen an diverse Dus, befrage sie und fordere sie auf, aber nie stecke ich sie an den eigenen Hut. Eine Sprache ist bereits verschwunden, wenn eine andere fragmentiert, schreibe ich ein Gedicht. Ein Du rundet die Endungen und schickt mir den Durchschlag.“


Zuerst veröffentlicht in: Stimme, Zeitschrift der Initiative Minderheiten, Nr.118: Die Grenzen meiner Welt. Schauplatz Sprache.


1 Zadie Smith: Fascinated to presume. In defense of Fiction, The New York Review of Books, 24. Oktober 2019

Essay#7PS