Schund und Schmutz, oder mein Vater hält seine Gabel wie eine Waffe
Ich habe studiert, was zur Folge hat, dass ich seit zehn Jahren auf einem Stuhl sitze, einen Bildschirm anstarre und hoffe, dass ich Worte finde, die ihn füllen. Das Abwägen von Worten ist mein Beruf. In der Welt meiner Großeltern hatten Worte einen anderen Wert. Worte auf Papier waren für heilige Zwecke bestimmt, nicht für die Profanität des Alltags. Geschichten erzählte man mit Händen und Füßen, sie lagen im Fleisch und konnten sterben. Man bewahrte die Worte in seinem Kopf, rollte sie auf den Zungen, oder man schlug Kinder damit. Manchmal schlug man Kinder auch mit Kochlöffeln, Haarbürsten oder Gürteln, aber das ist eine andere Geschichte. Heute sitze ich auf meinem Stuhl und will ein Essay schreiben. Ich möchte darin gewichtige Dinge über Zensur sagen, über die historische Verwobenheit jener Praxis mit Sexismus, Rassismus und Klassismus, Anmerkungen zum Beginn von Populärkultur und Unterhaltungsindustrie in Deutschland.
Ich schreibe: Durch die zunehmende Alphabetisierung der Gesamtbevölkerung wurden im beginnenden 19. Jahrhundert neue Absatzmärkte für serielle Druckerzeugnisse erschlossen. Die industrielle Herstellungsweise ermöglichte die preiswerte Produktion auflagenstarker, im Umfang jedoch überschaubarer Drucke, die maßgeblich einen unterhaltenden Charakter hatten. Die serielle Herstellung verringerte das finanzielle Risiko der Verlegenden und machte die einzelnen Hefte so erschwinglich, dass sie von Industriearbeitenden und Hausangestellten erworben werden konnten. Der Kolportagebuchhandel entwickelte sich im kommenden Jahrhundert zu einer eigenen Branche. Die serielle Produktion hatte zudem Auswirkungen auf die Entstehung neuer Erzählformen, wie der des Fortsetzungsromans. Obwohl unterbürgerliche Gruppen die primären Zielgruppen jenes Kolportageromans waren, ist über ihre Rezeption der Romane wenig bekannt. Überliefert sind lediglich die Stimmen bürgerlicher Kritiker, insbesondere aus dem Milieu der Lehrer und Beamten, die eine Verrohung und Sexualisierung von Frauen, Arbeitenden und Heranwachsenden durch die Kolportageromane befürchteten. Dieser sogenannte Kampf gegen Schund und Schmutz ist eng mit der bereits zur Zeit der Aufklärung einsetzenden Debatte um die „Lesesucht“ oder „Lesewut“ verzahnt. Zeitgenössische Kritiker insbesondere lesender Frauen, wie Karl G. Bauer, Joachim Heinrich Campe oder Johann Georg Heinzmann, befürchteten neben der Erweckung unerwünschter sexueller Begierden auch die Vernachlässigung „häuslicher Arbeiten und Pflichten“ zugunsten von Genuss und Müßiggang. Heinzmann verglich das Lesen zu Unterhaltungszwecken mit der französischen Revolution; das Romanlesen war seiner Ansicht nach eine weibliche Revolution im „Geheimen“. Als therapeutische Maßnahme gegen die grassierende Vergnügungssucht empfahl der deutsche Philologe Karl Morgenstern die Bildung eines literarischen Kanons. Dieser sollte nur die Werke bedeutender Männer inkludieren, die dann wiederholend und ausschließlich gelesen werden sollten.
Ich denke: Mein Vater hält seine Gabel wie eine Waffe. Gabeln in den Fäusten meiner Großeltern und ihrer Eltern. Ich denke an Salzkartoffeln mit Butter, den feuchten Gaumen meiner Oma, ihre geschwollenen Beine, abgelegt auf einem Schemel, als wären es nicht ihre. „Mein Vater ging vom Feld in die Fabrik und von der Fabrik in das Feld, und manchmal schlief er wohl“, sagt mein Papa. Das ist nicht meine Erinnerung. In meiner Erinnerung gucken meine Großeltern fern.
Auch als das Fernsehen aufkam, wurde es, wie jedes Massenmedium davor und danach, von seinen bürgerlichen Kritikern zunächst als schädlich für weiche und formbare Geister angesehen. Das schwache Fleisch, der weiche Geist von Frauen, Kindern, Arbeitenden, kolonialisierten und rassifizierten Menschen schienen ihnen kein ausreichendes Bollwerk gegen die Versprechungen von Sex, Gewalt und Müßiggang. Der Zensor sieht den Schund, sieht den Schmutz und dessen Verlockungen, aber sein gestähltes Hirn entwickelt wohl eine Art Immunität. Inzwischen dürfen auch Frauen Zensoren sein, manchmal.
Ich fühle: Ich will das nicht mehr in dieser Sprache sagen. Mit Worten, die behaupten, dass sie für alle gelten. Worten, die behaupten, dass sie keinen Körper und kein Zuhause haben, keine Geschichte und kein Geschlecht, keine Farbe von Haut und Haaren. Ich erzähle eine andere Geschichte.
Ich schreibe: Als Kind war ich gerne bei den Eltern meines Vaters – ihr Haus auf dem Land, eine eigene Welt, eine eigene Zeit, im Kern dieser Welt das Wohnzimmer, nur Fernsehzimmer genannt, da nicht „für gut“, meine Großeltern fixiert auf Sessel und Sofa vor ihrem Fernseher, die abgetrennten Beine meiner Oma auf dem Schemel. Meine Oma war unbestreitbar die Herrin von Haus und Hof. Wenn meine Schwester und ich etwas wollten, mussten wir in ihr Audienzzimmer kommen, zu ihr, dem Fernseher und ihren geschundenen Beinen, und sie winkte uns huldvoll näher. Solange wir nicht vor dem Bildschirm standen, durften wir dann unsere Wünsche äußern, und sie tätschelte unsere Hände und Wangen, erteilte uns wortlos ihre Gunst, als wären wir kleine Welpen mit dichtem Fell, Tiere einer anderen Art. Sie wusste nicht, wie sie mit uns sprechen sollte, und die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Das Bild meiner Großeltern vor ihrem Fernseher hat sich eingebrannt, und wüsste ich es nicht besser, würde ich denken, dass sie immer noch dort ruhen, seit hundert Jahren, mein Opa ausgestreckt auf dem Sofa, die Hände auf dem Bauch gefaltet, meine Oma in der anderen Ecke des Raumes, auf ihrem Thron aus verblassendem Karostoff, Chips knuspernd und schweigend. Meine Großeltern kamen mir nie alt vor, aber auch nie jung, nur fremd, Figuren aus einem Märchen vielleicht, die für immer träumen, aber niemals wach geküsst werden, denn es war kein Fluch der Spindel, sondern einer des Fließbandes, der sie in Bann hielt.
Ich habe mein Leben lang in Städten zur Miete gewohnt, und das Haus meiner Großeltern erschien mir als Kind unsäglich groß. Ich glaube, nachdem mein Opa das letzte Mal aus der Fabrik kam und sich auf dem Sofa niedergelegte, begann das Haus zu träumen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein. Zentimeterhoher Staub bedeckte Menschen und Möbel. Das Zimmer meines Vaters im Stil der siebziger Jahre überdauerte so die Zeit, schlummernd und unbehelligt wartete es auf den Prinzen, den verlorenen Sohn. In diesem Zimmer unter dem Dach hing ein kleines Regal über dem Sofa. Darin stand eine Reihe von Büchern, Klassiker der deutschen Literatur, Kleist und Goethe, Fontane und Storm, erhabene, weiße Männer mit und ohne Bart, Schulter an Schulter, Schullektüre der gymnasialen Oberstufe damals und für immerdar. Neben dem Stammbuch, dem Heimatkundebuch und der Bibel waren es die einzigen Bücher im Haus meiner Großeltern.
In der Küche meiner Großeltern hingen zwei gerahmte Urkunden. Sie verkündeten das 50-jährige Jubiläum der Konfirmation meiner Oma und die Jährung der Gewerkschaftsmitgliedschaft meines Opas. Worte auf Papier waren gewichtige Akte zur Wahrung von Eigentum und Seelenheil. Wenn mein Vater als Kind einkaufen ging, bekam er keinen Einkaufszettel in die Hände, sondern Worte in seinen Kopf. Er behielt sie auf seiner Zunge, schob sie in seinem Mund hin und her, bis sie an die Zähne stießen, und manchmal verschluckte er sich auch daran. Worte im Bauch liegen schwer, und dann weinte er. Als er in der Grundschule zum ersten Mal eine Zusammenfassung schreiben sollte, wusste er nicht, wie man eine Geschichte greift und drückt und quetscht, sodass man sie ordentlich auf einen Bogen Papier packen kann. Stattdessen schrieb er den Text kleiner ab, zauberte winzige Buchstaben auf die Seite – auch ein Weg, eine Geschichte zu stauchen. Mein Vater verlor die Schlacht mit der Zusammenfassung, lernte in der Schule jedoch den ein oder anderen Zaubertrick. Nach und nach verwandelte er die Bach hinter dem Haus in den Bach, sehr zum Erstaunen meiner Großeltern. Die Bach hinter dem Haus interessierte es nicht, wohl aber seinen Lehrer, der vorschlug, mein Vater solle doch lieber das Gymnasium besuchen. Als mein Vater schließlich dorthin wechselte, stellte er fest, dass sein bisheriger Kampf, wenn vielleicht nicht vergebens, so doch völlig unzureichend gewesen war. Auf dem Gymnasium in der Stadt sprachen alle nicht nur die gemachte Sprache, die wir Hochdeutsch nennen, sondern auch Sprachen von Leuten, die er noch nie getroffen hatte oder die tot waren. Man kann jemandem, der friert, eine Decke geben, jemanden, der weint, umarmen, jemanden, den man begehrt, ansehen und küssen, und man kann lachen, wenn man sich freut. Und was ist das schon, als zu sagen: Ich liebe dich. Aber an diesen Sprachen, die mein Vater in der Schule lernte, hingen keine Körper. Ich glaube, in diesem Moment, in dem er das erste Mal Bekanntschaft mit den körperlosen Sprachen schloss, begriff mein Vater, dass der Kampf mit den Worten ihn sein Leben lang begleiten würde.
Der Kampf meiner Eltern mit den Worten hat mir 15 Jahre Lebenszeit, gerade Zähne und weiche Hände erkauft und die Fähigkeit, eine Meinung zu einem Buch zu haben. Das ist nicht wenig, auch wenn man es nicht essen kann. Wenn man reich ist, braucht man keine Meinung zu einem Buch zu haben. Es gibt adrette Baumarkterben ohne Meinung zu Büchern und traurige Freifrauen mit dusseligen Zeitungskolumnen und bedauerlich ausgeprägten Meinungen zu Büchern, und am End, wie meine Oma gesagt hätte, macht es keinen Unterschied. Ich fuhr in den Sommerferien zu meinen Großeltern und sie auf die Malediven, nicht nur in den Sommerferien. Meinungen zu Büchern, Worte auf Papier kann man eintauschen gegen einen schmalen Lohn. Ein Gehalt ist zwar keine Aktie, kein Grund und Boden, auch kein Wald, aber besser als nichts ist es schon. Die, denen was gehört, produzieren unterhaltsame Geschichten, die Leute sehen wollen, wenn sie müde sind vom Arbeiten. Und die, die müde sind vom Arbeiten, wollen chillen und essen und wichsen. Und dann gibt es noch Leute wie mich – Leute, mit weichen Händen und leeren Taschen und schönen Worten. Leute, denen man gesagt hat, dass sie etwas anderes sind als die Menschen aus der Fabrik. Leute wie ich sind dazu da, Geschichten zu erfinden, an denen die einen verdienen und zu denen die anderen wichsen. Wir sind auch dazu da, Meinungen zu Büchern anderer Leute zu haben und an der Tür zu stehen und zu sagen: „Du kommst hier nicht rein“ und „heute nicht, sorry“ und sich heimlich zu schämen und die eigenen Eltern und Großeltern zu verlieren in einer Sprache ohne Körper.
Heute habe ich die Geschichte meines Vaters erzählt, eine Geschichte meines Vaters, aber auch meine Mutter rang mit den Worten. Sie machte sie sich Untertan, machte sie zu ihrer Waffe, ihrer Marter, ihrem Trost, sie machte sie zu ihren viel geliebten Kindern, einer Daumenschraube, ihrem Augenstern. Meine Mutter verdient ihre eigene Erzählung. Meine Mutter verdient mehr als das. Meine Mutter verdient alles. Mein Vater und meine Mutter waren das, was man „begabte Kinder“ nennt, und man versprach ihnen den Kuss der Prinzessin, wenn sie gegen die Worte kämpften wie Prinzen gegen Dornenhecken. Aber der Fluch des Fließbandes bleibt ungebrochen. Meine Eltern sind jetzt in ihren Sechzigern, und sie werden noch eine Weile arbeiten, bis sie in Rente gehen. Dann ziehen sie in das Haus auf dem Land, jenes verwunschene Schloss meiner Kindheit, denn sie können sich die Miete ihrer Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten. Ich habe zwei Cousins und eine Cousine, und wenn auch meine Schwester und ich eines Tages in die Hallen unserer Ahnen zurückkehren, wird es dort ganz schön eng werden für uns alle, auch kuschelig und gemütlich, vielleicht, sicherlich, aber auch das ist eine andere Geschichte.
Ich kaue und nuckele an jenem Versprechen. Wenn man fleißig Bücher liest und Hochdeutsch lernt, die Gabel nicht länger in der Faust hält und an einem Schreibtisch arbeitet, wird man es einmal besser haben. Aber dieser Status ist ein fragiles Gut. Man ist, was man isst und was wenn man Bücher, Serien, Filme verschlungen hat, nur zum Vergnügen, nur für die Lust, nur für den Spaß an der Freude, was dann, was wenn man Dreck gefressen hat? Wird man dann Dreck? Wird man dann Trash? Erliegt man im Kampf gegen die Worte? Verrät man die eigenen Eltern? Wird man Schmutz unter den Nägeln der Reichen? Oh, diese Scham. Ich habe keine Antwort auf meine Fragen. Ich kehre müde an meinen Schreibtisch zurück.
Ich schreibe: Kolportageroman ist kein Genrebegriff. Kolportage beschreibt zunächst die serielle Herstellung und den Vertrieb der Romane. Dennoch bildeten sich mit der Professionalisierung des Gewerbes und der Entstehung des Kolportagebuchhandels als einer eigenen Branche auch Genrekonventionen aus, die mehrheitlich der sogenannten Trivialliteratur zuzuordnen sind. Besonders populär waren Räuber- und Abenteuerromane, aber auch Detektivromane erfreuten sich großer Beliebtheit. Über Genregrenzen hinweg waren besagte Romane für ihre Darstellung erotischer Inhalte und expliziter Gewaltdarstellungen berüchtigt.
Man könnte auch sagen, in den Fortsetzungsromanen des 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts wurde gemetzelt und gebumst, was das Zeug hielt. Schöne Dienstmädchen wurden zu Gräfinnen und der Schinderhannes von einem schmierigen, antisemitischen Pferdemetzger zum Robin Hood des Hunsrücks. Die Erzählungen der Popkultur sind Geschichten über die Macht des Fleisches. Wenn man keinen Grund hat und keinen Boden, wenn man keine Worte hat und keine Meinungen zu Büchern, hat man noch seinen Körper. Ich denke, es ist kein Zufall, dass die Kritiker der Massenkultur nichts mehr fürchteten als die sexuelle Selbstermächtigung von Frauen, die Bereitschaft zur Gewalt und die Verweigerung der Nützlichkeit; Sex, Gewalt und Müßiggang, die heilige Trias der Besitzlosen. Ein bloßer Körper ist ein verletzliches Ding, und Worte im Fleisch sterben wie Menschen. Aber ein Körper ist ein Körper ist ein Körper. Debatten über Medien enthüllen häufig nichts über das Medium an sich. Sie sind jedoch eine gute Messlatte für die Gefüge der Macht und die Ängste der Herrschenden. Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch, und meine Oma glotzt TV, jetzt und für immerdar.
Lektorat: Yael Inokai und Carolin Krahl