Antonias Pilz
Die nächste Pandemie ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal wurde sie durch einen außergewöhnlich sauren Regen ausgelöst, der irgendwas mit Industrieabgasen und Klimaveränderungen irgendwo auf der Welt zu tun hatte. Dadurch gelangten große Mengen Schwefeldioxid in die Atmosphäre und bedrohten bald auch unsere Wälder und unsere Städte, die doch gepflegt und sauber waren.
Es war die erste Pandemie, die nicht von einem bestimmten Mikroorganismus ausging. Vielmehr töteten das Schwefeldioxid und die Säuren, in die es sich umwandelte, alle möglichen Mikroorganismen. Vor allem töteten sie Pilze.
In dieser Pandemie lernten wir, wozu Pilze gut sind und wo sie überall Schaden anrichten. Am Anfang war es schwierig zu verstehen, dass die Vernichtung einiger Pilzarten die Verbreitung anderer Pilze befördert, die leider häufig die menschliche Gesundheit gefährden. Zwar verschwanden einige Krankheiten, die durch Pilze verursacht wurden; dafür wurde der krankhafte Pilzbefall des Mundraums, des Darms und der Genitalien fast Normalität. In Gesprächen sparten wir uns die Schilderung unserer jeweiligen Beschwerden. Solange es nichts Schlimmeres ist als Candida albicans, lautete die stehende Wendung.
In den Nachrichten war von wenig anderem die Rede als von neuen, gefährlichen Infektionen. Mykose – Pilzerkrankung – wurde ohne ernsthafte Konkurrenz zum Wort des Jahres. Es hieß, bestimmte Pilze ließen sich nicht einfach töten, sondern würden schwefelresistent oder veränderten sich auf unvorhersehbare Weise. So tauchte ein mutierter Schimmelpilz auf, der menschliches Gewebe befiel und nach wenigen Tagen zum Tod führte, sofern man die betroffenen Körperteile nicht schleunigst entfernte. Auf den Bildschirmen wurde gezeigt, was man in einem modernen europäischen Krankenhaus nicht erwartete: Menschen mit amputiertem Arm, Kiefer oder Auge. Es waren besonders diese Bilder, aber auch die neuen Krankheiten und der Schwefelregen selbst, weswegen die Leute lieber zu Hause blieben.
Wir hatten uns an solche Phasen der Häuslichkeit gewöhnt; man war auf der Hut und arbeitete einfach zu Hause weiter. Die einen schafften die pandemiebedingten Umstellungen ohne Probleme, andere brauchten länger. Man musste ein Auge auf Letztere haben.
Antonia hatte länger keine Partnerin gehabt, sie hatte auch keine Kinder, nicht einmal ein Haustier. Sie konnte ungestört ins Homeoffice gehen, konzentriert arbeiten und anschließend joggen oder, wenn es regnete, die Yogamatte ausrollen – alles, worauf sie Lust hatte. Sie konnte ein neues Rezept ausprobieren, sich um ihre Zimmerpflanzen kümmern und abends zur Online-Kneipe kommen und am sozialen Leben teilhaben. Sozial- und Psychohygiene sind wichtig in Pandemien, gerade wenn ätzender Regen gegen die Fensterscheiben fällt und die Bäume davor entlaubt.
Dass wir diese Art der Fürsorge dringend brauchten, zeigte sich spätestens, als Kai beim Sprint vom Auto ins Haus ein paar Regentropfen abbekommen hatte. Wochenlang klagte er über Kopfschmerzen, zu denen auch seine Ärztin und das Internet nur Vermutungen anstellen konnten. Natürlich gab es keine Langzeitstudien, höchstens Berichte über chemische Kriegsführung mit Säuren, die Kai eine Zeitlang nach Feierabend recherchierte. Dass sein Kopf mit den teils bis zur Wurzel versengten Haaren unschön aussah, sagten wir ihm nicht. Wir gaben ihm Frisurentipps und sangen beim Online-Karaokeabend Purple Rain.
Antonia kam fast nie zur Online-Kneipe.
Eines Abends erzählte Marit, Antonias Mitbewohnerin, dass Antonia sich einen Kombucha zugelegt hätte, der bekanntlich aus Hefepilzen bestehe. Damit fermentiere sie gezuckerten schwarzen Tee.
„Ein Riesenpilz in der eigenen Küche“, sagte Pola, „das ist doch leichtsinnig in diesen Zeiten.“
Die meisten stimmten ihr zu.
„Woher hat sie den überhaupt?“, fragte Stefan.
Marit murmelte etwas Unverständliches, wir fragten lieber nicht nach.
Ins Schweigen hinein sagte Leonie: „Wisst ihr noch, in der ersten Pandemie, als die Leute sich reihenweise Kombuchas, Kefire und kleine Hunde zugelegt haben?“
Klar wussten wir das noch. Damals mussten wir erst lernen, die extreme Häuslichkeit zu ertragen, und hatten auf Impfstoffe und den Sommer gehofft. Nach der ersten Pandemie war die Kefir- und Kombucha-Begeisterung schnell abgeklungen. Wir waren jetzt viel vorsichtiger, wen oder was wir in unsere Wohnungen ließen. Wohngemeinschaften waren eine Ausnahme geworden. Auch das Gesundheitsamt empfahl Mehrpersonenhaushalte ausschließlich im Kontext häuslicher Pflege und Erziehung. Warum das nicht immer schlecht war, zeigte sich gut daran, dass Marit plötzlich und ungefragt mit einem Riesenpilz zusammenleben musste.
Sonja sagte: „Dann hat Antonia was, worum sie sich kümmern kann.“
Das war nicht von der Hand zu weisen.
Zwei Wochen später, bei der nächsten Online-Kneipe, saßen Marit und Antonia gemeinsam vorm Laptop.
„Was macht dein Mykose-Maschinchen?“, fragte Kai.
„Es geht ihm gut“, sagte Antonia.
„Und wie!“, ergänzte Marit. „Antonia hat im Internet ein größeres Glas bestellt, jetzt produziert er drei Liter Getränk pro Woche. Und er wächst.“
„Zeigt her!“, sagte Stefan.
Wir hatten an dem Abend ohnehin kein unterhaltsameres Thema.
Während Antonia aufstand und in die Küche ging, zeigte Marit mit einer Grimasse, was sie von der Kombucha-Geschichte hielt.
„Ein Riesending“, sagte Pola, als Antonia zurückkehrte und das Glas vor sich und Marit stellte.
„Ich seh nichts“, sagte Kai, „halt mal näher ran.“
Antonia rückte das Glas so dicht wie möglich vor die Laptopkamera. Eine trübe, braune Flüssigkeit war zu erkennen, obenauf ein rundlicher Schatten, der langsam hin und her schwappte.
„Er muss sich in dem neuen Glas noch akklimatisieren“, erklärte Antonia.
„Und er frisst Tee und Zucker?“
„Und Obst“, sagte Marit und wies auf ein paar schwammige Stückchen unten im Glas. „Mittlerweile kriegt er Bioerdbeeren aus dem Gewächshaus.“
Antonia erklärte: „Ein Kombucha ist halt keine Maschine, in die man einfach irgendeinen Treibstoff einfüllt. Er ist ein lebendiger Organismus.“
Ansonsten trug sie nicht viel zum Gespräch bei, und beim nächsten Kneipenabend saß Marit wieder allein vor der Kamera. Es hatte wieder neue Mutationen gegeben, die Zahl der Neuinfektionen lag insgesamt hoch, und Polas Mutter war gestorben. Wir wussten, dass der Krebs, der schon lange vor der Pandemie ausgebrochen war, ihren Tod verursacht hatte; aber der multiresistente Pilz, der ihr in den letzten Tagen im Krankenhaus die Füße abgefressen hatte, war natürlich grässlich gewesen.
Pola sah ziemlich fertig aus.
„An der Rezeption saß ein Typ mit einer Ansammlung von … irgendwas im Gesicht“, berichtete sie. „Er wirkte normal, aber ich bin mir sicher, dass das grünliche Zeug gewachsen ist, während wir miteinander sprachen. Und es hat sich bewegt, es hat ausgekundschaftet, wer alles vorbeikommt.“
„Das ist doch Quatsch“, sagte Sonja, „das heißt, ich will dir nicht absprechen, was du gesehen hast, aber so was können Pilze nicht.“
„Was wissen wir schon von diesen Mistviechern?“, rief Pola, und Leonie fragte, um das Gespräch wieder auf leichtere Bahnen zu bringen: „Wie läuft’s denn mit Antonias kleinem Freund, Marit?“
„Direkt bewegt hat er sich noch nicht“, sagte Marit betont munter, „aber er franst aus. Letzte Woche war er ja noch einigermaßen kompakt. Jetzt hat er sich nach allen Seiten hin ausgebreitet – in dünnen, irgendwie formlosen Ärmchen und Wellen. Er hat fast denselben Durchmesser wie das Glas. Ich mag da nicht mehr reingucken, echt nicht. Demnächst springt er mir entgegen.“
Wir lachten, froh über die Ablenkung. Stefan erbot sich, Pola zur Beerdigung ihrer Mutter zu fahren und, weil nur Verwandte ersten Grades zugelassen waren, vor dem Friedhof auf sie zu warten.
Wir diskutierten über das Risiko, das entstünde, wenn die beiden sich draußen leibhaftig begegnen würden. Dabei stand unausgesprochen im Raum, was alle längst vermuteten: Dass Stefan sich für Pola interessierte. Aber musste er ausgerechnet jetzt einen Vorstoß wagen? Was, wenn es am Tag der Beerdigung regnete? Pola befand sich ohnehin in emotionalem Aufruhr, und es waren diese Situationen, in denen die Leute ihre Schirme vergaßen oder alle Umsicht über Bord warfen – mit den bekannten Folgen. Die Mehrheit sprach sich dafür aus, dass Pola lieber in Ruhe trauern sollte.
„Wenn man sich vor Augen hält, dass fast jeder ‘ne Candidose hat – denkt überhaupt noch jemand ans Knutschen?“, fragte Leonie, scheinbar zusammenhanglos, eine Woche später.
Stefan reagierte natürlich nicht, Sonja runzelte die Stirn. Marit erzählte, dass Antonias Pilz Ausmaße erreicht habe, die weit über das natürliche Wachstum einer Kombucha-Kultur hinausgingen.
„Ich habe gegoogelt, und es ist nicht normal, dass so ein Viech ein halbes Kilo Zucker in der Woche plus diverse Portionen Obst verdaut“, sagte sie.
„Schmeißt ihn weg“, sagte Leonie.
„Ich hab Antonia gesagt, sie soll ihn wegschmeißen, oder ich stell ihn raus in den Schwefelregen. Jetzt redet sie nicht mehr mit mir.“
„Und sie trinkt den Kombucha nach wie vor?“, fragte Leonie und verzog das Gesicht.
„Sie trinkt ausschließlich Kombucha und sagt, sie hätte sich nie besser gefühlt. Sie hat überhaupt keine Kopfschmerzen mehr und will nie wieder Kaffee und Kuhmilch und den ganzen Industriefraß in sich reinschütten.“
Sonja sagte: „Ich find es nicht schlecht, mal darüber nachzudenken, was man zu sich nimmt. Hat sie jemanden, mit dem sie das gut besprechen kann?“
„Jemand anderen als den verdammten Kombucha?“, höhnte Marit. „Ich würde ihn gern das Klo runterspülen. Antonia wäre krass wütend.“
Kai kicherte und Leonie sagte: „Mach’s einfach. Wenn eine Freundin die Kontrolle über sich verliert, muss man ihr die Dinge aus der Hand nehmen. Ist leider so.“
Danach hörten wir länger nichts von Marit und Antonia. Als auch auf Messenger-Nachrichten und Mails keine Antwort kam, begannen wir, uns Sorgen zu machen.
Sonja gelang es schließlich, mit Marit zu sprechen. Sie sei im Krankenhaus, richtete sie uns aus, würde sich aber zur Online-Kneipe zuschalten.
Die Verbindung war schlecht, wahrscheinlich versuchten viele Patientinnen, mit ihren Lieben zu sprechen: Besuche waren nur gestattet, wenn es gar keine Hoffnung mehr gab. Trotzdem war zu erkennen, dass Marit vor ihrem Handybildschirm bleich aussah.
„Was ist passiert, wie geht es dir, wo ist Antonia?“, fragten alle durcheinander.
„Ich weiß nichts von Antonia“, sagte Marit. Das Sprechen bereitete ihr sichtlich Mühe.
„Ich habe versucht, den Kombucha ins Klo zu schütten, und dann ist die Situation eskaliert.“
„Ist sie ausgerastet?“, fragte Leonie.
„Zuerst ist der Pilz ausgerastet. Er hat sich nicht runterspülen lassen, und ich habe Netzschwefel draufgesprüht.“
Netzschwefel – fein gemahlenes Schwefelpulver, eigentlich ein Pflanzenschutzmittel – war in diesen Zeiten groß in Mode. Weil er, in Wasser gelöst, Pilze abtötete, benutzten die Leute Netzschwefel zur Wohnungsdesinfektion; offizielle Stellen rieten natürlich davon ab. Auch wir hatten darüber diskutiert, wie sinnvoll es wäre, die eigene Wohnung mit einer Chemikalie einzusprühen, mit der man nicht fachgerecht umgehen konnte.
„Aber es hat ihn nicht gekillt?“, fragte Kai.
„Nein, es hat ihn … wütend gemacht. Er ist mir aus der Toilette entgegengekommen, und seine Arme – es sah aus, als würden sie immer länger werden.“
„Bist du dir sicher?“
„Nein, wie auch? Es ging alles sehr schnell. Dann klebte mir das Ding im Gesicht.“
„Was?“, riefen alle gleichzeitig.
„Der Kombucha hat dich angegriffen?!“
„Naja, so ein Pilz hat ja keine Klauen oder so was. Er war nicht mal unangenehm, hauptsächlich weich und kühl. Einen Moment lang fühlte es sich fast gut an.“
Keiner sagte mehr etwas.
Marit fuhr fort: „Dann kam mir der Gedanke, dass er mich wahrscheinlich verdauen wollen würde, und ich fing an zu schreien – soweit das möglich ist mit einem Riesenpilz vorm Gesicht. Ich bekam kaum noch Luft. Aber das Ding saß fest.“
Marit atmete tief ein, und als sie das Kinn hob, war das grünliche Zeug auf ihren Wangen gut zu erkennen.
„Dann kam Antonia ins Bad, offenbar hatte sie doch was gehört. Sie nahm das Ding von mir runter.“
„Sie konnte es runternehmen?“, fragte Stefan.
Marit nickte.
„Sie hat sanft auf ihn eingeredet, und er ließ sich einfach abnehmen. Dann setzte sie ihn ins Glas zurück und versprach, ihm frischen Tee zu machen.“
„Und du?“
„Ich war nicht ganz bei mir, glaube ich. Kurz darauf rief Lukas an, und er hat dann den Krankenwagen geholt. Jetzt soll ich hier vierzehn Tage isoliert bleiben, sagen die Ärzte. Aber im Grunde wissen sie auch nicht, ob ich mutierte Hefen eingeatmet habe oder was sonst mit mir los ist.“
„Arme Marit“, sagte Pola leise.
Wir überlegten, ob einer von uns wenigstens versuchen sollte, Marit im Krankenhaus zu besuchen. Dass es in diesen Zeiten sehr gefährlich wäre, lag auf der Hand; und sie würden uns ohnehin nicht zu ihr lassen. Wir beschlossen, Marit zur übernächsten Online-Kneipe einzuladen, und wünschten ihr vorerst alles Gute. Sonja wollte noch mal versuchen, Antonia zu erreichen.
Lektorat: Yael Inokai und Carolin Krahl