Kopieren und Einfügen im Tertiärsektor

 

Wie jedes Mal, wenn ich durch die Ladentür trete, drohe ich für einen Moment von der unerbittlichen Ladenbeleuchtung und dem Surren, Piepen und Rauschen der Maschinen überwältigt zu werden. Eine Umgebung, wie man sie im Inneren eines Raumschiffs erwarten würde. Aber wie an jedem Arbeitstag akzeptiere ich sie als meine Gegenwart, als hätte die Zeit zwischen meinem letzten Dienst und dem heutigen nie existiert. Die Spätschicht beginnt, Zeit zum Kopieren und Einfügen.

An einer der Kopiermaschinen an der Fensterfront hebt sich ein Arm, um wie ein Ausrufezeichen im Betriebssystem eines Computers ein Problem zu signalisieren. Der zu dem Arm gehörende Mann dreht sich Hilfe suchend um, bis seine Augen mich finden. Ich bin bereits auf dem Weg.
„Ich will das so haben, dass es so aussieht wie das hier.“ Er wedelt mit mehreren Blättern Papier, einem Krankengeld- oder Rentenbescheid, vor meinen Augen herum.
„Kein Problem.“ Ich zeige ihm auf dem Display des Selbstbedienungskopierers die Einstellung für doppelseitiges Kopieren. „Die hier entfernen Sie lieber“ – ich deute auf die Heftnadel an der linken oberen Ecke des Amtsbriefbündels – „wenn Sie die Blätter in den automatischen Papiereinzug legen wollen.“ Er atmet genervt aus. „Kein Problem. Ich übernehme das für Sie.“
Wegen seiner Ungeduld entferne ich die Heftnadel ohne Hilfsgerät mit den Fingern. Als mir eines der spitzen Metallenden unter den Nagel fährt, sollten die getroffenen Nervenenden meinem Gehirn eigentlich einen unglaublichen Schmerz melden. Aber ich bin nur die Kopie eines Menschen, deshalb zeigt mein Gesicht keine Regung.
Ich drucke in Klein- und Kleinstauflagen Dinge wie Flyer und Broschüren, bedrucke T-Shirts, Tassen und Schlüsselbänder, erstelle Kopien von Dokumenten und helfe anderen dabei, selbst Kopien zu erstellen. Was niemand weiß: Ich stehe ihnen dabei auch nur als Kopie zur Seite.
Irgendwann habe ich es mir angewöhnt, mein Original hinten im Mitarbeiterbereich zu lassen, versteckt unter den Jacken, Mänteln und Taschen. Die Kopie sieht genauso aus wie das Original. Wenn sie durch physischen und psychischen Verschleiß unbrauchbar geworden ist, mache ich einfach eine neue, so dass niemand den Unterschied merkt, weder Kunden noch Kollegen oder der Chef. Die neue Kopie fügt sich genauso gut ein wie die alte.

In der Zwischenzeit hat sich an der Kasse eine kleine Schlange gebildet. Automatisch begrüße ich die hereingekommenen Leute und verteile Nummern für die Selbstbedienungskopierer und -PCs. Ich kassiere die Leute ab, die ihre Aufgaben für heute erledigt haben, und verabschiede sie.
Als es ruhiger wird, schaue ich mich im Laden um. An einer der hinteren Maschinen ist ein Stammkunde wie so oft dabei, Magazinartikel in 120-prozentiger Vergrößerung zu kopieren, um sie lesbarer zu machen. Das ist für einen älteren Herren nichts Ungewöhnliches. Seine mitgebrachten Magazine jedoch sind Nischenprodukte, im Zeitschriftenhandel in der Abteilung Pseudowissenschaften und gesellschaftspolitische Verschwörungstheorien zu finden. Der Ernst und die Gewissenhaftigkeit, mit der er stets vorgeht, erzeugen den Eindruck, als besäßen die vergrößerten Kopien für ihn einen noch höheren Wahrheitsgehalt.
Da ich per Mitarbeiter-Handbuch dazu angehalten bin, im Umgang mit den Kunden freundlich zu sein, aber unbedingt die Distanz zu wahren, habe ich mich nie nach dem Namen des Mannes erkundigt. Der Einfachheit halber nenne ich ihn in meinem Kopf Professor Paranoia.
Müde vom heutigen Kopiermarathon steht Professor P. nun an der Kasse. Die Magazine hat er in einem Stoffbeutel mit Streublumenmuster verstaut, den Stapel frischer Kopien hält er in der Hand. Mit seinen letzten Energiereserven wendet er sich an mich: „Haben Sie davon gelesen, wie sie sich immer weiter unter uns ausbreiten?“ Als ich zögere, fügt er schnell hinzu: „Die Echsenmenschen meine ich.“
„Ach so. Ich habe davon gehört. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie existieren.“
Er starrt mich unverwandt an, dann nimmt er zwei Blätter vom Stapel seiner Kopien und legt sie mir auf die Theke. „Ich habe Ihre Skepsis geahnt und Ihnen einen sehr aufschlussreichen Artikel dazu mitkopiert. Man kann nie wissen, wann sie einen ersetzen werden. Morgen zum Beispiel kann es sein, dass man denkt, Sie stehen hier, aber in Wirklichkeit wurden Sie über Nacht ausgetauscht.“
Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas dagegen hätte, plötzlich und unbemerkt ersetzt zu werden. Dankend nehme ich die Blätter und deponiere sie im Regal unter der Kasse. Ich nenne dem Professor den Preis für die Kopien, er zahlt und wir verabschieden uns.

Später am Abend ist er wieder da, in der letzten Stunde, in der wir zusätzlich zur regulären Arbeit die Papierkörbe leeren, die Tische aufräumen und den Kassenabschluss vorbereiten. Der Professor sorgt dafür, dass ich meinen Platz an der Kasse nicht verlassen kann. „Als ich vorhin von meinen Erledigungen hier zurückgekommen bin, war ich mir sicher, dass jemand während meiner Abwesenheit in meiner Wohnung gewesen sein muss.“
„Aha?“
„Sie suchen Beweise, sammeln Indizien, Hinweise, irgendetwas, aus dem sie etwas konstruieren können, das mich zu Fall bringt.“
„Wer denn?“
„Es gibt Leute, die beobachten mich Tag und Nacht. Ich weiß das genau. Sie haben sich auch in der Wohnung gegenüber eingemietet. Wenn ich aus dem Haus gehe, folgen sie mir.“
Ich sehe kurz durch die Fensterscheibe, kann allerdings nichts erkennen, weil sich nur der hell erleuchtete Raum, in dem wir uns befinden, darin spiegelt. Aber auch Professor P. schaut sich gehetzt um.
„Irgendwann werden die mich im Schlaf umbringen. Weil ich zu viel weiß.“
„Machen Sie sich nicht so viele Sorgen.“ Unauffällig sehe ich auf meine Armbanduhr. Bis Ladenschluss warten auf mich noch die Hardcover-Bindung einer Masterarbeit in fünffacher Ausführung und der Druck von Broschüren für einen Resilience & Empathy-Coach.
„Die Ergebnisse meiner Nachforschungen könnten vielen wichtigen Leuten da oben gefährlich werden. Deswegen wollen sie mich mundtot machen. Oder ganz beseitigen.“
„Meinen Sie nicht, dass sie Ihnen nicht schon längst etwas angetan hätten, wenn sie das wirklich wollen würden?“
Professor P. verlagert unschlüssig sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Dann bemerkt er, dass hinter ihm jemand bezahlen möchte, und rückt zur Seite. Während ich kassiere, verschwindet er wieder. Für einen Moment denke ich, was wäre, wenn er Recht hätte, und dies das letzte Mal gewesen ist, dass ich ihn lebend gesehen habe.
Vielleicht hätte mir meine eigene Unversehrtheit mehr Sorgen bereiten sollen. Als ich am nächsten Tag vor Schichtbeginn die drei Stufen hinauf zum Eingang des Ladens ansteuern will, kollidiere ich auf dem Gehweg beinahe mit einem vorbeirasenden Radfahrer. Im Gesicht spüre ich den wütenden Geist des Luftzugs, den der Essenslieferant hinterlassen hat. Mit dem Schrecken davongekommen, blicke ich ihm ohne nachzufluchen hinterher – ein Nichtangriffspakt zwischen uns Bediensteten im Tertiärsektor, unterbezahlt und unterhalb unserer Fähigkeiten arbeitend.
Am Abend ist Professor P. wieder da. Er humpelt mit Hilfe einer Krücke die Eingangsstufen hinauf. Fast frage ich ihn, ob ihn ein Essenslieferant erwischt hat. Dann erinnere ich mich an die Anweisungen in unserem Handbuch. Das Betriebssystem, unter dem ich hier funktioniere. Eine Maschine unter anderen Maschinen. Also begrüße ich ihn nur und frage, was er tun möchte.
„Kopieren“, verkündet er und schleppt sich zielstrebig an den Kopierer mit der Nummer, die ich ihm genannt habe, nicht zu weit weg von der Theke, um ihn nicht zu quälen. Meine Kollegin verdreht die Augen. Sie ist heute sehr dünnhäutig, weil ihr der Chef am Nachmittag eine Predigt gehalten hat. Ein schwieriger Kunden hat eine unangenehme negative Bewertung im Internet hinterlassen und ganz unverkennbar war sie diejenige, die ihn bedient hat. Schatten um ihre Augen und den Mund berichten von ihrer Angst, durch jemand anderen ersetzt zu werden.
Professor P. kommt zurück an die Kasse und lehnt seine Krücke an die Theke, um in seinem Beutel nach dem Geld zu angeln. „Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Vor dem Haus stand ein weißer Kleintransporter ohne Beschriftung. Ich weiß, dass sie da drin gesessen und mein Knie mit Mikrowellen bestrahlt haben. Die ganze Nacht lang. Kaum laufen kann ich heute.“
Woher nur stammt sein Misstrauen? Warum fühlt er sich krank, von einer unsichtbaren Macht bedroht?
„Vielleicht geht es ihnen nur darum, zu testen, wie viel Strahlung ich aushalten kann. Vielleicht planen sie Experimente an mir, vielleicht sogar an Bord ihres Raumschiffs.“
Verfügen Echsenmenschen eigentlich über eine UFO-Flotte? Meine Kollegin kann mir nicht helfen, sie ist nach hinten verschwunden, um zu telefonieren. An der Theke stehen nur Professor P. und ich. Um uns rauschen und piepen die Maschinen.
So passiert es, dass ich mich für einen Moment den Anweisungen des Mitarbeiter-Handbuchs widersetze. Ich frage den Professor: „Haben Sie denn niemanden, bei dem Sie vielleicht für eine Weile unterkommen können? Jemanden aus ihrer Familie zum Beispiel? Nur solange, bis die Echsenmenschen das Interesse an Ihnen verloren haben.“
„Ach! Die bringen mich alle noch um den Verstand mit ihrer Unwissenheit. Deswegen haben wir keinen Kontakt mehr. Aber meine Cousine hinterlässt mir ständig Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, ich solle mich mal wieder melden. Die ist einfach naiv.“ Er ist aufgebracht, ganz anders als sonst. Bekräftigend schüttelt er den Kopf. „Keiner von denen wird je kapieren, in welcher Gefahr wir schweben. Und der kann man auch nicht so einfach entkommen…“ Seine Stimme zittert.
Der Boden auch. Verwundert sehe ich zu meinen Füßen hinab. Tatsächlich, der Boden bebt und schwankt. Ein paar der Lichter beginnen zu flackern und ein ohrenbetäubender Lärm erhebt sich über das Rattern der Maschinen. Zum Schutz klammern wir uns fest, der Professor an der Theke, ich am Tisch dahinter. Werbeposter und Preistafeln werden zerfetzt, als vor unseren Augen die Wände bersten. Putz und Ziegel weichen glänzendem Metall, das sich dröhnend um uns schließt. Die neue Struktur hält uns wie in einer Kapsel gefangen. Mit einem lauten Ächzen reißt sie sich aus ihrer Verankerung, kreischend, wie bei einer Geburt.
Professor P. humpelt alarmiert an eines der neu entstandenen Fenster. Ich folge ihm über den wankenden Boden und presse mein Gesicht an das Glas. Die Kapsel erhebt sich. Unter uns liegt die Straße, ein Loch in der Häuserzeile, in dem sich gerade noch unser Teil des Ladens befand. Ruckartig schwanken wir im Flug nach links und verfehlen dabei nur knapp die Häuser gegenüber, dann geht es nach rechts und immer höher.
Ich nehme den Arm des Professors, damit er nicht umfällt, mit der anderen Hand halte ich mich an der Fensterumrahmung fest. Wie ein kleiner Junge lacht er. „Endlich, endlich bin ich über allem! Endlich ist Schluss mit absehbaren Fahrplänen.“
„Wieso Fahrpläne?“, frage ich.
„Am Anfang wollte ich es mit meiner Arbeit bei den Verkehrsbetrieben zu irgendetwas bringen. Vom Geld, das ich verdiente, habe ich mir fast nichts gekauft, weil ich keinerlei Leidenschaften hatte. Nur meine Arbeit, die Fahrpläne, Umleitungen und Ersatzstrecken für die U-Bahn haben mich interessiert.“ Im Dunkeln unter uns wird die spiegeleiförmige Ansammlung von Lichtpunkten der Stadt immer kleiner. „Selbst meine Frau habe ich irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Deshalb begann ich nach unserer Scheidung mit meinen Nachforschungen über alles, was im Verborgenen liegt. Am Anfang stand ich vielem skeptisch gegenüber. Irgendwann erschien mir manches plausibel. Bis es keinen Weg mehr heraus gab, wie ein Zug, der gezwungen ist, im ewig gleichen Netz zu fahren. Vielleicht habe ich diesen Weg aber jetzt gefunden.“
Ist es möglich, dass dieses Flugobjekt nur wegen des Professors erschienen ist? Weil er es herbeigesehnt hat? Ich sollte beunruhigt sein, aber offenbar ist mir meine Fähigkeit, die Gegenwart so zu akzeptieren, wie sie ist, auch jetzt nicht abhandengekommen.
Die Stimme des Professors klingt klar und bestimmt, als er fragt: „Meinen Sie, wir können herausfinden, wie man dieses Schiff hier steuert?“ Er sieht hinüber zum Arbeitstisch. Dort blinken nun Konsolen mit kleinen Knöpfen und Hebeln und ein Bildschirm zeigt ein verkleinertes Abbild der Topographie unter uns mit einer Reihe von sich dauernd verändernden Koordinaten.
„Das kommt auf einen Versuch an. Wo soll es überhaupt hingehen?“
„Wissen Sie, Ihre Frage vorhin hat mich auf eine Idee gebracht. Warum fliegen wir nicht zu meiner Cousine? Sie wohnt in der Nähe von Hamburg, das müssten wir von hier oben selbst in der Finsternis erkennen.“
Ich überlege kurz, dann nicke ich. Auch auf die Gefahr hin, unzählige Regeln des Mitarbeiter-Handbuchs brechen zu müssen, lasse ich mich vom Entschluss, die Distanz bis zur Cousine des Professors heute Abend noch zurückzulegen, nicht mehr abbringen. Meinen Job habe ich wahrscheinlich ohnehin verloren.

 

Lektorat: Kaśka Bryla & Yael Inokai

Prosa#6PS