Der Dialekt, die Klasse und ich

Wo ich herkomme, sagt man „arwan“ und „dorat“, und jemand ist nicht geizig, sondern hat den „Ruach im Gnack“, was man sich so vorstellen kann, dass einer Person der Geiz wie ein Kobold auf der Schulter sitzt und ihr Dinge ins Ohr flüstert. Im Hochdeutschen beschreibt ein einziges Wort einen Wesenszug, im Dialekt ist es ein Bild.

Ich war vier oder fünf, als ich zum ersten Mal mit dem Unterschied konfrontiert war, durch den Klasse über Sprache und Dialekt im Deutschen markiert wird. Der Bürgermeister aus der Stadt kam zu Besuch. Wir hatten einen der letzten Bauernhöfe im Dorf, das seit Kurzem eingemeindet worden war. Meine Eltern kannten den Bürgermeister noch nicht persönlich, und ich hatte gelernt, dass man Gäste, Großeltern und entferntere Tanten und Onkel mit „Grias di“ begrüßte und mit „Pfiat di“ verabschiedete. Ich begrüßte ihn, wie ich es gelernt hatte. Meine Eltern nahmen mich daraufhin zur Seite und korrigierten mich: „Grias di“ und „Pfiat di“ bedeuteten nämlich, dass man jemanden duze, das stecke im „di“. Diesen Gast müsse man siezen und ihn mit „Guten Tag“ begrüßen und „Auf Wiedersehen“ verabschieden. Also begrüßte ich ihn ein zweites Mal, diesmal mit „Guten Tag“. Meine Eltern zu erleben, wie sie mich erst verstohlen zurechtwiesen und dann zustimmend und steif nickten, war ein eigenartiger Moment, der sich mir eingeprägt hat.

Anfang der 1980er-Jahre wurde ich eingeschult. Eines Tages nahm mich meine Banknachbarin zur Seite und wollte von mir wissen: „Du sprichst keinen Dialekt mehr. Wieso?“ Nein, eigentlich sagte sie so etwas wie: „Warum redst du nimma Bayrisch, sondan bloss no Hochdeitsch?“ Ich hatte keine Antwort, denn ich hatte es nicht gemerkt. Ich frage mich noch heute, warum mir das nicht aufgefallen war. Über andere Dinge, die im Schulalltag eine Differenz markierten, wie etwa die Religionszugehörigkeit, wofür die Klasse im Unterricht geteilt wurde, dachte ich nach. Die Lehrer:innen sprachen eben Hochdeutsch. Und Schüler:innen, die Dialekt sprachen oder eine andere Erstsprache hatten, wurden korrigiert, es anders, besser, schöner, richtiger zu sagen, es in den eigenen Texten anders, besser, schöner und richtiger zu beschreiben.

Heute weiß ich, dass die Lehrer:innen und Erzieher:innen eine Vorgabe hatten: Sie sollten ein Sprachvorbild sein. Ab den 1960er-Jahren bedeutete das in Westdeutschland, dass Hochdeutsch maßgeblich war. Der englische Soziolinguist Basil Bernstein hatte für den britischen Sprachraum festgestellt, dass zwischen Dialektsprechen, Intelligenz und der Unterschicht ein Zusammenhang bestünde. Wer mehr Verben, Adjektive, Pronomina verwendet und mehr Nebensätze bildet, spreche einen „elaborierten Code“. Wer weniger Verben benutzt, kürzere Sätze formt, spreche einen „restringierten Code“. In westdeutschen Bildungsinstitutionen wurde diese Gleichsetzung fortan übernommen.1 Wer Dialekt sprach, wurde nun der Unterschicht zugerechnet, Unterschichtenkinder waren benachteiligt, und der Dialekt wurde zu einer Barriere für den sozialen Aufstieg. Da es jedoch Ziel war, Bildungsgerechtigkeit herzustellen, war das Ausmärzen eines Dialekts sozusagen ein Kollateralschaden. Die Gleichsetzung erreichte das Gegenteil: Sie schaffte Unsicherheiten, wo keine waren. Jetzt gab es ein Korrektiv, das beeinträchtigte. Mich beeinträchtigte. Denn mir als Dialektsprechende wurden geringere kognitive Fähigkeiten unterstellt, und die Sprache wurde mir genommen. Solange ich den Ansprüchen nicht genügte, würde ich nicht dazugehören.

Es fällt mir schwer, den Verlust meines Dialekts nicht als Geschichte eines Verlusts zu erzählen, sondern als Bereicherung. Der Umstand prägt mich und meinen Umgang mit Sprache beim Schreiben bis heute. Die Trennung von Dialekt und Hochdeutsch öffnet noch immer zwei Räume für mich, in denen ein unterschiedlicher Habitus gilt. Der vertraute Raum in der Familie und im Dorf (Dialekt) und der andere in Schule und später im Beruf (Hochdeutsch). Außerhalb meiner Klasse zählte zu einem professionellen Auftreten, Hochdeutsch sprechen zu können. Ich schämte mich – mal für den Dialekt, mal für meine Fähigkeit, Hochdeutsch zu sprechen. Ich hatte zwei Möglichkeiten mich auszudrücken, aber egal, wo ich war, die eine nahm der anderen die Luft. Ich lebte in einem Sprachvakuum. Ich wusste nicht mehr, welches Wort galt, welches machte, dass ich dazugehörte, und welches mich ausschloss. Die Räume waren getrennt, und ich hatte nie das Selbstvertrauen, mit der Färbung meines Dialekts lange Vorträge zu halten, außer in sehr vertrauten Räumen. Ich wurde immer stiller, immer unsicherer und zog mich zurück.

Die einen verstummen, die anderen sprechen und schreiben. Erobern Räume. Und genauso ist es in den pädagogischen Lehrbüchern von damals nachzulesen. In einem Sammelband, der in einem der größten Fachverlage Westdeutschlands 1976 erschien, wird eine Versuchsanordnung, durchgeführt an der Marburger Universität, beschrieben: 20 Mädchen im Alter von zehn Jahren, bei denen ein etwas höherer Intelligenzquotient (zwischen 109 und119) ermittelt wurde, wurden in einem zehnminütigen Gespräch mit einem Versuchsleiter Bilder vorgelegt. Was gezeigt werden sollte, war: Schichtzugehörigkeit wirkt sich auf die Sprachentwicklung aus. So gab es also Mädchen aus der Mittelschicht (Herkunft aus Akademikerfamilien, abgekürzt „MS“) und Mädchen aus der Unterschicht (Herkunft aus Arbeiterfamilien, abgekürzt „US“). Wer in den zehn Minuten mehr Wörter sprach, mehr Verben, Adjektive und Pronomina verwendete, hatte die „bessere“, die wünschenswerte Sprache. Auch das Auftreten und der Habitus der Mädchen floss in die Bewertung explizit mit ein. Viele Mädchen der Mittelschicht waren mit ausgestreckter Hand auf den Versuchsleiter zugegangen und hätten sich der Aufgabe so gut wie ohne Aufforderung zugewandt, wurde vermerkt. Die Mädchen aus der Unterschicht hingegen, so hieß es, brauchten „mehr Anstöße, um die vorhergesehene Gesprächsdauer zu erreichen“, sie zeigten mehr „Scheu und Zögern“.

Es wurde nicht gefragt, warum die Mädchen aus der sogenannten Unterschicht gehemmt und zurückgenommen waren. Macht und Herrschaft wurden unreflektiert vorausgesetzt. Und es geht noch weiter. In einem Text, in dem Bernstein über eine Untersuchung berichtet, an der 5.000 Kinder aus Aberdeen teilgenommen hatten, sollte gezeigt werden, dass die Familiengröße Auswirkungen auf den Intelligenzquotienten hat: „Eine seiner Schlussfolgerungen [Nisbet, 1953, Anm. MM] lautet, dass die Umwelt, wie sie in einer großen Familie geboten wird, die sprachliche Entwicklung behindert und dass diese sprachliche Behinderung die allgemeine geistige Entwicklung nachteilig beeinflusst.“

Für mich ist mein Dialekt ein Erfahrungs- und Erinnerungsraum. Die Sprache, in der ich schreibe, in der ich Autorin bin, ist Hochdeutsch. Ich hätte gern mehr Zugriff auf den Dialektraum, und wenn ich könnte, würde ich die beiden Räume näher zusammenbringen. Ich bin eine Langsamschreiberin geworden, lasse wenig gelten. Obwohl es kein sprachwissenschaftlich und -historisch begründbares „Besser“ oder „Schlechter“ gibt. Aber die damals vermittelte Unterlegenheit muss ich im Schreiben erst überwinden. Immer noch, jeden Tag aufs Neue.

Lektorat: Yael Inokai und Eva Schörkhuber

1 Siehe auch: Bernstein, Basil: Soziale Struktur, Sozialisation und Sprachverhalten (Aufsätze 1958-1970), Amsterdam, 1970; Ders.: Studien zur sprachlichen Sozialisation, Düsseldorf 1972; b:e redaktion (Hg.): Familienziehung, Sozialschicht und Schulerfolg, Weinheim und Basel 1976 (5. Auflage).

Essay#7PS