Das Ende vom Anfang

 

Acht Jahre nachdem ich meinen Kringel unter den Vertrag für Storchenbiss gesetzt hatte, unterschrieb ich noch einmal für meinen Debütroman: Ja, ich bin mitten in der einsetzenden Pandemie auf dem Zollamt gewesen. Nein, ich habe kein Fieber. Nein, ich war nicht in einem Hochrisikogebiet. Nein, ich kenne niemanden, der an Corona erkrankt ist. Gezeichnet, Yael Inokai.

Ich war da, um vierzehn Exemplare meines Erstlings zu retten. Storchenbiss war 2012 in der Schweiz erschienen und hatte sich dort mäßig bis gar nicht verkauft. Ein Großteil seiner Erstauflage hielt seither im Bücherlager des Rotpunktverlages Dornröschenschlaf – 2020 sollte es damit vorbei sein. Das war mir in einem Brief mitgeteilt worden, der mit der jährlichen Abrechnung meines zweiten Romans ins Haus geflattert war. In behutsamem Tonfall stand da: Es tue dem Verlag außerordentlich leid, aber der Lagerraum sei begrenzt, und da müsse nach einigen Jahren stets aussortiert werden. Storchenbiss fiele nun unter jene Aussortierung. Man habe den Titel dem Modernen Antiquariat angeboten, aber es habe leider kein Interesse gezeigt. Man müsse die Restbestände makulieren1. Sollte ich noch ein paar Exemplare haben wollen, ich erhielte sie gratis, müsse nur den Versand bezahlen. Der Titel bliebe lieferbar.

Nun waren die Bücher am Zoll hängen geblieben. Den Beamten erschien es verdächtig, dass der Wert des Paketinhaltes mit 0 Euro angegeben worden war. Mehrfach erklärte ich, dass diese Bücher tatsächlich nichts mehr wert seien, sie wären geschreddert worden, hätte ich sie mir nicht zusenden lassen. „Gar nichts?“ „Nein.“ – „Warum wollen Sie die dann?“ – „Ich hab sie geschrieben.“ – „Sie haben die geschrieben?“ – „Ja.“ – „Und warum sind die dann nichts mehr wert?“ – „Weil sie niemand gekauft hat.“ – „Und dann sind die gleich nur 0 Cent wert? Na so was.“

Schlussendlich entließ man mich ohne zusätzliche Gebühren. „Ich kann das also mitnehmen?“, fragte ich den vierten und letzten Beamten. „Ist ja nichts wert“, erwiderte er emotionslos. So spazierte ich mit meinem Debüt nach Hause. Ich musste an eine Freundin von mir denken, die unlängst gesagt hatte: Alle reden übers Essen, aber fast niemand übers Scheißen. Und ich dachte, ich würde den Prozess des Debüts gerne mal vom anderen Ende aus anschauen.

Bücher werden eingestampft. Andauernd. Davor wurden sie gedruckt, auf Messen präsentiert, per Vertreterïnnen durchs Land geschickt, auf dass diese sie an die Buchhandlungen bringen. Manche fallen schon früh aus dem Rennen; das Interesse der Messebesucherïnnen bleibt aus, die Buchhandlungen wollen sie nicht oder viel weniger davon als erhofft. Andere haben einen etwas längeren Schnauf und erweisen sich erst im Verkauf selbst als Ladenhüter. Es spielen eine Vielzahl an Faktoren mit: Verlage hatten auf Kritikerïnnen gehofft, die sich aber nicht beeindrucken ließen. Der Zeitgeist hat sich plötzlich gewandelt, und ein Berliner Stadtflaneur ist als Sujet nicht länger gefragt. Viele, unendlich viele Bücher erscheinen in kleinen Verlagen, denen nur wenig Werbung möglich ist, werden nicht gesehen und gehen einfach unter im Meer der Neuerscheinungen. Manche größere Verlage haben wiederum zu mutig gerechnet, eine immense erste Auflage gedruckt, die sie nicht loswerden können. Und dann gibt es noch Dinge, die sind vollkommen jenseits. Wie Corona.

Was fast alle diese Bücher eint, ist, dass sie vor dem potenziellen Einstampfen erst einmal dem Modernen Antiquariat angeboten werden. Das ist eine geradezu poetische Bezeichnung für den Ramscher – wie auch die Makulatur eine edlere Umschreibung des Schredderns ist. Ramschen und Schreddern, wer will das denn im Literaturbetrieb auch hören? Viel lieber lässt man die Leute und sich selbst im Glauben, Bücher würden gedruckt, verkauft, und wenn sie niemand mehr kaufen will, druckt man sie eben nicht mehr nach.

Ab achtzehn Monate nach Erscheinen eines Buches kann die Buchpreisbindung aufgehoben und das Buch mit einem beliebigen Preis versehen zurück auf den Markt geworfen werden – die Arbeit des Ramschers2. Mit verramschten Büchern wird gehandelt wie mit Dingen aus einer Wohnungsauflösung: Ist noch ein bisschen was wert, irgendjemand wird das noch haben wollen. So werden die Bücher übers Internet verkauft, durch Kataloge, in Discountern und auf Grabbeltischen. Ramscher haben übrigens ihre eigenen Buchmessen. Ob es da Lesungen gibt, habe ich noch nicht rausgefunden.

Mein Buch wollte auch der Ramscher nicht. Ich versuche das natürlich nicht persönlich zu nehmen. Ich würde mich gern mit der Tatsache trösten, dass das Buch – auf das ich nun eben so stolz bin, wie die meisten Menschen auf Dinge stolz sind, die sie mit einundzwanzig geschrieben haben – immerhin im Äther verschwunden ist. Und dann auch noch mit anderem Namen! Yael Pieren, wer ist das? Aber nein, da hat mein Verlag vorgesorgt. Mein Buch bleibt lieferbar, was nämlich auch bedeutet, dass der Verlag die Rechte daran behält. Sollte ich je ein Hit werden, würde man es sofort aus dem Giftschränkchen holen und neuauflegen können.

Das darf nicht falsch verstanden werden. Ich mag mein Debüt. Es ist ein Anfang. Manchmal kommt es mir so vor, als sieht das der Betrieb gar nicht, und neue Stimmen werden wie Kometen über den Himmel gejagt, nur um bald darauf wieder abzustürzen.

Ich mag auch den Verlag, der mein Buch gemacht hat, ohne darauf zu pochen, dass es marktkompatibel sein muss. Mit zweiundzwanzig hätte ich das nicht für möglich gehalten. Zu dürftig sah meine Ausbeute als Jungautorin bis dato aus: Gewonnene Wettbewerbe: 0. Gleich zwei Absagen vom Literaturinstitut Biel – dabei hatte ich mich nur einmal beworben. Von den angeschriebenen Literaturzeitschriften entweder keine Antwort oder eine sehr ausführliche Absage, mit Verweis darauf, dass eine Figur einen Konflikt brauche, und man als Leser mit ihr mitfühlen müsse, sonst interessiere einen das nicht. Zudem hatte ich kaum Kontakte zu anderen Schreibenden; ich lebte in einer kleinen Stadt, Social Media war noch kein Thema. Dass ein Verlag nun also mein Buch drucken wollte?3 Wahnsinn. Ich unterschrieb den Vertrag im Rekordtempo. Das Einzige, was ich überprüfte, war, ob der Verlag Geld von mir wollte.

Wollte er nicht.

Ich habe das Gefühl, es geht oft unter, dass die meisten Debütprozesse so sind: still, ohne Aufhebens, ohne dass die Autorïnnen in die Nähe jener Debütpreise kommen, die in den vergangenen Jahren aus dem Boden geschossen sind. Die wenigsten kriegen enormeVorschüsse gezahlt. Ich habe gar keinen erhalten, sondern 10% pro verkauftes Exemplar. Das ist Durchschnitt. Lyrikerïnnen bekommen für ihre Debüts meist nicht einmal das.

Es gab nur im ersten Jahr ein Plus hinter der Zahl auf meiner Abrechnung. Weil Buchhandlungen auf Kommission kaufen, gehen nicht verkaufte Werke wieder an die Verlage zurück. Remittende wird das genannt und hat in meinem Fall dafür gesorgt, dass in den Jahren nach der Veröffentlichung von Storchenbiss stets ein Minus in meiner Abrechnung stand. Darauf, den geschuldeten Betrag einzufordern, hat mein Verlag dankenswerterweise verzichtet.

Ich war damals froh um die Handvoll Lesungen, die ich hatte. Auch wenn ich vor einer Lesung einmal nach einem Kaffee gefragt und dann freundlich ein Nein bekommen hatte; „der ist nur für Autorinnen und Autoren.“ Auch wenn ich danach alleine mit meiner Lektorin herumstand, die treu zu mir hielt und jedes Mal klaglos den mitgebrachten Stapel Storchenbiss wieder einpackte. Denn auch das war ein Anfang, ein erstes, behutsames Fußsetzen in den Literaturbetrieb mit all seinen Absurditäten. Und das Schöne am fehlenden Erfolg war, dass ich das unbeobachtet und unkommentiert machen konnte.

Ich denke, vielen geht es wie mir. Die Aufmerksamkeit für ihr Buch bleibt erst mal aus. Sie hoffen weiter für ihr Werk, dass die ein oder andere Person es noch finden, noch kaufen möge. Bücher können viele Leben haben, denkt man als Autorin gern. Aber ich glaube, da lügt man sich in die Tasche. Am Ende der meisten Debütprozesse steht der kleine Punkt, über den man sich im Vertrag erschreckt hat – Verramschung, Makulatur, was ist das, besser nicht beachten. Und ein Buch, das die Bühne betreten hat, tritt wieder ab, mit all den Hoffnungen, finanziell, emotional, all den tausenden Stunden Arbeit, oft unterbezahlt, oft gar nicht bezahlt.

Makulatur sollte also das Schicksal von Storchenbiss sein. Vom Ramscher abgelehnt, brach mein Debütroman auf seine letzte Reise auf: zum Schredder4.

Der Journalist Nicol Ljubic hat seinen Erstling in einem sehr schönen Artikel von 2010 dabei begleitet5: Mathildas Himmel ist in Dockweiler bei der Eifel zu Dämmmaterial verarbeitet geworden. Geschreddert, zyklomiert, in der Papiermühle aufgeschlüsselt, mit Brandschutzmitteln angereichert hat man das Debüt in Papiersäcke geblasen, auf dass es Heizenergie minimiere. Die Chefin der Firma erzählt, wie sie auf Buchmessen gemieden wird, als sei sie eine Totengräberin. Und dass manche Leute nur Dämmmaterial wollen, in dem die Bild-Zeitung nicht mit drin ist. Ljubic hat übrigens weitergemacht und eine Vielzahl anderer Bücher geschrieben. Mathildas Himmel war für ihn wohl auch: ein Anfang.

Ein bisschen klamm ums Herz wird mir beim Gedanken daran, dass Storchenbiss genauso unsentimental mit einem Teppichmesser aufgeschlitzt wurde, weil man die Deckel nicht recyclen kann. Und dass er dann in die Häckselmaschine geworfen wurde, die ihn, haps-haps, einfach verschlungen hat. Mehrere hundert Mal. In absehbarer Zeit wird vielleicht jemand in einem energetisch sanierten Haus leben, es wird ihm muckelig warm sein im Winter – weil mein Debütroman in seinen Wänden hockt.

Vierzehn Exemplare habe ich davor bewahrt. Sie lagen wochenlang in ihrem Karton, den ich von einer Ecke in die andere schob. Als notorische Ausmisterin stieß mir der Anblick meines eigenen Werkes als potenzieller Staubfänger ziemlich auf. Ich überlegte ernsthaft, zumindest ein paar Exemplare bei eBay anzubieten. Die Vorstellung, wie dann trotz fairem Angebot von einem Euro wochenlang die Nachricht: „Ihr Artikel wurde noch nicht verkauft“ in mein Postfach flattert, schien mir allerdings einen Hauch zu masochistisch. Einen Storchenbiss habe ich in die Bücherbox getan, die bei mir um die Ecke steht. Zwischen Werken wie: Kleine Tyrannen – Kinder überleben oder Jahrbuch der Autoren 1993 habe ich ihm ganz gute Chancen ausgerechnet. Fünf Wochen harrte er da. Letzten Dienstag hat dann endlich jemand zugegriffen.

 

Lektorat: Carolin Krahl & Olivia Golde

 

1 Wo kommt dieses Wort her? Klingt ein bisschen wie eine sonderbare Sexualpraktik. Meine Nachforschungen offenbarten aber einen anderen Hintergrund: maculatura steht im Mittellateinischen für „beflecktes, schadhaftes Stück“.
2 Meist gehört das „Moderne Antiquariat“ zu einem größeren Unternehmen, was mit gebrauchten Büchern handelt. Da gibt es auch Dinge wie Bücher zum Meterpreis, was das Autorinnenherz gleich nochmal zum Bluten bringt.
3 Ich hatte mein Manuskript unverlangt eingeschickt. Dass man das nicht machen sollte, habe ich wie so einiges im Literaturbetrieb glücklicherweise erst danach gelernt – der Verlag meldete sich nämlich einige Wochen später mit der Nachricht zurück, dass er mich gerne als Autorin hätte.
4 Um noch einmal zur Wohnungsauflösungsanalogie zurückzukommen: Erst geht das gute Buch, was aus dem Handel und / oder Verlagslager geflogen ist, also zum Trödel (Ramscher), und wenn das nix wird zum Recyclinghof (Makulatur).
5 https://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-recycling-mein-buch-wird-das-weltklima-verbessern-1.896734-0

Essay#6PS