Die Jacke
Wenn ich in die Schreibjacke schlüpfe, dann in die zu große aus feinem Wollstoff, die mit den dicken Polstern, die mit dem gepflegten Haar, die mit dem leicht auszusprechenden Namen, die, deren Genital mit einer der administrativen Möglichkeiten übereinstimmt. In dieser Jacke gehe ich im Zimmer auf und ab und diktiere mit ruhiger Stimme hochwertige Sätze, die das Futter diskret durchschimmern lassen: das Wissen, den Habitus, das kulturelle Kapital, von dem ich meine, es mir in ausreichendem Maße angeeignet zu haben, um relevante Verweise verstehen und selbst streuen zu können. Ich lege dem Material einen Grund aus gleichmäßig geschliffenem Stein, nur um dessen Fluss in bekömmlichen Abständen mit einem Sturz ins Markige, ins Wahre, ins Verbürgte zu durchbrechen, so dass den Leser*innen vielleicht etwas Schlamm ins Gesicht spritzt, aber nur gerade so viel, dass es sie nicht vom Weiterlesen abhält, so, dass es den Eindruck macht, nichts mit ihnen zu tun zu haben, allenfalls mit ihrem nicht sehr gelittenen Schwager, der SVP wählt und den sie zum Glück nur ein paar Mal im Jahr sehen. Sie haben nie verstanden, was die Schwester an dem findet. Sie können diese Eindrücke schmunzelnd wegwischen, nichts müssen sie auf sich beziehen, sie selbst haben ja gute Absichten. Der Text mutet ihnen nicht zu viel zu. Er ist wohl dosiert und mit genügend Anschlüssen versehen, unterhaltsam und über weite Strecken verträglich, seine Topografie niemals ein Vorwurf, denn im 21. Jahrhundert ist das Authentische ein schicker Industrieboden, der in Eigentumswohnungen verbaut ist, schliesslich will man auch zu Hause etwas betreten, das unverfälscht ist, ungehört, wahr. Aus dem Wohneigentum führen flache Stufen in die Natur. Dorthin tritt man gut besohlt. In Trekkingschuhen geht es hinaus auf Hügel und Wiesen, vorbei an Bundeszentren und Zivilschutzbunkern, vorbei, vorbei, denn so nah am Eigenen braucht es weder das Mittelmeer noch Afghanistan, vorbei, direkt in den Wald auf die unbefestigten Wege, gelobt sei das Naherholungsgebiet. Für außerhalb lieber die Schuhe mit der dicken Sohle, da spürt man nicht jeden Kiesel, jede Wurzel, jedes Loch, da hat man trotz Unebenheiten genug Halt. Man trägt Funktionskleidung, man hält einiges aus, sie sind mentale Offroader, wer nicht.
Ich höre mich räuspern. Raus aus dem Geäst, den Brombeeren, den Buchen. Ein Jackenknopf fehlt. Schnell ein Bonbon. Weiter geht’s. Im Rhythmus einer maßvoll abweichenden Biographie klackern die Tasten, das Diktat nur eine geräuschvolle Illusion, ermöglicht durch die Spaltung von Erzählen und Schreiben. Im Takt des Textes gebe ich vor, von Verpflichtungen frei zu sein, mir beliebig Zeit nehmen zu können. Für die Niederschrift packe ich mich am Schopf und schwebe einer Drohne gleich aus dem Fenster, die Gedanken an Erfolg oder Scheitern genauso hinter mir lassend wie die sauren Tassenflecken auf dem Schreibtisch und das Frühstücksgeschirr in der Spüle. Dem Gedanken ans Gelesenwerden winke ich noch zu, bevor ich ihn aus den Augen verliere. Vom Gefallen anderer abzuhängen, ist der Schreibjacke ein Zwang, den sie am liebsten mit einer einfachen Handbewegung von den Schultern streifen würde, wie die Schuppen, die in den letzten Jahren mehr geworden sind, Schuppen, die ihr auch in die Tastatur rieseln, wenn sie beim Schreiben ins Stocken gerät und sich ins ergrauende Haar greift. Trüge die Jacke einen glaubwürdigen Bart, oder würde sie die Haare färben, würden ihr gut 10 Jahre erlassen, Jahre, die auf «dem Markt» entscheidend sein könnten, denn es gibt keine gute Erklärung fürs Zuspätkommen, schon gar nicht in der pünktlichen Schweiz, und all die Geschichten, die man sonst auch Schaffner*innen, Vorgesetzten oder der Polizei erzählt, um es in dem Moment nicht noch schlimmer zu machen, und die es dann gerade doch schlimmer machen, die zählen nicht. Niemanden interessiert, wer dir morgens im Weg stand, warum du die Fahrkarte nicht zahlen konntest, warum du dich zu jenem Zeitpunkt an genau diesem Ort befandest und nicht woanders, also spar dir diese Erklärungen und bitte auch nicht um Verzeihung, warum auch, was genügt.
Ein Blick auf die Uhr: Es ist bald Schulschluss. Das Kind kommt. Zeit, die Schreibjacke abzulegen. Texte müssen im Gegensatz zum Essen nicht mittags fertig sein. Sie könnten notfalls auch roh eingenommen werden, auch wenn Ungekochtes zugegebenermaßen weniger bekömmlich ist. Dennoch sollte es eigentlich möglich sein, sich dem Servierten mit dem Besteck der Kritik zu nähern, ohne beim Anblick des Gerichts das Bestellte wieder zurückgehen zu lassen, nach kurzem höflichem Herumstochern. Die Lesenden aber sind anderes gewöhnt. So stand das nicht auf dem Menü, man habe etwas anderes erwartet, wie soll man überhaupt darüber sprechen, als hätte das Rohe auch die Worte verschlungen, die es braucht für dessen Zurückweisung, und auch wenn man anerkennen müsse, dass da etwas auf dem Teller liegt, wer ist es.
Lektorat: Yael Inokai und Carolin Krahl