Die Hauptsache ist doch …

1. „Nice People Around?“

Wikipedia sagt, dass meine Eltern Unterstützer*innen einer Terrorgruppe waren. Weil sie selber so wenig von früher erzählen, habe ich einfach mal recherchiert. Ein Begriff, der immer wieder fiel, war:

National Democratic Front

Und dann auch:

New People's Army

Klingt ein bisschen wie eine Indieband. Ist aber etwas ganz anderes.


Die Neue Volksarmee oder Nuevo Ejército del Pueblo (Tagalog: Bagong Hukbong Bayan, englisch New People's Army, Abkürzung NPA) ist eine revolutionäre kommunistische Gruppierung auf den Philippinen, die am 29. März 1969 gegründet wurde.

Geschichte

Die NPA ist der militärische Flügel der Kommunistischen Partei der Philippinen (abgekürzt PKP oder CCP). Die Organisation hat schätzungsweise 10.000 Mitglieder, viel weniger als zur Zeit des Diktators Ferdinand Marcos, als sie 25.000 bis 30.000 Mitglieder hatte und in über 60 der 73 Provinzen des Landes vertreten war. Zu Marcos' Zeit wurde NPA auch mit „Nice People Around“ („nette Leute von nebenan“) übersetzt.

Die NPA hat ihre Wurzeln in der ebenfalls kommunistischen Hukbalahap-Organisation, die ursprünglich als Guerilla-Organisation gegen die japanische Besatzung der Philippinen im Zweiten Weltkrieg begann und bis in die 1960er-Jahre gegen die philippinische Regierung weiterkämpfte. Danach wurde die NPA neu gegründet. Sie widmete sich einem revolutionären Landreformprogramm zur Senkung des Pachtzinses und der Verbesserung der Lebensbedingungen durch Gesundheits- und Alphabetisierungsprogramme.

Im April 2003 bezeichneten die USA die Gruppierung als eine ausländische Terrororganisation. Der Gründer der NPA, José María Sison, lebt in den Niederlanden im Exil, wo er noch immer die NPA sowie die CPP leiten soll. Der Organisation wird vorgeworfen, dass sie eine Gruppe von Erpressern sei, und keine revolutionäre Gruppierung.


Vor ein paar Jahren war ich bei meinen Eltern zu Besuch in Berlin Kreuzberg. Nachdem sie die tolle Idee gehabt hatten, mit mir ein Familienleben in einer westdeutschen Kleinstadt auszuprobieren, sind sie nach meinem Auszug schnell dorthin umgezogen.

Und weil Felix auch gerade bei seinen Eltern in Berlin war, haben wir uns getroffen. Unsere Eltern kennen sich noch von den Philippinen. Sie sind enge Freunde gewesen, als ich klein war, darum ist Felix ein bisschen wie ein Cousin.

Wir gehen zusammen zu einer Feier in Neukölln, wo Felix mich mit den Worten vorstellt:

„Das ist Kay. Er kann kein Tagalog, aber seine Eltern haben auch gegen Marcos gekämpft.“

Alle grinsen freundlich und wissen, wer gemeint ist. Aber viele gucken auch ehrlich verwirrt. Dann spricht eine aus, was die meisten wohl denken. Sie guckt mich von oben bis unten an und sagt:

„Deine Eltern haben gegen Marcos gekämpft – aber warum?“

Dieses Warum erinnert mich daran, dass ich nach der Schule für ein Jahr in Johannesburg war und dort gefragt wurde:

„What are you running away from?“

Für mich habe ich mittlerweile eine Antwort. Für meine Eltern suche ich noch. Bei meinem Vater habe ich Ideen: Dass er weglaufen wollte vor dem Geist von seinem Nazi-Vater, der sich umgebracht hatte, und den er von der Decke baumelnd finden musste, als er selbst noch ein Junge war. Er wollte es anders, er wollte es besser machen. Mein Vater war nie in Sowetsk/Tilsit gewesen, wo sein schlesischer Vater herkam. Dafür war er lange in Manila.

Meine Mutter ist ein noch komplizierteres Puzzle. Ein süßes, kleines, niederländisches Reihenhaus, erst ohne, dann sogar mit Zentralheizung für ein Guerilla-Training auf den Philippinen zu verlassen – das macht mensch doch nicht, wenn in dieser glatten, sauberen, liberalen Welt wirklich alles in Ordnung ist, oder? Macht es nicht mehr Sinn, dort zu kämpfen, wo mensch sich gerade aufhält oder: wo mensch gerade lebt? Gegen NS-Kontinuitäten in Deutschland zum Beispiel oder gegen das kolonialistische Erbe in den Niederlanden? Vielleicht stimmt es, dass es am schwierigsten ist, vor der eigenen Tür zu kehren?

Ich habe meine Eltern, ich habe euch immer wieder gefragt:

Ihr sagt, ihr seid ausgestiegen, als es zu dem kam, was später „interne Säuberungen“ genannt wurde. Ihr konntet nicht mehr jede Gewalt rechtfertigen. Ich weiß, dass du, Papa, noch einen Text geschrieben hast über ein Massaker, das seitens des Militärs an Demonstrierenden verübt wurde.

Du hast für einen Menschenrechtsreport darüber geschrieben. Offiziell nur als Beobachter.

Zurück in Deutschland, in der Kleinstadt, im Reihenhaus, sollte niemand wissen, woran ihr beteiligt gewesen wart. Was auch immer passiert war in dieser New People's Army – ein Teil eurer Träume und Utopien ist dort verloren gegangen.

Dieser Bruch ist mir immer noch ein Rätsel. Dass ihr so viel Wut auf die Welt hattet, um an ihr anderes Ende zu reisen und euch dort einer revolutionären Bewegung anzuschließen, ist die eine Sache. Ich finde es gut, dass ihr vom Maoismus weggekommen seid. Aber hätte es nicht auch Zwischenstufen gegeben? Musste es denn von der Revolution direkt zur Kleinfamilie im Reihenhaus gehen? Aber das war wohl die Idee eurer K-Gruppen damals. Anders als bei den Autonomen oder Hippies war Subkultur nicht das Ziel. Die Revolution, die sollte aus der Mitte des Volkes kommen. Oder so.

Auch in dieser Frage sitze ich zwischen den Stühlen. Selbstbezogenes, abgehobenes linkes Szenegetue finde ich eher peinlich. Aber die Revolution aus der Mitte des Volkes? Was soll ich sagen. Ich habe da gewohnt. In der Mitte. Im westdeutschen Reihenhaus. Da ist nicht viel an Hoffnung übrig geblieben.

Jetzt bin ich von Westdeutschland nach Ostdeutschland gezogen. Und in dieser Stadt, da ist eine Traurigkeit, die mir so vertraut vorkommt. Ich glaube, dass ich sie kenne – durch euch. Es ist eine Trauer um verlorene Träume und Utopien, um etwas, das Befreiung sein sollte und dann immer totalitärer wurde.


2. Nebenwiderspruch und Partykollektiv

Im Marxismus wird davon ausgegangen, dass vor allem die ökonomischen Verhältnisse das Leben bestimmen. Alles andere ist Nebenwiderspruch. Für meine Eltern war somit klar, dass ich ein glückliches Kind sein musste. Im Gegensatz zu ihren Eltern hatten sie ausreichend Geld, und der Schrank mit Süßigkeiten war immer gefüllt.

Nur hat dafür fast alles andere nicht gepasst. Der Tod meines Zwillingsbruders. Die maoistische Guerilla-Vergangenheit meiner Eltern. Mein Intersex-Trans*-Sein. Der Nazi-Großvater, der sich umgebracht hatte.

Vieles war so eindeutig da wie ein Elefant im Raum. Aber alle haben so getan, als würden sie den Elefanten nicht sehen. Es war, als hätte ich lauter weiße Flecken auf der Landkarte von meinem Ich.

Mein Bauch war voll, manchmal sogar mit dieser leckeren Cola, die doch eigentlich böse war. Dennoch fühlte ich mich leer.

Für meine Eltern war Selbstfürsorge ein Fremdwort. Meine Probleme, als queer ausgelacht oder nicht zur Party eingeladen zu werden, waren offensichtlich keine Probleme. Ich war ja gesund und satt.

Wer sich im philippinischen Regenwald vor dem Militär versteckte und sich tagelang nur von Reis ernährte, weil es mitten im Nirgendwo nichts anderes gab und Geld in linken Bewegungen sowieso immer knapp war, für den scheint ein erster Liebeskummer vielleicht banal. Und kein Grund zum Weinen.

Jedenfalls war es egal, wie laut ich den Punk in meinem Zimmer drehte, er war nie laut oder wütend genug, als dass irgendwann mal wer gefragt hätte, was da los sei bei mir. Mein Hauptwiderspruch, das, was zu dieser Zeit zwischen mir und einem guten Leben stand? Ich hätte es wohl Einsamkeit genannt. Aber zu Hause gab es keine Worte dafür. Meine Eltern waren ja auch einsam hier, aber das sollte keiner wissen.

Ironischerweise waren die ersten Politgruppen, zu denen ich ging, das Gegenteil zu den alten Politgruppen meiner Eltern:

Identität war wichtig. Meine Queerness hatte Platz. Leute sprachen über Selbstfürsorge. Ein Aktivismusparadies. Bis ich immer mehr verwundert war. Und enttäuscht.

Ich fand es gut, endlich über Geschlecht zu reden. Aber niemand wollte mehr über Geld reden.

Ich fand es gut, nicht ans andere Ende der Welt zu fahren, sondern bei sich selbst anzufangen und vor den eigenen Türen zu kehren. Nur sind manche dabei in und bei sich selbst stecken geblieben. Konnten und wollten nicht weiter als innerhalb des eigenen Kiez denken.

Ich fand es gut, dass es keine strengen Regeln gab. Keine Verpflichtungen. Ich hatte ja von „internen Säuberungen“ gehört.

Als es dann aber darum ging, ein Autonomes Zentrum, das mir ein Zuhause geworden war, zu verteidigen, wurde ich sauer: Weil viele lieber verhandeln wollten, als einfach zu bleiben. Und weil alles ein großes Chaos war.

Plötzlich taucht ein Geist vor meinen Augen auf: meine Mutter, als sie so alt war wie ich jetzt, mit Sonnenbrille, der Mund guckt trotzdem streng. Sie sagt:

„Was für ein unorganisierter Haufen. Ihr könnt doch nicht immer nur reden. So wird das nichts mit der Revolution.“

Ich will den Geist anschreien:

„Guckt euch selbst doch mal an. Ja, wir reden viel. Und lange. Aber hey – vielleicht hättet ihr mehr reden sollen, statt Waffen zu besorgen! Wie viele Tote hat euer scheiß Mao denn auf dem Gewissen?“

Heimlich, still und leise frag ich mich dann aber doch:

Vielleicht brauche ich mehr Zuverlässigkeit, mehr Ernsthaftigkeit für meinen Aktivismus.

In diesem Autonomen Zentrum, das mir so wichtig geworden war, haben Leute gerne Emma Goldman zitiert:

„Wenn ich nicht dabei tanzen kann, ist es nicht meine Revolution.“

Ich mag den Spruch. Wenn ich aber an die vielen Partykollektive und an die wenigen anderen Gruppen denke, möchte ich ergänzen:

Nur tanzen alleine macht leider auch keine Revolution. Oder?

Dann bin ich verwirrt und fühle mich in lauter Widersprüchen gefangen. Manchmal hätte ich gerne eine Anleitung zum Widerständig-Sein, ein Buch mit einfachen Regeln. Nur, da ist nichts, woran ich glauben kann. Oder will. Vielleicht ist es das, was ich aus den Fehlern meiner Eltern lernen muss:

Nicht auf die eine große Revolution zu hoffen, sondern an viele Revolutionen im Kleinen zu glauben. Oder so ähnlich.


3. Nicht alles war schlecht – im Kapitalismus

Heute kann ich maoistische Gruppen nicht zu einer emanzipatorischen Linken zählen. Aber manchmal musste ich mich daran festhalten, dass meine Eltern zumindest versucht haben, etwas anders zu machen.

Ich habe gelernt, der Geschichtsschreibung zu misstrauen. Während die New People's Army jetzt offiziell eine Terrorgruppe ist, liegt Ex-Diktator Marcos heute auf dem Heldenfriedhof von Manila.

Ich will nicht alles verteidigen. Ich weiß, dass meine Eltern vieles falsch gemacht haben. Ich glaube, sie wissen das auch. Aber wenn ich an die selbstgerechten CDUler in dieser Kleinstadt denke, in der ich mit diesem geballten Schweigen groß geworden bin, dann träume ich trotzig davon, in einer besseren Zukunft dorthin zurück zu fahren, um folgendes Gespräch zu führen:

Frau Meier: „Es war ja nicht alles schlecht im Kapitalismus …“

Ich: „Na, aber jetzt sind wir doch alle froh, dass der Spuk vorbei ist.“

Frau Meier: „Jaja, aber also früher – ich war ja in der Jungen Union. Ich hab da auch wirklich dran geglaubt.“

Dann würde ich ein bisschen streng, aber auch gönnerhaft gucken und sagen:

„Ja, naja, in der Jugend, da haben manche halt verrückte Ideen. Aber keine Sorge, ich verurteile Sie nicht. Sie haben sicher noch gar nicht richtig verstanden damals, was das alles bedeutet. Die Hauptsache ist doch, dass Sie jetzt keine Kapitalistin mehr sind.“


Lektorat: Olivia Golde und Eva Schörkhuber



Prosa#7PS