Carolin Krahl im Video-Gespräch mit Lina Muzur, Andreas Fanizadeh und Yael Inokai

 

„Es hat auch Nachteile, dass manches heute wie ein Komet am Himmel startet und dann wieder runterfällt.“

Carolin: Das Prosadebüt! Ich möchte ganz offen anfangen und euch fragen: Was fällt euch als erstes dazu ein?

Andreas: Lina, möchtest du?

Lina: Ja, was mir als erstes einfällt: Es ist irgendwie spannend. Lacht. Ich verbinde das Debüt mit Spannung und Neugier, weil es ja das erste Werk ist, das in die Welt hinaus entlassen wird. Und da ist es total interessant, worüber die Autorin oder der Autor schreibt und welche Form er oder sie dafür wählt. Es gibt wahnsinnig spannende Debüts. Die besten sind natürlich die, die eine neue Welt eröffnen, eine neue Figur einführen oder eine ganz neue Form finden, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen. Das Zweite, was mir einfällt, ist, dass man bei einem Debüt immer mitliest, dass es ein Debüt ist. Das ist auch Teil meiner Arbeit, dass ich weiß, mein Verlag bringt auch Debüts und wir brauchen die auch.

Andreas: Ja, wenn ich jetzt anschließe … Es ist immer ein bisschen schwierig mit dieser digitalen Gesprächsführung, da Lebendigkeit reinzubekommen …
Jedenfalls hab ich überlegt: Was waren denn in der letzten Zeit so Debüts, die einem in Erinnerung blieben? Da muss ich sagen, die sind sehr unterschiedlich. Zum Beispiel Birgit Birnbachers „Ich an meiner Seite“, das war ein Debüt, was mir persönlich als sehr stark in Erinnerung geblieben ist. Und dann gab es noch ein ganz anderes, vor Jahren, das auch mit Klagenfurt verknüpft ist – was interessant ist, warum diese Preise und Wettbewerbe vielleicht manchmal wirklich Sinn machen –, ein Debüt von Eugen Ruge, „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Das sind zwei ganz unterschiedliche Biografien und Charaktere. Ruge ist schon, ich sag mal: ein reiferer, älterer Herr gewesen zu dem Zeitpunkt, und er wurde Buchpreisträger. Birnbacher kannte praktisch niemand. Und das sind ganz unterschiedliche Phänomene zweier geglückter Debüts, die auch literarisch sehr verschieden sind und mich beeindruckt haben. Dann gibt es noch den internationalen Markt. Das literarische Schaufenster, das ist ja nicht nur Deutschland und junge Autorinnen oder Autoren. Geovani Martins aus Brasilien mit „Aus dem Schatten“, bei Fischer verlegt, zum Beispiel. Ein literarisches Debüt eines ganz jungen Brasilianers, der hier in Deutschland über die Favela vermarktet wurde, der aber ein großer Poet ist, bei dem das Thema Favela gar nicht so plakativ im Vordergrund steht. Aber der Verlag sucht natürlich nach einem Weg, wie er es überhaupt verkaufen und vermarkten kann – Brasilien, Favela, junger Mann.
[Pause]
Das Debüt ist für uns als Kritiker oder für dich [an Lina] aus der Profiperspektive etwas anderes als für Leser und Leserinnen. Die Kritik hat ja eine Aufgabe, und die ist eine andere, sollte zumindest eine andere sein, als sie der Verlag hat. Der Verlag denkt, da gibt es Publikum für. Und wir, die Kritiker, versuchen, das Ding wirklich zu bewerten.

Lina: Ich denke da auch an die Zukunft. Wir Lektorinnen und Verlegerinnen sehen nicht nur das eine Buch, sondern stellen uns die Frage, was wir uns von einer bestimmten Autorin oder von diesem Autor in Zukunft erwarten. Vielleicht sind wir mit dem Erstling nicht hundertprozentig einverstanden, aber sehen das Potenzial und wollen die nächsten Werke bei uns haben, beziehungsweise gehen das Risiko ein, zu gucken, wie sich die jeweilige Person künstlerisch entwickelt. Es gibt auf jeden Fall ganz viele Unterschiede zwischen einem Kritiker und einer Lektorin, wie wir auf die Bücher drauf gucken. Aber ich würde schon sagen, dass beide Seiten den Debüts einiges verzeihen, weil sie einfach wissen, es ist das erste Werk, es kann nicht vollkommen sein.

Andreas: So diplomatisch gehe ich oft gar nicht vor, muss ich sagen. Weil, das ist klar, im Verlag schätzt man …

Lina: Lacht.

Andreas: … die Entwicklungsmöglichkeiten. Wir in der Kritik sind schon ein bisschen unhöflicher und direkter und sagen: Muss das jetzt wirklich sein? Wir werden ja auch zu … Also, wir kriegen die Produkte von sehr vielen Verlagen, sehr viele Debüts. Lacht. Und die Notwendigkeit oder Dringlichkeit stellt sich manchmal aus Sicht der Kritik anders dar als verlegerisch.

Lina: Es gibt auf jeden Fall zu viele Debüts. Das liegt daran, dass man als Verlag permanent in neue Autor_innen investieren und an die Zukunft denken muss. Andererseits ist es auch so, dass Debüts zu einem deutschsprachigen Gegenwarts-Programm dazu gehören. Je nach Verlag wird das unterschiedlich gehandhabt, aber die meisten haben pro Programm ein bis zwei Plätze für Debüts reserviert. Es wird überproduziert. Wenn man‘s realistisch betrachtet, kann es gar nicht so viele gute Bücher im Jahr geben oder so viele Neuentdeckungen, wie produziert werden.

Andreas: Es gibt …

Carolin: Moment, ich würde noch die Runde fertig machen, bevor wir schon so tief reingehen, und noch Yael als Autorin fragen, was ihre ersten Gedanken zum Prosadebüt sind.

Yael: Als ich meinen Debütroman veröffentlicht hatte, wusste ich überhaupt nicht, dass es so ein Ding ist, das Debüt. Ich dachte: Man fängt irgendwie an. Man schreibt ein erstes Buch, und dann guckt man mal, was so passiert. Ich wusste überhaupt nicht, dass es da so einen … ich nenn es jetzt mal Hype gibt, oder dass das so eine fixe Größe im Literaturbetrieb ist. Und zum Glück wusste ich das nicht. Zum Glück hatte ich überhaupt keine Ahnung, was da alles möglich ist – und dann vielleicht auch nicht eingetreten ist. Ich konnte hier einsteigen [hält die Handkante in Höhe des Brustkorbes], unten im Literaturbetrieb, und dann langsam, langsam … Heute habe ich das Gefühl, viele starten mit ihrem Prosadebüt an einem ganz seltsamen Punkt im Literaturbetrieb. Wisst ihr, was ich damit meine?

Carolin: Dass es ein sehr aufgeladenes Konzept ist, mit hohen Erwartungen?

Yael: Ich stelle mir zumindest manchmal die Frage, je nachdem, wie man in den Literaturbetrieb eintritt, ob man sich als Autorin überhaupt einen Gefallen damit tut.

Carolin: Mich würde an der Stelle interessieren, ob ihr im Laufe eurer Tätigkeit oder auch eurer Beobachtungen des literarischen Geschehens eine Veränderung festgestellt habt in der Beachtung, der Wertigkeit dieses Begriffs ‚Debüt‘.

Andreas: Es ist klar, in der jetzigen Zeit der Corona-Krise ist es ganz schlimm für Debüts, die im Frühjahr geplant waren. Alles war vorbereitet und dann kommt diese Krise, die Veranstaltungen finden nicht statt, das trifft natürlich weniger arrivierte Autorinnen und Autoren in der Regel stärker und negativer als einen schon arrivierten Menschen. Für die, die zum ersten Mal am Start sind, ist das Live-Event eine irre wichtige Geschichte. Das wird nicht alles nur im Internet stattfinden, das glaube ich nicht. Sowas wie die Leipziger Buchmesse ist für neue Autoren wirklich eine große Bühne, eine große Chance. Denn Literatur wird nicht mehr so wie früher als Buchstabenwerk ganz alleine und für sich hermeneutisch gelesen und verkauft, sondern es kommt zunehmend auf die Personen an, die auch in der Lage sein müssen, ihr Werk an die Leute zu bringen. Der Markt lebt von Live-Erlebnissen. Es gibt eine erstaunliche Zunahme von Festivals, Lese-Events. Das ist für Debütanten und Debütantinnen eine sehr wichtige Voraussetzung, um heute erfolgreich zu sein

Lina: Es ist vollkommen klar, dass Autor_innen es schwer haben, ihr Leben zu finanzieren. Aber es gibt inzwischen viele Debütpreise, Debüt-Lesungsformate, es wird den Debütantinnen und Debütanten geholfen, mit ihrem Werk ans Publikum zu gehen und vielleicht auch durch Stipendien und Preise ein bisschen Geld zu bekommen, um weiter zu schreiben. Das sind Dinge, die es teilweise noch nicht so lange gibt. Aber was Andreas gesagt hat, dass inzwischen von den Autoren und Autorinnen erwartet wird, dass sie sich vors Publikum stellen, dass erwartet wird, dass sie gut lesen, dass sie gut performen, eine gute Figur machen, das hat sich total zugespitzt und war früher nicht so. Da hatte man das Verständnis von einem Künstler, der an seinem Werk arbeitet und nicht unbedingt der beste Kommunikator sein muss.
Jetzt in der Corona-Krise ist es tatsächlich für die Debüts besonders schwer. Man kann zwar für die Preise einreichen, aber die Lesungen sind weggefallen, die Aufmerksamkeit, und dadurch, dass die Feuilletons auch mit anderen Dingen beschäftigt waren, wurde anfangs nicht so viel besprochen.

Carolin: Und im Verlag selbst? Es gibt ja viele Verlage, die das Herbstprogramm gekürzt haben, um etwas vom Frühjahr nachzuholen.

Lina: Wir haben ein paar Titel verschoben. Zum Beispiel die Titel, die im Mai hätten erscheinen sollen, da haben wir gedacht, es hat keinen Sinn, die jetzt auf den Markt zu bringen, da wird nicht viel passieren. Die haben wir auf den Herbst verschoben. Die kleineren Verlage setzen teilweise ganz mit ihrem Herbstprogramm aus und bringen noch einmal das Frühjahrsprogramm heraus. Was wir außerdem sehen konnten an den täglichen Absatzzahlen war, dass sich tendenziell andere Bücher verkauft haben als sonst. Nicht nur Neuerscheinungen, sondern erstaunlich viele Bücher aus der Backlist, gut erzählte Bücher, in die man so hineinfallen kann, die man auch zur Ablenkung lesen kann. Ich fand das interessant. Auch, um einmal nachzudenken über die Mühle, in der man sich befindet, in der es darum geht, dass immer neue Bücher produziert werden müssen. Dabei gibt es ja schon so viele tolle Bücher, die wenig Aufmerksamkeit kriegen, aber es geht immer weiter und weiter und weiter, das ist – ja, manchmal ein bisschen zermürbend.

Andreas: Die Beobachtung habe ich auch gemacht …

Lina: Ah ja!?

Andreas: … dass zu Klassikern gegriffen wird, oder: „Wollt ich schon immer mal lesen!“Aber insgesamt wird in der Krise weniger gelesen als man gedacht hätte. Also die Leute, glaube ich, sind mehr auf Netflix. Ich habe auch viele gehört, die gesagt haben: „Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren in dieser Situation.“

Lina: Das ging mir selbst auch so, um ehrlich zu sein.

Carolin: Wo wir gerade bei Klassikern waren: Wir haben uns ja bewusst als Redaktion für das Prosadebüt als Thema entschieden. Letztlich auch, um der Wirklichkeit Rechnung zu tragen, die wir analysieren wollen. Denn bis heute ist es ja so: Ich muss gar nicht Prosadebüt oder Debütroman sagen, damit wir im literarischen Bereich, wenn ich Debüt sage, alle an Prosa denken. Bis heute gibt es einfach ganz viele Formen, die gar nicht unter Debüt fallen. Der eigentliche Eintritt in diesen Betrieb, die Initiation, geschieht nach wie vor über den Roman, oder?

Lina: Das ist bei uns schon so üblich. In den USA zum Beispiel ist das ganz anders. Da ist es immer noch so, dass zuerst Erzählungen erscheinen und dann kommt der Roman. Aber klar, bei uns wird eigentlich ein Roman erwartet.

Andreas: Ich kann das bestätigen. Lyrik-Kritik findet in den Feuilletons so gut wie nicht mehr statt. Das kann man uns jetzt an den Kopf werfen, es ist aber eine Reaktion auf die schlechte ökonomische Situation. Es stimmt auch, dass in der Krise weniger besprochen wurde, viel weniger, weil die Feuilletons in den letzten Jahren geschrumpft, zurückgefahren worden sind, weil die Möglichkeiten, von Kritik, als Kritiker oder Kritikerin zu leben, sehr viel schlechter geworden sind. Die Honorare sind mieser, dadurch, dass die gesamte Medienlandschaft in der Verwertungskrise ist: Print, das weiß jeder, hat ein Problem. Das Digitale ist ein noch viel größeres Problem, da wird nach wie vor kaum etwas erwirtschaftet oder viel zu wenig, und das schlägt sich negativ auf die Kritik durch. Darum wollte ich dieses Gespräch auch nutzen, um etwas anzusprechen: Eine unabhängige Kritik gibt es in meinen Augen immer weniger. Jetzt rede ich ein bisschen schlecht über meinen eigenen Berufsstand, aber wenn man so wenig verdient, wie man heutzutage in der Regel für eine Kritik bekommt, und so lange dafür arbeiten muss, dann kann sich das im Grunde niemand mehr leisten, wenn er nicht im Hintergrund ein bisschen Unterstützung – von den Verlagen – bekommt. Sie laden dann die Kritiker zu Moderationen ein und so weiter. Das ist gut, weil sie so etwas verdienen, aber der Kritiker, die Kritikerin ist heute auch ein Moderator oder eine Moderatorin. Und das hat natürlich auch Folgen für die Kritik. In der Corona-Krise wurde viel über die ökonomische Lage der Solo-Selbstständigen geredet. Ich bin ein angestellter Redakteur. Meine solo-selbstständigen Kollegen sind in einer sehr schwierigen Situation, und ich hoffe, dass auch ein größeres Nachdenken darüber stattfindet, wie man den Sektor der unabhängigen, freien Kritik stärken kann. Sonst gibt es den irgendwann nicht mehr. Dann ist er nur noch interessensgebunden. Aber ihr [zu PS] seid ja auch Kritiker_innen. Also, ihr müsst ja daran auch ein Interesse haben.

Carolin: Auf jeden Fall. Und ich denke, inwiefern sich über schwache, ökonomische Verhältnisse auf Seiten der Kritik und der Autor_innen die Marktmacht der größeren Verlage und der Erfolgstitel reproduziert, ist eine sehr wichtige Frage. Vielleicht spielt sie auch in etwas hinein, das ich spezifisch dich, Andreas, fragen wollte. Und zwar geht es um die Studie #frauenzählen. Ist die euch allen ein Begriff?

Andreas: Also, ich kenne jetzt direkt diese Studie nicht. Ich kann mir vorstellen, um was es geht, aber hilf uns doch. Oder mir.

Carolin: Es war eine Pilot-Studie, die festgestellt hat, dass allgemein an besprochenen literarischen Werken auf zwei männliche Autoren genau eine Autorin kommt. Im Bereich Krimi- und Sachbuch ist es noch wesentlich drastischer, da ist das Verhältnis fünf zu eins. Zudem besprechen Männer zu drei Vierteln wiederum Werke von Männern oder männlich gelesenen Personen, wobei wiederum wesentlich mehr männlich gelesene Personen überhaupt Kritiker sind. Wenn man das nun in Richtung Debüt denkt, sind das Mechanismen oder Missstände, die im Bezug auf die Besprechung gerade neuer Werke von FLINT Personen, aber sicher auch von Menschen mit Migrationshintergrund wirken. Gibt es da zum Beispiel in der taz Praktiken, dem zu begegnen?

Andreas: Wir haben verschiedene Selbstverpflichtungen. Wir versuchen, darauf zu achten. Ich glaube aber, dass das Problem inhaltlich größer ist, als du es jetzt angesprochen hast. Wenn man sieht, welche untergeordnete Stellung Kinder- und Jugendbuch zum Beispiel hat. Oder Comic. In dem Bereich versuchen wir, mit unseren Möglichkeiten dagegen zu arbeiten. Aber die ökonomische Marktmacht einer Zeitung wie der taz ist natürlich mini. Wir können mit Verlagen zusammenarbeiten, wo wir sehen, dass sie das anders machen. Es gibt große Verlage, die haben kaum Autor_innen – im Sachbuch-Bereich ganz schlimm. Wir besprechen von denen einfach weniger. Und wir reden intern darüber: „Sag mal, hast du jetzt nicht mal eine Historikerin zu dem Thema? Schreiben nur Männer über Geschichte?“ Aber wir können auch nicht alles ignorieren, was der Markt uns bietet. Wir sind auch immer ein Spiegelbild davon. Wir können insofern darauf reagieren, als dass wir dezidiert viele Autorinnen haben. Bei uns schreiben schon sehr viele Autorinnen. Ich kann jetzt dir [zu Carolin] keine Statistik hinlegen, aber ich hoffe, dass du mich nicht eines Besseren belehren wirst. Es wird ja auch behauptet, wir würden nur noch nach Themen und Repräsentationen gehen. Ich sehe das nicht so, denn es gibt unabhängig von Geschlecht und der Herkunft hochstehende literarische Produkte. Also da müsste man halt über Qualitätskriterien reden.

Carolin: Lacht. Jaja, die Qualität und „die Anderen“, das ist immer so eine Frage …

Andreas: Als ich an die Universität ging und fragte: „Warum gibt es keinen von meiner Sorte hier?”, sagten sie: „Naja, da fehlt der Hintergrund und so. Da ist halt das Abitur nicht gut genug gewesen, nicht?“ Das ist die Schutzbehauptung.

Carolin: Wir haben schon über eine Zunahme der Erwartung an die Selbstdarstellung der Autor_innen gesprochen. Aus meiner Sicht ist es inzwischen fast ein Zwang zur Selbstdarstellung. Und auch das fällt für weiblich gelesene Personen, für PoC, Menschen mit „anderem“ Hintergrund schwerer ins Gewicht. Yael, wie war das bei deinem Debüt, und was beobachtest du unter Menschen um dich, die schreiben, in Bezug auf diesen Zwang zur Performance?

Yael: Also, ich vergleiche das manchmal so: Als ich nach Berlin gezogen bin, waren die Mieten schon hoch.

Carolin: Lacht.

Yael: Lachend. Ich hatte nie das Gefühl, dass Berlin eine billige Stadt ist. Viele Autor_innen in meinem Umfeld kennen auch den Betrieb gar nicht anders. Mein Debüt kam vor acht Jahren raus, da war es noch ein bisschen anders, da waren auch die sozialen Medien noch nicht so ausgeprägt wie heute. Ich weiß nicht einmal, ob es damals schon sowas wie Instagram oder Twitter gab. Meistens versuche ich, es sportlich zu sehen, was nicht heißt, dass ich es nicht kritisch sehe. Ich versuche, einzuschätzen, was ich geben kann und was nicht. Für mich ist zum Beispiel klar, ich will nicht auf Facebook sein. Das stresst mich. Das will ich nicht geben. Oder ich will nicht meine Emailadresse irgendwo im Netz haben. Ich will nicht, dass mir irgendwelche Leute schreiben. Aber ich versuche immer, ein bisschen abzuwägen, wozu ich bereit bin. Mir kommt natürlich zugute, dass ich ein Fundament habe. Ich habe meine zwei Bücher veröffentlicht, deshalb stehe ich da auch auf ein bisschen sicherem Grund.

Carolin: Es ist zweischneidig. Letztlich ist die Selbstinszenierung und Inszenierung einer bestimmten Identität durchaus auch immer eine emanzipatorische Strategie gewesen, etwa von LGBTIQ. Die Frage ist, wie sich das verschiebt, wenn es zu einem Standard für alle Autor_innen wird, sich mit einer gewissen Identität auf einem Markt zu produzieren. Das Immer-Neue des Debüts und der Identitätspool, aus dem wir uns bedienen, das hängt meiner Ansicht nach zusammen. Aber ist nicht dieses Neue eine ewige Wiederholung und selber schon zu einem Klischee erstarrt?

Lina: Es muss halt nicht sein. Ich fände es erfrischend, wenn viel mehr Autor_innen sagen würden: Ich mach da nicht mit. Ich will es ganz anders haben. Von Elena Ferrante weiß kein Mensch, wie sie aussieht, und sie hat nichts von all dem gemacht. Das funktioniert natürlich nur in Ausnahmefällen. Nicht jeder kann sagen: „So, ich versteck mich und zeige mein Gesicht nicht.“ Aber trotzdem finde ich, es sollte kein Zwang herrschen, weder ein äußerer noch ein innerer. Weder vom Verlag, noch dass man denkt, man müsste bestimmte Sachen machen. Ich habe viele Autor_innen, die mich fragen: „Muss ich jetzt auch auf Instagram präsent sein? Verkauft sich mein Buch nicht, wenn ich das nicht mache?“ Ich glaube das nicht. Vielleicht bin ich da noch zu blauäugig und naiv, aber ich glaube, dass jeder den Weg wählen muss, der für sie vertretbar und authentisch ist, nur dann kann es funktionieren.

Andreas: Ich würde unterstützen, was Lina sagt. Und Elena Ferrante ist wirklich ein gutes Stichwort. Ich finde, ein sehr bemerkenswertes Phänomen ist auch, dass diese grandiose italienische Autorin den Umweg über New York gehen musste. Dass erst die dortige Literaturkritik ihr Werk adeln musste, damit die deutschen Verleger die Rechte eingekauft haben.

Lina: Es haben alle abgesagt, ja. Das gibt es wirklich oft, sowohl bei internationalen als auch bei deutschsprachigen Büchern, dass sich die Verlagsbranche einig ist, dass man das nicht machen kann, oder nicht machen will und sich irgendjemand dann irgendwann doch traut. Und dann wird das erfolgreich und die Presse feiert es. Das hängt am Ende auch mit den Personen zusammen, die diese Entscheidungen treffen …

Andreas: Jetzt ist der Empfang schlecht von Lina.

Lina: Die Entscheidung, welche Bücher man einkauft für sein Programm, ist am Ende wahnsinnig subjektiv. Man versucht, nicht subjektiv zu sein, aber es ist am Ende immer subjektiv.

Carolin: Ich würde gerne noch etwas Provokantes in den Raum werfen. Eine These: Wenn ich mir anschaue, wie der Markt so funktioniert, dass er relativ gesättigt ist, dass es neue Formen braucht, um so ein Produkt zu platzieren, dann könnte es doch sein, dass der Begriff Debüt primär ein Marketingkonzept ist, mit dem bestimmte, auch alte und überkommene Vorstellungen einhergehen, nämlich, dass nicht nur der Inhalt jung und frisch ist, sondern im Zweifelsfall auch die Autorin. Außerdem: Das Debüt ist definitiv nichts kollektiv Verfasstes, und es ist auch nichts im Selbstverlag Publiziertes. Von diesen Rahmenbedingungen her ist das, was wir uns vorstellen, wenn wir Debüt hören, etwas Konventionelles. Wie würdet ihr darauf reagieren, wenn ich sage: Das Debüt ist ein reiner Marketingbegriff und konservativ.

Andreas: Lina?

Lina: Ich kann erahnen, was du meinst. Aber so richtig nachvollziehen kann ich es nicht. Du meinst, die Tatsache, dass man verlangt, es muss immer ein Roman sein, die Tatsache, dass man die Autoren so in Szene setzt, dass die halt so präsent sein müssen, die Tatsache, dass man das Debüt nennt, ist eine große Marketingsache, die auch ganz anders ablaufen könnte? Ich weiß nicht. Ein bisschen was ist da vielleicht dran, aber ich würde das nicht so ins Negative rücken, denn ganz egal, wie viel man drumherum veranstaltet, bekommen die Debütant_innen immer noch eher zu wenig Aufmerksamkeit als zu viel. Es ist selten, dass durch diese ganzen Instrumente Debüts zu Bestsellern werden. Außer sie bekommen den Deutschen Buchpreis. Es ist wichtig, Debüt-Autor_innen zu fördern, ihnen zu ermöglichen, von ihrem Schreiben zu leben, damit sie weiter schreiben können. Nee, ich wüsste nicht so richtig, was negativ daran sein könnte. Das ist vielleicht bei anderen Verlagen anders, aber bei uns als Autor_innenverlag geht es tatsächlich um das Gesamtwerk des jeweiligen Autors, der Autorin. Da ist es eben wichtig, dass das Debüt funktioniert. Früher hat man es den Debüts verziehen, wenn sie sich kaum verkauft haben und kaum Aufmerksamkeit bekommen haben. Die Autorinnen und Autoren hatten viel mehr Zeit, sich zu entwickeln. Es war nicht so ein Druck auf den Debüts. Das hat sich auf jeden Fall verändert, aber das liegt daran, dass sich der ganze Markt verändert hat. Die Verlage sind in Nöten, ebenso die Buchhandlungen – alle sind in Nöten. Also ist es total wichtig, dass man nicht erst zehn Jahre warten muss, bis Autorinnen und Autoren einigermaßen Erfolg haben. Sondern man tut alles, damit sie sich etablieren werden. Es geht gar nicht um hohe Verkaufszahlen. Zu denen kommt es selten. Es geht darum, dass sie ankommen im Betrieb. Und wenn wir das als Verlag schaffen, sind wir schon mal beruhigt und freuen uns auf das nächste Werk.

Carolin: Ich sehe das Positive, was du gesagt hast, und auch die schlichte Notwendigkeit in der ökonomischen Realität, mit der wir konfrontiert sind. Aber weil du gerade fragtest, was daran negativ sein könnte – zum Beispiel, dass aus diesem Bild Autor_innen, die sehr viel später zu schreiben beginnen, rausfallen.

Lina: Naja, Andreas hat ja am Anfang ein paar Beispiele genannt, an denen man gemerkt hat, dass die Debüts sehr unterschiedlich sind. Natürlich denkt man, wenn man ans Debüt denkt, womöglich an eine Initiationsgeschichte, an eine Geschichte vom Erwachsenwerden – aber das ist gar nicht unbedingt der Fall. Ich glaube, dass es total schwierig ist, das so zu vereinheitlichen. Gerade die Debütant_innen, die spät ihr erstes Buch veröffentlichen, sind besonders interessant, weil sie aus der Norm fallen. Zum Beispiel eine 60-jährige Dame, die ihren ersten Roman schreibt, das fände ich sehr interessant. Die Frau hat womöglich vier Kinder großgezogen, hatte nie Zeit, und irgendwann, als die aus dem Haus waren, konnte sie ein Buch schreiben!

Carolin: Mh. Ja?! Vielleicht ist das interessant aus Autorinnensicht: Ich selber war nicht an einer Schreibschule, kenne aber viele, die dort waren, und es gibt da durchaus diese Form der Vermittlung: Über 35 musst du nicht mehr anfangen, spute dich!

Lina: Jaja, den Druck gibt es auf jeden Fall. Einige Literaturpreise sind ja auch explizit nur für Schriftsteller_innen, die ein bestimmtes Alter noch nicht erreicht haben, klar.

Andreas: Gegen gutes Marketing kann es ja ernsthaft nichts einzuwenden geben. Aber gutes Marketing setzt voraus, dass es keine Vorurteile bedient, auch keine biopolitischen. Man muss kein Deutschlandanhänger sein, um zu sagen, dass der europäische Buchmarkt, spezifisch der deutsche, sehr divers ist. Der bietet viele Möglichkeiten, es gibt sehr viele Verlage, und es gibt viel mehr Nischentitel, als aus den Nischen angefordert werden. Es ist nicht verwerflich, wenn man versucht, eine junge, afrikanische Autorin hier gut zu vermarkten, und wenn es ein alter Herr aus Nigeria ist, auch kein Problem. Das funktioniert schon. Aber die Leute müssen es wollen. Das Publikum muss dann auch seinen Beitrag leisten, und auch mal ein Buch kaufen. 1000 Verkäufe machen in den kleinen Segmenten schon fast einen Mini-Bestseller.

Carolin: Was wäre denn eure Idealvorstellung von dem Prozess des ersten Buches? Was könnte besser laufen? Und was wäre die Utopie?

Yael: Ich sag immer, bei jeder Veranstaltung gibt es mindestens eine sehr nette Person. Aber wenn man nicht drin ist, ist man nicht drin. Mir ist zum Beispiel passiert, dass ganz viele Leute, die ich bei meinem ersten Buch schon einmal kennengelernt hatte, sich mir neu vorgestellt haben, als mein zweites Buch rauskam,. „Freut mich total, Sie kennenzulernen!“ Und ich so: „Ja, wir kennen uns schon.“

Carolin: Also, letztlich würdest du dir wünschen, dass es mehr Begegnung, vielleicht auch Solidarität unter Schreibenden gibt? Dass sie sich nicht nur als Konkurrenz auf Wettbewerben begegnen?

Yael: Ja, oder dass es einen Konsens gäbe, dass halt nicht alle aus der gleichen Richtung kommen und auch nicht mit den gleichen Parametern vertraut sind.

Carolin: Lina, gibt es Dinge, die für dich als Lektorin, als Verlagsfrau, am Debütprozess verbesserbar wären? Die du gern anders erleben und machen würdest?

Lina: Es ist tatsächlich so eine Maschinerie, aus der Debüts entstehen. Es gibt natürlich die Agenturen, und es gibt die Schreibschulen, und es gibt nur sehr wenige Autoren, die nicht in diesem System drin sind, die nicht bereits auf einer Schreibschule waren, ein Stipendium hatten und von einer Agentur angeboten werden. Ich hab überhaupt nichts gegen die Schreibschulen, da können wirklich tolle Bücher entstehen und tolle Autor_innenpersönlichkeiten – das ist es nicht. Ich möchte das für mich so gestalten, dass es verschiedene Wege gibt, Autorinnen und Autoren zu finden. Ich möchte diese Wege nutzen und hoffe, dass ich nicht irgendwann anfange, es mir zu leicht zu machen, indem ich einfach nur auf das reagiere, was mir die Agenturen schicken. Weil das irgendwie langweilig wäre.

Andreas: Ich finde, unser medialer Prozess ist offener geworden: Es gibt nicht mehr nur die Rezension, sondern auch das Interview, das Hintergundgespräch. Debütantinnen und Debütanten hilft das, denn wenn sie neu sind, muss man mit ihnen reden. Ich sehe das nicht als eine negativen Form des Marketings, sondern als offenere, demokratischere Art zu rezipieren, weil die Kritik nicht mehr auf so einem hohen Ross sitzt. „Das Werk und ich“, wie das früher war, das halte ich für konservativ. Jetzt schaut man sich im Entstehungsprozess die Produzentin oder den Produzenten eines Werkes auch an, spricht mit denen darüber, also holt Hintergrund ein, nicht nur seine eigene Perspektive. Darin sehe ich einen Öffnungsprozess, der, wie Yael sagt, natürlich nicht jede Person gleichermaßen erfassen kann. Wo sehr viele am Start sind, da musst du halt irgendwie durchkommen, Gerechtigkeit kann nicht sein, dass alle gleichermaßen partizipieren, so wird das nicht funktionieren, denn das lebt über Ausschlusskriterien, sonst wird ja das Publikum überschwemmt. Und du als Autorin auch. Es hat auch Nachteile, dass manches heute wie ein Komet am Himmel startet und dann wieder runterfällt. Aber ist ja nicht schlimm.

Carolin: Mhm. Ich sag nicht, dass das der Standard ist, aber dadurch, dass sehr viel über Image funktioniert und eben auch äußerst unterschiedliche Marketingbudgets vorhanden sind, die wiederum für bestimmte Menschen ausgegeben werden, sich dann auch in Vorschüssen niederschlagen etc., kann es schon sein, dass es zu solchen Kometendebüts kommt – und dann zum Absturz. Und andersrum: Wer startet überhaupt so gut wie nie? Für Autor_innen bedeutet das existenziell jedenfalls eine Menge. Aber eigentlich wollte ich mit der Utopie schließen! Lacht. Oh … Meine Internetverbindung ist instabil. Hört ihr mich noch?

 

Lektorat: Carolin Krahl und kaśka bryla

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