Kirschbaum

Es ist trubelig, wir packen unsere Sachen zusammen. Haben wir an alles gedacht? Essen, etwas zu trinken. Meine Mutter ist schon draußen und wartet auf mich, damit wir endlich losgehen. Wir sind aufgeregt, denn die erste Nacht steht an –

was uns dort erwartet, hätte sie sich doch denken können, aber in ihrer Gutgläubigkeit und voller Hoffnung, mit offenen Armen, wagte sie den ersten Schritt.

was uns dort erwartet, hätte ich mir doch denken können, aber in meiner Gutgläubigkeit, oder vielleicht war es ein Verdrängen, ein Abspalten meines alten Ichs, habe ich es so nicht kommen sehen. War ich betäubt, weil ich es so lange nicht am eigenen Leib gespürt habe? Bin ich für das, was mir meine Mutter, nicht nur unterschwellig, sondern in beinahe jedem Gespräch erzählte, unempfänglich geworden? Warum hat es mich dennoch so getroffen? Diese Scham, diese Ernüchterung. Und diese Angst.

Meine Mutter kam nach Dland, unter dem einen Arm trug sie einen Koffer und unter dem anderen mich. Mehr hatte sie nicht zu tragen, denn mehr besaß sie auch nicht. Sie kam aus dem Loch, wie sie es nannte, in dem auch ich die erste Zeit meines Lebens verbrachte, in einen braunen Sumpf, der doch auf den ersten Blick so verheißungsvoll ausgesehen hatte. Eher nach einer saftigen, grünen Wiese, mit bunten Blumen, nach einer Möglichkeit, sich frei bewegen zu können, nicht nach etwas, was uns immer weiter nach unten ziehen würde.

Wir gingen also los auf diese saftige, grüne Wiese, die so gut roch, so frisch und blumig. Die Wolken zogen hinüber, sie sahen aus wie aufgebauschte, weiße Pappelpollen, die sich zusammengetan hatten und in ihren Pappelpollengruppen durch die Luft flogen. Die Wiese zog sich bis zum Horizont, der gesäumt war von Hügeln, auf denen die Wälder meiner Kindheit lagen und Schafe sich tummelten. Der Wind legte sich wie ein Seidentuch um mich, strich mir die Haare aus dem Gesicht und den Bäumen durch die Zweige. Die Blätter schmiegten sich aneinander. Die Baumkronen wogten. Hin und Her.

Nun sitzen wir an einem der Seen auf dieser grünen Wiese und genießen die Ruhe, die sich langsam, so langsam wie ein Sommerabend den Tag einnimmt, über uns deckt. In einer Schale neben uns auf der Bank stehen die Beeren und Kirschen bereit, die wir in unserem Garten gesammelt haben. Unser Garten ist anders. So anders, wie man in dieser deutschen Gesellschaft sein kann. Die Gärten, die von unserem Garten aus rechts daneben liegen, sind akkurat. Der Rasen übersteigt niemals eine bestimmte Höhe. Auch die Hecken nicht. Die Büsche sind in Form gebracht, sie sind erzogen. Keine Abweichung, alles Einheit. 

Unser Garten ist anders. Alles wächst dort, wie es aus der Erde kommt. Hier und da hat meine Mutter Beerensträucher hingesetzt, rosa Himbeeren, dazwischen ein paar Kartoffeln, grüne Stachelbeeren, eine Pfingstrose, rote Johannisbeeren, einen Birnbaum, weiße Himbeeren, die wilde Möhre ist uns schon über den Kopf gewachsen. Durch eine kleine Öffnung im Gartenzaun, denn der ist ja Pflicht, schlüpfen wir in unseren Waldgarten. Wir gehen entlang der Brombeeren, die mit der Felsenbirne zu einem grünen Tunnel verwachsen sind, auf dem schmalen Gang, der von lila Storchschnäbeln umgeben ist, in den Waldgarten. Man kann ihn nicht überblicken, so verwinkelt ist er. Ruhig wächst er vor sich hin. Wir baden in einem Meer aus grün und wiegen uns in ihm. Hin und Her. Alles schwirrt und surrt durch die Luft. Die Holzbiene, mein Kopf. Dort steht ein alter Kirschbaum, er kämpft um seinen Platz an der Sonne, umgeben von deutschen Kiefern, die sich den Platz nehmen, der ihnen zusteht, wie sie meinen. Ohne Rücksicht. Die Holzbiene setzt sich auf einen Ast, der schwer herunterhängt, denn der alte Baum hat die Kirschen zu tragen. Die Biene ist schwarz und ihre zarten Flügel schimmern blau. Sie sieht aus, als wüsste sie, was sie tut. Wohin sie fliegen muss, um den Weg hier raus zu finden. Es rauscht. Der Bach, mein Kopf. Der Bach, der unterhalb des Waldgartens liegt und in den Fluss mündet, welcher sich um den See schlängelt, an dem wir gerade sitzen und die Früchte essen. Plötzlich steht er fleischgeworden neben uns und nimmt sich seinen Platz. Ohne Rücksicht. Er spricht mit einem aufgesetzten, russischen Akzent. Wahrscheinlich denkt er, wir würden ihn so besser verstehen. Er meint noch viel mehr, weil wir Russ_innen sind.

Meine Mutter flüstert mir zu, dass er vorne an der Ecke wohnt, wo der Rasen eine bestimmte Höhe niemals überschreitet. Ich bin verwirrt, weil ich gehört habe, dass dort der große R. wohnt. Gleiche Familie. Der große R. hat in dem überschaubaren Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, in dem mir von hinten meine Haare abgefackelt wurden, in dem ich die Friedhofstraße runtergejagt wurde, in dem mir »Scheiß Russenfotze!« hinterhergerufen wurde, eine Bürgerwehr gegründet. Denn dort gibt es nicht nur mich und meine Mutter, vor denen die Bürger_innen geschützt werden müssen, sondern auch eine, liebevoll von den Dorfbewohner_innen als Asylantenheim bezeichnete Aufbewahrungsstätte für Asylbewerber_innen. Da hat man alle Hände voll zu tun. Ein Dorf, in dem zum Karnevalsumzug Schneewittchen auf dem Wagen sitzt, gesäumt von grünen Hügeln, mit einem Schild, auf dem steht, dass die Hütte abgebrannt ist, nach Asyl gebeten wird, aber es solle kein Container sein, nein. »Kann es vielleicht ein Burgschloss sein?« Ein Dorf, in dem wenige Tage vor dem Fest ein Haus in Brand gesetzt wurde, das die Besitzer_in an geflüchtete Menschen geben wollte. Ein Dorf, in dem mir in der Grundschule gesagt wurde, ich solle die richtigen Worte benutzen. Ein Dorf, in dem mir ein Kind gesagt hat, an meiner Kopfform könne man erkennen, dass ich Russin bin. In diesem Dorf hat der große R. eine der ersten Bürgerwehren Dlands gegründet. Erfolgreich. 

Die Nacht bricht über uns ein. Plötzlich. Das Feuer wird entzündet. »Wo ist denn hier die arische Fraktion?« Die Bäume stehen wie Fratzen am Rand, höhnisch lachend, ihre Äste stechen uns fast ins Gesicht. Die Blumen zurückgewiesen, plattgetreten. Die Wolken wie große, schwarze Klumpen. Die Gräser ohne Farbe. Alles steht still und stumm. Hält den Atem an. Der Horizont ist ganz nah, keinen Platz lässt er mehr. Wo ist die Holzbiene, die als Einzige den Weg hier raus kennt? Auch wenn sie in der Dunkelheit nicht zu sehen ist, müsste sie doch wenigstens zu hören sein. Der kleine R. greift in die Schüssel und spuckt den abgekauten Kirschkern ins Feuer, mit seinem großen, deutschen Kiefer.  


Lektorat: Olivia Golde und Jiaspa Fenzl

Prosa#7PS