Das Kloster

 

Nach vierzehn Jahren kam ich in jene Kleinstadt zurück, in der ich einst aufgewachsen war. Es war ein nasskalter Herbstsonntag. Mein Mann und ich stiegen aus dem Zug und gingen in die frisch renovierte Bahnhofshalle. Sie gefiel mir in ihrer nüchternen und gleichsam stilvollen Art. Schon kurz nach der Ankunft waren wir beide in der Stimmung, nach irgendwelchen Dingen zu suchen, uns überkam eine unbändige Lust auf Shopping. So war auch diese Reise entstanden. Sie war nicht geplant. Eines Tages, als mein Mann vom Diskontsupermarkt zurückkam, hatte er dieses Reiseprospekt dabei. Sechs Nächte in einem Viersternehotel gleich neben der neuen Wellnessanlage und der Talstation der Bergbahn, die zum naheliegenden Wandergebiet führt, am Rand meines Geburtsstädtchens. Ein echtes Schnäppchen. Wir buchten es sofort.

Am Bahnhofsvorplatz stand eine Reihe Taxis. Wir stiegen ins erste und fuhren zum Hotel. Dieses unscheinbare Städtchen hatte sich mit den Jahren sehr verändert. Es wirkte lieblicher und heimeliger in seinen Pastellfarben. Der alte Kindergarten hatte einen breiten gläsernen Vorbau erhalten, und die früher unverputzten Mauern zeigten sich renoviert und von Kinderhänden bunt bemalt. Was hatte es früher nicht für Aufregungen gegeben wegen eines Kreidestrichs am Boden! Der Taxifahrer war ein Teil der Veränderungen. Er erzählte, dass er seit ein paar Jahren hier lebe, und wie schwierig es für ihn anfangs gewesen sei. „Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit, aber verschlossen wie eine Tür zum Tresor,“ meinte er.

Für mich war es die Enge bei gleichzeitiger Distanziertheit, die mich als junge Frau fast wahnsinnig gemacht hatte. Als wir am Kinderheim vorbeifuhren, erzählte er von den Missbrauchsvorfällen, die in der letzten Woche aufgedeckt wurden und von denen in den Medien berichtet wurde. „Schlimme Sachen“, sagte er, „und das bei Kindern.“ Ich nickte nur. Eine meiner damaligen Mitschülerinnen hatte dort gelebt. Sie hieß Margit. Dass es in dem Heim nicht mit rechten Dingen zuging, war damals schon bekannt gewesen. Die Margit hasste es und ging mit 16 fort nach Köln. Sie kam aber wieder zurück und wir waren dann eine Zeit lang gut befreundet. Über ihre Jahre im Heim hatte sie wenig geredet. Angedeutet schon, doch unser Leben war so schon in zu viele Kämpfe verstrickt gewesen.

Das Hotel entpuppte sich als Glücksfall. Alles war so wie im Prospekt: sauber, großräumig und mit Stil. Die ersten beiden Tage verbrachten wir in der Wellnessanlage, abends aßen wir im Hotel. Das Essen war abwechslungsreich und gesund, die Bedienung höflich und unaufdringlich. Es tat gut, sich ganz dem Komfort des Hotels hinzugeben. Erst jetzt spürte ich, wie sehr sich alles in mir nach Ruhe und Entspannung gesehnt hatte. In den Monaten zuvor hatte ich gearbeitet wie ein Tier. Tag und Nacht. Ich hatte eine neue Abteilung übernommen und musste zuvor ein altes Projekt abschließen. Mein Mann meinte, ich stehe knapp vor dem Burn-out. Dieser Urlaub war meine Rettung.

Am dritten Abend spazierten wir am Haus meiner Eltern vorbei. Sie waren beide bereits seit acht Jahren tot. Das Haus hatte ich nie gemocht. Es war mir immer zu klobig. Es hatte mich auch nie interessiert, wieder hierherzuziehen. Hinter dem Haus, ein paar Minuten entfernt auf einem Hügel lag das Kloster. Als Kind war es mir viel größer vorgekommen.

Am nächsten Abend gingen mein Mann und ich essen. Wir betraten das Gasthaus unweit des Klosters, in dem wir früher unseren Frauenstammtisch hatten. Damals war das eine kleine Revolution gewesen. Ein Frauenstammtisch. Ich war eine Mitbegründerin und ging über Jahre dort hin, bis ich meinen ersten Mann kennenlernte und mit ihm ins Ausland zog. Nächtelang schmiedeten wir unsere Pläne gegen das in der Auenlandschaft geplante Kraftwerk. Die halbe Stadt war damals auf den Beinen, und es gab eine große Aufregung. Viele waren wütend auf uns, sie sagten, wir würden der Stadt die Zukunft verbauen, wenn das Kraftwerk nicht gebaut werde. Dann wurde das Gelände besetzt. Zwei Monate lebte ich dort, in einem Zelt. Bei der großen Gemeindeversammlung hatten wir uns schließlich durchgesetzt. Der Bau wurde gestoppt, die Auen waren gerettet. Jahre später bauten sie das Kraftwerk drei Gemeinden weiter flussabwärts. Die hatten dort zwar auch einen Auenwald, aber wohl keinen Frauenstammtisch.

Als wir das Gasthaus betraten, sah ich zu meiner Überraschung Gerda, Amela und sogar Margit am Stammtisch sitzen. Er befand sich in der Mitte der Gaststube. Damit uns alle sofort sehen, so hatten wir es damals beschlossen. Nach einer herzlichen Begrüßung setzten mein Mann und ich uns zu ihnen. Wie sehr freute ich mich, meine Gefährtinnen nach den vielen Jahren wiederzutreffen. Wir hatten einander viel zu erzählen, und schon bald war mir, als wäre ich nur kurze Zeit fort gewesen. Es war wie früher. Dabei war es ein glücklicher Zufall, denn die Treffen am Stammtisch fanden nur mehr unregelmäßig statt. Das Leben nahm auch hier seinen Lauf: Jobs, Heirat, Hausbau, Kinder, Scheidung, Krankheit – all das. Und mittlerweile waren beim Stammtisch auch Männer als Gäste erlaubt. Mein Mann hielt sich zurück, während wir pausenlos redeten. Er ging nach dem Essen ins Hotel. Ich blieb und genoss es, hier zu sein. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen zu einem Spaziergang im Klosterpark. Mein Mann zog die Wellnessanlage vor, was mir nur recht war. Ich wollte mich weiter in Ruhe mit meinen alten Freundinnen unterhalten. Ein unbestimmtes Gefühl hatte sich in mir breitgemacht, ich hatte den Eindruck, dass sie mir etwas verschwiegen. Trotz der vielen Jahre, die zwischen uns lagen, kannte ich meine Runde nur zu gut. Beim Frühstück erzählte ich meinem Mann von meiner Vermutung. Er lächelte. „Vielleicht steht ja wieder ein Kraftwerksbau bevor.“

Etwas aufgeregt war ich, als ich später durch das Tor des Klosters schritt. Als wir Kinder waren, fürchteten wir uns ob der düsteren Stimmung im Park, die von den schweren, alten Bäumen ausging. Ich hatte seitdem nirgendwo Ähnliches empfunden. Es war, als läge im Kloster ein Geheimnis verborgen, und nur die beiden alten Klosterschwestern würden davon wissen, und es hüten wie zwei zähe Wachhündinnen. Sie waren schon gut hundert Jahre alt, zumindest war mir das als Kind so vorgekommen, undurchdringlich und voller Furchen und Risse wie das steinalte Gemäuer selbst. Vielleicht lag es an ihrer schrulligen Ernsthaftigkeit, mit der sie uns stets auf Distanz hielten. Genau das war es, das Kloster hatte etwas Unnahbares, als läge hinter der Fassade das eigentliche, das unsichtbare Kloster verborgen.

Bei der Bank im Park standen bereits Gerda, Amela und Margit. Sie redeten aufgeregt miteinander und bemerkten mich erst, als ich bereits bei ihnen stand.
„Ah Carla, wie immer, in der ersten Minute nach der Pünktlichkeit. Schön, dass du hier bist.“
Margit begrüßte mich als Erste, und ich erkannte an den flatterhaften Bewegungen sofort ihre Aufregung. Kaum war die Begrüßung abgeschlossen, flüsterten und gestikulierten alle herum, wie damals, als wir uns nachts zur Aktion getroffen und mit Farbe „kein Kraftwerk“ auf das Rathausportal geschrieben hatten. „Carla, komm mit, wir müssen dir etwas zeigen. Hinten, neben dem ehemaligen Speisesaal haben wir neulich etwas gefunden.“

„Gibt es wieder ein neues Bauvorhaben, das wir verhindern müssen? Was habt ihr entdeckt? Eine Probebohrung in der Suppenküche?“
„Sehr witzig Carla“, brummte Amela, „wir wissen noch nicht, was es genau ist.“
„Aber wir werden es schon noch herausfinden.“ Margits Augen glänzten.

„So uns Gott helfe.“ In Gerdas Stimme lag ein ironischer Unterton.
Ich war mir zunächst nicht im Klaren darüber, was sie mir damit sagen wollten, ging aber mit ihnen durch den Park und über den schmalen Wege zwischen den Büschen zum hinteren Teil des Klosters. Dort wurde mir der schlechte Zustand des Gebäudes erst richtig bewusst. Auf weiten Teilen des Gemäuers war der Verputz bereits abgefallen. Die meisten Fenster waren gesprungen oder verbarrikadiert.
„Steht das Kloster etwa schon leer? Von vorne sieht es noch so gepflegt aus,“ fragte ich Amela, die neben mir stand und mir als Antwort ein „Pscht!“ entgegenzischte.

„Leise. Es heißt, eine Kommission aus Salzburg möchte den Bauzustand des Klosters dieser Tage begutachten. Es soll in ein modernes Pflegeheim umgebaut werden. Aber das glauben wir nicht.“ Ich verstand nicht, was diese Aufregung sollte, hielt mich aber an die Anweisungen und schlüpfte hinten den anderen durch eine nur spärlich abgesicherte Tür.

Wir standen im alten Bibliotheksraum. Die Regale waren leergeräumt, bei vielen fehlten die Fächer, einige lagen zerborsten am Boden. Ein Schreibtisch stand eingeknickt in der Ecke, ein Stuhl war ans Fensterbrett gelehnt. Der alte schöne Dielenboden war überall aufgerissen und übersät mit liegen gelassenen und weggeworfenen Dingen. Auch die anderen Räume spiegelten den Verfall dieses Klosters wider. Ich erinnerte mich, dass uns einmal eine der Schwestern in die Bibliothek geführt hatte. Sie schien erfreut und aufgebracht zugleich zu sein. Zuvor hatte sie uns sogar Limonadenflaschen in die Hände gedrückt, was sie ansonsten nie tat. Wir kicherten und lachten, wir waren verzückt vom Anblick der vielen Bücher in ihren roten und braunen Einbänden, auch der gedrungene, eiserne Ofen und die vielen Heiligenbilder hatten es uns angetan. Eines faszinierte mich am meisten. Es war ein Bild von Maria, die Jesus im Arm hielt. Über ihr schwebte ein Engel mit einem Spiegel in der Hand, in dem sich Mutter und Sohn betrachteten, während um sie herum seltsame Kreaturen tanzten.

„Hier hing dieses komische Marienbild. Könnt ihr euch erinnern?“, fragte ich die anderen. „Ja, ich erinnere mich. Es war gruselig, mit diesen tanzenden Teufelchen.“
„Ich glaube, es hing hier. Dort ist noch der Schatten zu sehen.“ Amela tastete an der Stelle die Wand ab, als wäre sie eine Geheimagentin, auf der Suche nach einer versteckten Tür.

„Das war kein Bild von Maria.“
Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen. Wir blickten uns voll Schrecken an. Margit nickte mit dem Kopf in Richtung Durchgang, wir schlichen vorsichtig in den kleinen Nebenraum.
„Immer diese Maria. Der Spiegel …“ Mir kam die Stimme plötzlich bekannt vor, wie ein Echo aus längst vergangenen Tagen. Im schweren Lehnstuhl mit angestaubtem rotem Stoff saß sie, eine der beiden Klosterschwestern. Ein schwarzes Kopftuch umrahmte ihr Gesicht. Unzählige Falten formten eine Gesichtslandschaft, in der die Augen müde in zwei tiefen Löchern ruhten.
„Das Bild haben sie mitgenommen. Alle Bücher haben sie mitgenommen.“
Mich überraschte die Frische und Stärke ihrer Stimme. Sie passte so gar nicht zu ihrem Äußeren. Als hätte ihr Körper seine Kräfte für diesen Moment aufgespart.
„Warum sind Sie hier? Ganz alleine, hier auf dem Stuhl? Und wer hat das alles mitgenommen?“ Gerda fasste sich als Erste und deutete zu mir und Margit.
„Sie haben alle Bücher und alle Bilder mitgenommen. Alles. Nach so vielen Jahren hatten sie es doch herausgefunden. In diesem Kloster hielten sich zwei Beginen verborgen.“ Sie grinste schelmisch. „Wir hatten die Missbräuche im Heim öffentlich gemacht. Die Ordensleitung bekam Wind davon und begann heimlich mit ihren Untersuchungen. So entdeckten sie das Bild.“
„Aber was hat es mit dem Bild auf sich?“
„Es zeigt Margareta Porete mit der kindlichen Welt im Arm.“
„Margareta Porete, von der hab ich schon gehört. Die wurde doch als Ketzerin verbrannt?“ Amela kam nun auch in den Raum und ging auf die alte Frau zu.
Diese nickte und schloss ihre Augen, als hätte sie die ganze Kraft wieder verlassen. „Sie meinen, dieses Kloster ist der letzte Ort, der im Geiste der Beginen geführt wird?“ Sie blinzelte zu Amela, die eben die Frage gestellt hatte, und schüttelte den Kopf.
„Nein, nein. Geführt wurde das Kloster von den Franziskanern. Aber das wisst ihr doch. Das ist ein Franziskanerkloster.“ Dann verstummte sie wieder für einen Moment.

„Wir Beginen haben keine Klöster. Wir lebten zwar auch in Gemeinschaften, aber ohne dieses ganze kirchliche Zeug. Nur um den Verfolgungen zu entgehen, entschieden wir in den Klöstern der katholischen Orden unterzutauchen. Das begann vor gut 500 Jahren. So müsst ihr euch das vorstellen.“ Sie öffnete kurz die Augen. „Schwester Magdalena und ich waren die letzten dieser Kuckucksnonnen.“ Sie lächelte abermals. „Wir leben zwar in Klöstern, aber wir sind nicht dumm. Wir sind frei.“

„Ah ja, frei im Kloster“, ich konnte mich nicht zurückhalten.
„Es stimmt schon. Im Kloster gibt es eine Menge Regeln. Aber den Entschluss, sich daran zu halten, den treffen wir als Beginen. Wir haben keine Achtung vor dem Herrn.“
„Wir auch nicht“, erwiderte Margit, doch die alte Begine hatte sie nicht gehört und redete gleich weiter. „Unser Gott ist kein Herr. Wir haben unser Leben dem freien Geist und dem Wohl der Menschen verschrieben. Auf Dauer kann das keine kirchliche Ordnung akzeptieren. Bei der weltlichen ist es nicht anders. Dort wird es nur besser verschleiert.“
„Und deswegen haben sie die Bibliothek geräumt und das Bild mitgenommen? Das versteh ich nicht“, entgegnete Amela.
„Nicht deswegen. Es geht um die Vorstellung Gottes. Unsere ist anders. Wir sind befreite Seelen. Aber das versteht ihr nicht. Was aber Schwester Magdalena und ich herausgefunden haben, das könnte euch vielleicht interessieren.“
Aufrecht saß sie in ihren alten Lehnstuhl und nickte langsam mit dem Kopf. Wie hielten den Atem an.
„Aus dem Kloster soll kein Altersheim werden, sondern ein Konferenzzentrum. Mit Hotel, versteht sich, und dem ganzen Drumherum. Parkplatz, direkte Autobahnabfahrt, mitten durch die Wiesen und …“
„Das sind die letzten Feuchtwiesen dieser Gegend. Dagegen müssen wir etwas unternehmen“, rief Gerda dazwischen. „Diese Gauner. Im Gemeinderat haben sie nur von der Umwidmung des ehemaligen Klosters gesprochen. Es soll der Allgemeinheit zugutekommen“, Amela stampfte auf vor Zorn. Margit berief einen Kriegsrat für den nächsten Stammtisch ein. Die alte Schwester lächelte nur.

Als ich am Ende der Woche wieder abreiste, kamen meine drei Freundinnen zum Hotel, um meinen Mann und mich zu verabschieden. Wir scherzten viel, und ich sah dieses Leuchten in ihren Augen. Wie damals, als wir gegen das Kraftwerk kämpften. „Die gute Energie ist zurück“, sagte Margit, als sie mich umarmte. Ich freute mich für sie. „Die gute Kämpferinnenenergie“, erwiderte ich. Sie erzählten mir, dass sie eine große Konferenz planten und sich die Schwester sogar bereit erklärt habe, mit ihnen am Podium zu sitzen. „Das Kinderheim und das Konferenzzentrum, jetzt legen wir los. Die werden sich wundern“, meinte Amela. Ich nickte ihr lächelnd zu. Auf dem Weg zum Bahnhof kam eine leichte Wehmut in mir auf. Zweifellos hatte ich mich in dieser Woche gut erholt, ich spürte, wie meine Kraft zurückgekehrt war. Aber diese gute Energie, diese Kämpferinnenenergie war nicht zu spüren.

 

Lektorat: Yael Inokai und Eva Schörkhuber

Prosa#6PS