Drüber

Nachdem Todd all das gedacht hatte, erhielt seine* Angst eine neue Qualität. Langsam würde sich sein* Gedächtnis leeren und gefüllt werden mit dem Raum um ihn*, mit der seine* Erinnerungen aufhebenden, überformenden Masse, die nur von Sternen durchbrochen würde. Ließ sich der Prozess des Vergessens noch aufhalten? Oder lag es längst außerhalb seiner* Reichweite? Todd hing kopfüber an einem langen, stabartigen Drahtseil, das sich behäbig, aber entschieden durch die Luft bewegte. An dieser Tatsache hatte sich seit geraumer Zeit nichts geändert, und so blieb ihm* nichts weiter übrig, als den Himmel zu beschauen, wenn er* sich nicht gerade entschloss, die Augen davor zu verschließen. Sein* Körper war fest an das unendlich scheinende Seil gegurtet, das hinauf – oder war es hinunter? – in den Kosmos ragte.

Wie stabil war diese Vorrichtung, an der er* sich wiederfand? Wie hoch hing er* da über der Erde, die unter ihm* doch fortbestehen musste? Dass sie noch da war, schien ihm* wahrscheinlich, zugleich wollte er* sich nicht ins Spekulative verirren. So galt für ihn*: Was seinen* Augen entzogen blieb, existierte nur in einem vorläufig möglichen Sinn. Worauf er* sich da befand, war also unklar und gab ihm* ein tückisches Rätsel auf. Die Beschaffenheit ließ sich nicht mit Sicherheit ertasten. War es drahtiges Metall? Waren die glatten Wölbungen Teil einer kupfernen Spirale? Blätterte bereits Rost an den Rillen? Unergründlich bestand es mit ihm* fort. Anfangs wagte er* kaum zu atmen. Er* fürchtete, bei jedem Atemzug aus den Gurten zu gleiten und in die Tiefe zu stürzen. Am schlimmsten waren die Träume, aus denen er* zuckend erwachte. Es mussten bereits viele Tage vergangen sein, seitdem er* keinen Boden mehr unter den Füßen gespürt hatte, das Gefühl für seine* Füße war ihm* darüber abhanden gekommen: Erst jetzt erschloss sich Todd so die Bedeutsamkeit von gewöhnlichem Bodenkontakt mit schlichtem Auftreten. Schon früher hatte er* oft geträumt, dass beim Hinabsteigen einer Treppe plötzlich eine Stufe verschwand und er* ins Nichts trat.

An den Anblick seiner* Schuhe hatte er sich schnell gewöhnt, die gewölbten Spitzen gehörten für ihn* bald ins vertraute Bild. Sie und der fest gewundene Stab, auf dem er* sich befand. Unter seinen* Augen blieben sie konstant, manchmal nicht richtig wahrnehmbar, wie der Rahmen einer Brille, ausgeblendet im Alltag des Sehens. Was war das: Alltag? Und jetzt: War das Alltag? Würde es Alltag werden? Würde es aufhören? War es eine Prüfung? Musste er* nur die richtige Entscheidung treffen? Das Richtige tun? Er* musste ausharren mit diesen Fragen im Kopf, mit ihnen war er* gänzlich allein. Immer wieder hatte er* versucht, die Tage zu zählen. Doch fiel ihm* das schwer. Woran sollte er* sich halten, wenn er* nie wusste, wie lange er* schlief? Die Helligkeits- und Dunkelheitsgrade verschwammen zu einem kontrastlosen Fluss. Sein* Rhythmus war aus dem Gleichgewicht geraten, wie Todds ganzer Bezug auf die Welt. War er* überhaupt noch Teil der Welt?


Sahen sie ihn* nicht?

Warum kam ihm* niemand zur Hilfe?

Er* hatte aufs Wasser geblickt, auf die Stelle, wo es geschehen sein sollte. Die Wellen glichen wabernden Toren, die in andere Welten überführten. Unwirklich und vage, wie das, was ihm gerade erst mitgeteilt worden war: Der Tod Orions.

Umgeben von Urlauber*innen, die ihre Fotos gen Sonnenuntergang schossen, war es Todd passiert, dass er* zu der herüber drängenden Musik zu wippen begann, obwohl er* nicht wollte. Ihm* war nicht danach, aber sein* Körper entwickelte ein Eigenleben. Er* konnte sich erst daraus lösen, als er* die Angehörigen kommen ahnte. Kleine schwarze Punkte am Ende des Weges, wo der Fluss um die Ecke bog.

Keinesfalls wollte er* diesen Menschen erneut begegnen, mit denen er* bis zum Erhalt der Todesnachricht nichts zu tun gehabt hatte. Ihm* wurde schlecht vor Angst bei dem Gedanken, mit ihnen Blumen ins Wasser zu lassen und ihren fragenden Blicken ausgesetzt zu sein: Wo bist du gewesen? Was machst du hier? Wer bist du überhaupt?

Schnell hatte er* den Ort verlassen, der ihm* für Millisekunden einen Zugang zu einem Gefühl gestattet hatte. Er* hatte ein Beben in sich gespürt und Tränen in seine* Augen steigen. Gerade genug, um sich noch menschlich zu fühlen. Ausweglos musste es gewesen sein. Oder war genau das das Ziel gewesen? Nirgends ein rettendes Seil, keine Leiter mit der man hätte wieder heraus klettern können.

Wie hatte er den Boden unter den Füßen verloren?

Anfangs hatte er* noch viel geschrien. Doch die Hoffnung darauf, gehört zu werden, verging mit der Zeit. Der endlose Raum verschluckte jeden Laut. Da nie Resonanz kam, unterließ er* das Schreien für gewöhnlich. Nur bei seltenen Anflügen von Zuversicht flackerte in ihm* erneut Widerstand auf, dann schrie er*. Mit weniger Kraft als am Anfang, aber dennoch aus vollem Halse.

Seine* Stimme verschwand, all seine* Bemühungen verhallten. Was blieb, war eine tonlose Vibration in seinem* Inneren, die nur er* vernahm. Auf diese Weise konnte er* sich manchmal spüren und erkennen. Doch weil sich die Reue so unvorhersehbar in ihn* bohren konnte, unterließ er* auch das Sprechen und Singen die meiste Zeit. Er* wusste ja langsam um seine* Beschaffenheit Bescheid und wie es ihn* gequält hatte, mit dem in Kontakt zu kommen, was nicht mehr war, was verklang, so sehr man sich auch bemühte, es in Worten zu wiederholen. Wiederzuholen, was nicht mehr war.

Todds Herz schlug schnell. Er* sah die umgebenden Sterne in einem neuen Licht. Nie waren sie ferner. Unberührbar auch sie – und das für immer. War das die Strafe: der Raum dazwischen? Er* nannte es fortan Pendel, woran er* hing. So sehr hoffte er* bereits, dass ihm* bald die Stunde schlagen würde, dass dieser Zustand ein Ende fand. Doch nichts deutete darauf hin. Die Zeit verfloss weiter.

In dieser Weite, die seinen* Träumen plötzlich zur Verfügung stand, war er* sich selbst ausgeliefert wie nie zuvor. Zweifel suchten ihn* heim, begannen an seiner* Substanz zu nagen.

Er* hatte Orion nicht zurückgerufen.

Er* hatte nicht nachgefragt.

Die letzte Nachricht war unbeantwortet geblieben. Immer wieder

hatte er* das Schreiben aufgeschoben. Sie würden einander nicht wiedersehen. Nie mehr würde er* die Gelegenheit haben, all die Fragen zu stellen, die ihn* seit ihrem Kennenlernen umtrieben. Nie mehr würden sie Musik zusammen hören, gemeinsam essen, durch die Parks streifen und einander übersetzen. Er war nur wenig älter als Todd gewesen. Und doch war ihre Beziehung von Ungleichheit geprägt.

Orion war Schwarz und seit ein paar Jahren ohne Papiere im Land. Todd war of color, hier in der Stadt geboren und überwiegend in einer weißen Familie großgeworden. Orion kannte zwar Unmengen an Leuten, war sehr gebildet, konnte unterrichten. Doch hatte Todd mitbekommen, dass es ihm zuletzt schlechter ging. Trotzdem hatte er* nicht reagiert. Was hätte er* auch tun können? Wenige Euro konnten sie trennen. Als Orion sich bedanken wollte, schämte sich Todd für die Münzen im Briefumschlag. Er* nahm ihn entgegen, vergrub ihn aber schnell unter den Papieren auf dem Schreibtisch. Todd war es peinlich, wenn er* auch nicht wusste, was genau. Schämte er* sich, dass Orion ihm* so wenig vertraute? Schämte er* sich vor sich selbst, seiner Privilegien oder in Anbetracht der konventionellen Geste, der er* nicht gewachsen war?

Er* wollte verstehen.

Von Zeit zu Zeit zog Todd mit den Augen Linien zwischen den einzelnen Sternen. Wenn Todd ihrem Anblick nicht mehr standhalten konnte, schloss er* die Augen. Er* wollte ihr Leuchten in der Ferne dann nicht mehr einlassen. Ihrer bedeutungslosen Schönheit keinen Raum geben, ihr keinen Platz gewähren.

Immer mehr Bilder von Orion zogen vorüber,

sie wurden schneller, drängender, bildeten Ketten und Verbindungen. Er* sah Orion durch die aufgeregte Stadt wandern, er* sah ihn über die Marktplätze im Viertel schreiten und durch menschenvolle Straßen, er* sah ihn ausgelassen feiern. Er* sah ihn trunken und auch einsam. Er* hatte ihn durch die Augen vieler Menschen gesehen. Er* hatte ihre Blicke auch auf dem eigenen Körper gespürt. Er* hatte um die Gefährlichkeit der Kontrollen gewusst. Er* hatte nichts dagegen unternommen. Er* zog sich zurück.

Besser Schweigen als Zielscheibe werden.

Nicht auffallen, unsichtbar sein.

„Trang!“, hörte er* plötzlich aus dem Nichts rufen. War eine Person hinter ihm*? Nochmals: „Trang!“ Es war nicht möglich und doch war er* sich sicher, eine Stimme zu hören, die nach ihm* rief. Als Kind hatten sie ihn* aufgezogen mit diesem Namen, den sie* schließlich abgelegt hatte. Todd lauschte in die Stille hinein, doch alles, was er* vernahm, glich einem leisen Rauschen, das tief und unverständlich war.

Sein* Körper entspannte sich, dehnte sich vollends aus, überließ sich den Erinnerungen.

Land und Wasser unterschieden sich nicht. Schwarz liefen die Wellen den Strand hoch hinauf. Orion und Todd schritten die schmale Passage entlang, immer auf der Hut davor, gleich überspült zu werden. Lichtkegel warfen weiß blitzende Zeichnungen auf das wogende, bewegte Treiben. Die See versuchte, Schritt zu halten. Als sie ankamen, knallten die ersten Korken. Feuerwerkskörper gingen winzig auf der anderen Uferseite in die Luft. Sie standen ums Feuer, wärmten sich, obwohl es ein milder Winter war.


Lektorat: Jiaspa Fenzl und Eva Schörkhuber

Prosa#7PS