Betrachtungen
Die Wut
Früher wurde Herr O. dafür bezahlt, zuzuhören, zu helfen, zu heilen. An seinen Reaktionen und Deutungen sollte ich merken, was ich benötige, um mich selbst zu erkennen. Um mich besser zu verstehen. Mittlerweile verstehe ich vor allem die anderen weitaus besser. Doch die ewige, unnachgiebige und beißende Wut ist immer noch da. Manchmal ist sie noch stärker als früher. Aber ich bin mittlerweile gnädiger mit mir. Herr O. hört jetzt anderen zu. Und meine Wut, das habe ich also gelernt bei ihm, hat nicht nur ihre Berechtigung in ihrem Ursprung. Der lag einmal, ganz früher, außerhalb von mir. Die Wut muss auch sein. Sie muss als ein Teil von mir nicht nur da sein können, sie muss auch rausgelassen, entlassen werden, sie muss entweichen können und es ist gut, dass sie sich mittlerweile nicht mehr in Tränen, sondern in Worten äußert.
Sie war vier oder fünf Jahre alt und er machte sie wieder rasend! Er hatte wieder einen dieser cholerischen Ausbrüche. Er jagte ihr nicht einfach Angst ein. Damals wie heute tut er ihr damit Unrecht, dass er sie einfach nicht versteht. An dem Tag beschuldigte er sie irgendeines kindlichen Vergehens, wie ein Glas fallen gelassen zu haben oder etwas vom Spielzeug nicht weggeräumt zu haben, worüber er mit seinen großen Füßen gestolpert war. Auch Jahrzehnte später weiß sie noch um dieses Gefühl an jenem Tag, als sie drangelehnt und schluchzend auf der einen Seite der Kinderzimmertür stand, und er auf der anderen Seite, mit ungerechter Bestrafung drohend. Dieses Gefühl, in der Sackgasse zu stehen, ohne eine ersthafte Möglichkeit, sich zu verteidigen, machte sie zu einem verzweifelten, weil ohnmächtigen Kind. Die Ohnmacht übersetzte sich einzig in Wut. Aber sie wütete in dem Moment nicht, wie dies andere Kinder taten, die Sachen oder sich selbst auf den Boden warfen. Sie weinte nur.
Tränen aus Ohnmacht und Wut sind bei weitem nicht so erlösend wie Tränen der Trauer oder Tränen vor Schmerz. Diesen Unterschied zu begreifen, lernte sie viel später bei Herr O.
Auf dem Hauptfriedhof
Auf dem Hauptfriedhof: fast nur deutsche Namen deutscher Familien. Wo ruhen all die Anderen? Menschen aus aller Welt lebten und arbeiteten jahrzehntelang in dieser Stadt. All jene, die diese Stadt bauten und vom Schmutz befreiten. Sie wollten nicht bis in die Ewigkeit hierbleiben. Oder ihre Kinder wollten das nicht. Sie schickten sie tot dorthin zurück, von wo sie einmal gekommen waren.
Unter einem riesigen Haufen bunter, von der Sonne schon verblassten Plastikblumen liegt eine dieser Anderen. Unter all den akkuraten Gräbern wirkt dieses Grab befremdlich. So wird auch ihr Leben hier gewesen sein. Das kleine, im künstlichen Blumenmeer kaum sichtbare Holzkreuz verrät einen spanisch klingenden Frauennamen.
Ja, die Frauen, die kriegen dann tot ihre Namen wieder zurück. Hannelore Ortmann geborene Lutz.
Ingeborg Friedrich-Kopp geborene Schuster.
Hannelore Ortmann geborene und gestorbene Lutz.
Ingeborg Friedrich-Kopp geborene und gestorbene Schuster.
Jetzt sind sie tot wieder sie selbst.
Der Tag, an dem sie ihre Eltern beerdigen muss, wird der schwerste Tag ihres Lebens sein. Sie möchte sie das vorher gefragt haben, ob sie hier für immer ruhen wollen oder ob sie hier nie zur Ruhe werden kommen können.
Malo place, malo ne place
(„Mal weint sie, mal weint sie nicht“ – serbokroatischer Ausspruch)
Heute treffe ich meinen Nachbarn Herrn Kovacevic unten im Hof. Er belädt sein Auto. Er fährt wieder runter, in dieses Land aus vergangener Zeit. Das Auto ist voll mit Sachen. Es ist immer so voll mit Sachen, wenn er runterfährt. Möbel, Säcke voller Kleidung, Holzlatten, Werkzeug, Autoreifen, Koffer, Taschen. Ich denke: Weiß er denn nicht, dass der Krieg seit siebenundzwanzig Jahren vorbei ist?
In der Vergangenheit leben, das ist deren großes Ding. Wenn du zurückblickst, musst du auch nach vorne schauen. Sonst kommst du nicht weiter, du stockst. Wenig verwunderlich also, dass die Menschen auf der Stelle treten, stolpern. Ich denke an den Film „Underground“ von Emir Kusturica.
„Hallo Nachbar!“ sage ich im Vorbeigehen Richtung Hoftor.
„Ajmo kuci!“ sagt er.
(„Lass uns heimfahren!“)
„Pa kod kuce sam komsija!“
(„Ich bin doch daheim, Nachbar!“) antworte ich. Ich laufe an ihm vorbei und sehe das Hoftor nur noch ganz verschwommen. Zum Glück habe ich immer ein Taschentuch dabei. Das habe ich von meiner Mutter. Die Gute. Sie lebt auch immer in der Vergangenheit und braucht daher regelmäßig Taschentücher.
Nachbar Kovacevic hat mir einmal im Hausflur gesagt: „Du sollst Kinder machen. Und keine Karriere!“ Nachbar Kovacevic hat zwei Söhne. Beide unverheiratet und kinderlos. So alt wie ich oder gar älter. Ganz gewiss wird er ihnen dasselbe raten.
Das Problem
Ich hätte ein Problem mit Nähe und Distanz, sagt Herr O. (hörthört!) OK.
„Du hast zu hohe Ansprüche“, das höre ich oft. „Deine Ansprüche sind unbegründet“, das höre ich auch oft. „Lass uns Samstag in zwei Wochen sehen, ob es in vier Woche klappt mit dem Kaffee“. „Komm ich heut nicht, komm ich morgen.“ „Alles kann, nichts muss.“ „Ich muss mal sehen, ob das klappt, ich bin schon mit drei anderen unserer gemeinsamen Bekannten zum Frühstücken verabredet.“ OK. Wieso kann ich mich denn nicht anschließen? Warum habe ich dieses Problem mit den Ansprüchen?
Na, wegen der Tür.
Im Alter von zehn Jahren ziehen wir nach Deutschland. Die Nachbarstochter wird meine beste Freundin. Ich klingele bei ihr an der Tür, die Tür geht auf, ihre Mutter sagt, Diana kommt gleich, die Tür geht zu. Ihre Mutter hat mich neun Jahre lang nicht ein einziges Mal zum Mittagessen eingeladen.
Habe ich nun ein Problem mit Distanz oder haben sie ein Problem mit Nähe? Es ist doch pure Borniertheit, dass sie anscheinend nicht in Erwägung ziehen, etwas von ‚den Anderen‘ zu lernen. Aber ach, wie schön ist doch die südosteuropäische Gastfreundschaft und die Herzlichkeit! Ach, wie schön ist doch das gesellige Beisammensein, das draußen in großer Runde Essen und Erzählen und das Saufen und das Streiten! Ja es ist schön, weil Nähe und Distanz so nah beieinander liegen und die Nähe immer die Distanz überwinden lässt. Was hätten sie nun in all den Jahren lernen können, von den Millionen zugewanderter Menschen? Sie hätten lernen können, ihre Angst, die Nähe der anderen würde unmittelbar die eigenen Grenzen verletzen, zu überwinden. Aber sind die Grenzen starr, wird zwangsläufig vieles als Überschreitung empfunden. Wären sie durchlässiger, gäbe es mehr südosteuropäische Verhältnisse in den deutschen Zuständen. Aber meinetwegen. Sollen sie doch in ihrer Allianz der emotionalen Unverbindlichkeit verharren. Da bleibe ich gern außen vor.
Im Freibad
Ins Freibad kann man auch gut alleine gehen, das erscheint niemandem komisch. Das Freibad ist ein toller Ort, um allein sein zu können, ohne sich einsam zu fühlen. Das Freibad ist ein toller Ort, um nicht mehr allein zu sein, wenn man sich einsam fühlt.
Das Netz
Was ist das für eine Entität, was für eine geschickte Spinne, die ihr Netz um einen spannt, das so durchlässig und zugleich so fest ist. In ihrer Spannung liegt ihre größte Stärke und zugleich ihre stärkste Schwäche. Sie forciert einen immerwährenden Kampf um identisch sein, drinnen bleiben und doch anders sein, rauskommen. Dankbarkeit, dass sie einen hält und Frustration, dass sie einen festhält. Sie hinterlässt ihre Spuren der verlorenen Zeit, einer Vergangenheit, die nicht nur die eigene ist, die aber das eigene Wesen formt und es zugleich eine andere, eigene Form zwangsläufig suchen lässt. Ist sie toxisch und hält einen in Abhängigkeit, so treibt sie zugleich als Motor an, sich zu befreien. Das ist diese eigentümliche Entität, das ist: la familia.
Lektorat: Carolin Krahl und Yael Inokai