Dies ist keine Übung. Debüts und Literaturinstitute
In ihrer Kurzgeschichte Coming of Age in Karhide skizziert Ursula K. Le Guin eine utopische Verlaufsform sexueller Erregung. Sobald dieselbe die sonst begierdefreien Bewohner:innen der Stadt Rer ereilt, bieten sich ihnen zwei Möglichkeiten, mit ihr umzugehen: Sie können sich einer einzigen Person verpflichten, mit der sie jedes Mal gemeinsam die Zeit des Verlangens und der emotionalen Unordnung verbringen. Oder sie begeben sich während dieser Zeit des ›Kemmerns‹ in ein kommunales Kemmerhaus. Die androgynen Bewohner:innen nehmen hier eine Identität als Frau oder als Mann an. Dabei ist es relativ dem Zufall überlassen, welches Geschlecht sie annehmen – nämlich dem Zufall, zu wem sich die ins Kemmerhaus eintretende Person als erstes hingezogen fühlt. Etwas weniger zufällig ist, ob zwei miteinander schlafende Personen ein Kind zeugen. Allen Geburten, die auf das Kemmerhaus zurückgehen, folgt ein Aufwachsen in einer Gemeinschaft, einer ›Herde‹, in der lose zwischen Gebärmuttergeschwistern und anderen Geschwistern unterschieden wird. In der Geschichte wird deutlich, dass das Aufsuchen des Kemmerhauses auch etwas mit einem niedrigeren sozialen Status einer Herde zu tun hat. So beschreibt Le Guin, wie sich die Älteren in einer Herde verhielten, wenn sich ein junges Mitglied verliebte und einer einzelnen Person Kemmer versprechen wollte, statt monatlich das Kemmerhaus zu besuchen. Sie rügten das jüngere Mitglied: »Was denkst du, wer du bist, jemand Vornehmes? Jemand Besonderes? Das Kemmerhaus war gut genug für mich, und es ist gut genug für dich.«
Die Lesenden der Geschichte begleiten den Teenager Sov beim Erwachen des sexuellen Verlangens, dem pubertäre Verzweiflung und schließlich der erste Besuch im Kemmerhaus folgen. Sov nimmt eine Identität als Frau an und erlebt eine Zeit, in der anfängliche Scheu und Sorge vollster Zufriedenheit weichen. Das Kemmerhaus verwandelt einen für Sov unerträglichen Zustand in vollendeten Genuss.
Für diesen Text möchten wir Sov nicht als pubertierende, sondern als schreibende Person denken, die in eine Welt nicht des sexuellen Verlangens, sondern der Autor:innenwerdung blickt. Ganz unähnlich erscheinen uns die Zustände nicht. Beide triefen vor Mythologisierungen, falschen Vorstellungen und der Unmöglichkeit, sich in einen geordnet ablaufenden Prozess zwängen zu lassen. Zudem laufen sowohl das Finden des eigenen Begehrens als auch das Finden der eigenen Autor:innenidentität nicht bewusst und zielgerichtet ab, sondern über Handlungen und Sinneseindrücke, die sich in den Körper einschreiben und ihn schließlich zu einer Figur formen, die sich in der entsprechenden Welt bewegen kann, ohne sich unbedingt bewusst sein zu müssen, welche Normen und Werte ihren Bewegungen zugrunde liegen. Und zu guter Letzt kann (muss jedoch nicht) etwas Handfestes, können ein oder mehrere Produkte aus diesem Prozess entstehen, Kinder oder Veröffentlichungen, auch wenn die Wege der Empfängnis und des »Austragens« sich dann doch erheblich unterscheiden.
Diese Analogie funktioniert auch, weil seit den 1990er Jahren eine Institution im deutschsprachigen Raum existiert, die sich mit dem Kemmerhaus vergleichen lässt: Studiengänge oder ganze Institute, die Eintretende nicht nur bei der Textproduktion, sondern auch beim Zurechtfinden in der textproduzierenden Welt unterstützen. Analog zum Kemmerhaus lassen sich die Literaturinstitute als ein Ort fassen, der vor allem den »nicht vornehmen« aspirierenden Schreibenden Hilfe bieten kann: denjenigen, die qua Elternhaus oder qua gesellschaftlicher Rolle weniger Zugang zu den Zaubersprüchen, Tinkturen und Tänzen haben, die Schreibende zu Autor:innen machen. Schreibschulen wohnt also immer etwas Utopisches inne – sie lassen sich als ausgleichende Konstrukte denken, die ein meritokratisches Denken im Literaturbetrieb überhaupt möglich machen.
Anders als beim Kemmerhaus, das jede Person als Erwachsene:r verlässt, lässt sich über den Status derjenigen, die eine Schreibschule verlassen, diskutieren. Ist doch die Autor:innenschaft ein Zustand, der nach ganz unterschiedlichen Kriterien zu- oder abgesprochen werden kann; Kriterien, zu denen nicht der Hochschulabschluss zählt, sondern viel eher diejenigen Beglaubigungen, die im literarischen Feld von Wert sind: Publikationen, Preise, Stipendien, Porträts im Feuilleton, Lesungen.
Über diesen Umweg erhält das Debüt auch in Schreibschulkontexten seine Wichtigkeit. Bei einer kleinen, subjektiven Umfrage unter prosaschreibenden Alumni, die wir für diesen Text durchführten, gaben fast alle Antwortenden an, dass zu ihren Studienzeiten das gedruckte Buch etwas war, auf das sie und ihre Mitstudierenden hingefiebert hatten. Analog zum Literaturbetrieb wird also auch von den Studierenden der Literaturinstitute das Debüt als eine Art Eintrittskarte in den »eigentlichen« Literaturbetrieb verstanden, als »Beweis dafür, dass man Qualitäten besitzt, die zum Leben als Autor:in qualifizieren«, wie Alina Herbing es ausdrückt. Stefan Mesch, mit Diplom im Kreativen Schreiben, aber ohne Debüt, benennt seinen Status entsprechend: »Überall, wo ›Schriftsteller:innen‹ Statements liefern, Zeitfragen beantworten, Buchtipps geben, um Poetiktexte und Essays gebeten werden, fühle ich mich als Hochstapler. Ich schreibe zwar wirklich fast jeden Tag an Prosa – doch den Verlagen, dem Buchhandel, der Kritik, den Leser:innen und, vor allem: dem Markt stellte ich mich noch nicht.«i
Die Dichterin und Performerin Martina Hefter, die in den wilden Jahren, als das Deutsche Literaturinstitut Leipzig noch keinem formalisierten Curriculum folgte, dort studierte und mittlerweile sowohl in Leipzig als auch in Wien lehrt, hat den Eindruck, dass die Erwartungshaltung in Richtung Debüt vor allem von den Studierenden selbst ausgeht. Dennoch lassen sich auch auf der institutionellen Ebene der Schreibschulen Spuren des Debütpreisens ausmachen. So neigen die Institute dazu, den bücherschreibenden Alumni mehr Sichtbarkeit zu geben: Im Eingangsbereich des DLL beispielsweise stellen gläserne Vitrinen die Druckwerke der Studierenden wie Museumsartefakte aus. Jährlich findet in demselben Saal zur Buchmesse eine Veranstaltung statt, bei der die aktuellen Debütant:innen aus ihren Erstlingen lesen. Und die letzte größere Publikation am Literaturinstitut Hildesheim bat zum 25-jährigen Jubiläum des Instituts ausschließlich veröffentlichte Alumni um Beiträge. Die Literaturinstitute spiegeln hier die Normen und Werte des Literaturbetriebs, mit dem sie verwoben sind – und in dem sie sich letztlich auch selbst immer wieder legitimieren müssen.ii
Der Stellenwert des Debüts als Legitimation der Autor:innenschaft ist nur ein Teil dessen, was in den Schreibschulen vermittelt wird. Neben dem Handwerk des Schreibens sind es immer auch die Normen und Werte des Betriebs, die die Studierenden hier lernen. Selten geschieht dies als expliziter Curriculum-Inhalt. Verbreiteter ist die Variante, anhand der lehrenden Schriftsteller:innen, diskutierten Berichterstattungen und anderen Beobachtungen mimetisch zu lernen, das hießt, die vorgelebten Werte und Normen zu inkorporieren und mit der eigenen Identität zu verschmelzen. Schreibschüler:innen erhalten nicht nur Feedback auf ihre Texte. Mit der Zeit bekommen sie auch eine immer präzisere Ahnung davon, wie sich die Texte in Kombination mit dem eigenen Auftreten als Autor:in in der Öffentlichkeit generieren werden.
Sovs Erlebnisse während des Kemmerhausbesuchs lassen sich als Utopie ebendieses Prozesses lesen. Hier wird die ängstlich Eintretende von den Erfahrenen liebevoll an die Hand genommen und achtsam in die Regeln des Kemmer eingeführt.iii Sie lernt in ihrem eigenen Tempo und bemerkt, dass Überschreitungen gar nicht erst entstehen, weil die Anwesenden sich gegenseitig beobachten und sie beschützen. Wichtiger noch: Sov lebt in einer Umgebung, deren Ungleichheiten einer anderen Logik folgen. Als androgyne Person macht Sov sich zwar Sorgen um die Veränderungen, jedoch nicht um die Attraktivität des eigenen Körpers – er scheint nicht als Merkmalsträger in hierarchischen Kontexten zu fungieren. Le Guins Coming of Age geschieht also in einer anderen Welt als das hiesige Coming of Author. Denn Schreibende treten mit spezifischen materiellen Bedingungen und Merkmalen in die Welt des Literaturbetriebs, die zu einem großen Teil vorstrukturieren, welche Autor:innenidentitäten ihnen angeboten werden.
Dabei wirken die Ungleichheiten auf mehreren, sich verstärkenden Ebenen: Während einige Schreibende auf der aus dem Elternhaus mitgenommenen Bildung aufbauen, müssen andere sich dieses Kapital erst erarbeiten. Während einigen eine ganze Bandbreite an Autor:innenidentitäten angeboten wird, aus denen sie frei wählen können, müssen andere sich damit auseinandersetzen, ob sie sich qua Kategorienzugehörigkeit in Schubladen stecken lassen möchten – »Autor:in mit Migrationshintergrund«, »Liebesroman-Autorin«, »Unterschichts-Autor« – und ihren Schreibstil und ihre Themenwahl auch immer dahingehend prüfen. Für die Eintretenden mit ihren unterschiedlichen Startchancen ergeben sich also unterschiedlich aufwendige Formen der Identitätsarbeit auf dem Weg zur »Autor:in«. Häufig geht die intensivere Identitätsarbeit mit einer größeren ökonomischen Unsicherheit einher, mit Gelegenheitsjobs, die zusätzlich von Schreiben und Identitätsarbeit ablenken. Außerdem kommen Schreibende mit weniger kulturellem Kapital, die kaum Kenntnisse über den Literaturbetrieb besitzen, tendenziell mit einem größeren Koffer voll Mythen über das Schriftsteller:innenleben ans Institut und müssen sich derer im Laufe des Studiums mühsam entledigen. Es ergibt sich eine ganz spezifische, traurige Form der Intersektionalität: Der Weg zum eigenen Debüt ist für die Schreibschüler:innen eines Jahrgangs mitnichten gleich lang.
Parallel zum Aufkommen der Schreibschulen begann eine Entwicklung im deutschsprachigen Raum, die tendenziell immer jüngere Debütierende der Öffentlichkeit präsentiert. Mit dem sinkenden Alter der »Nachwuchsautor:innen« steigt nicht nur der Druck auf die jungen Schreibenden, sondern auch die reale Möglichkeit, früh »entdeckt« und verlegt zu werden. Die Schreibschule ist also nicht nur ein geschützter Ort, in dem sich ästhetischen und identitätsstiftenden Fragen gewidmet werden kann, sondern immer auch Bühne, ganz ohne Simulation. Die Teilnahme an Nachwuchswettbewerben, öffentliche Lesungen, Veröffentlichungen in einschlägigen Zeitschriften, Anfragen von Agent:innen und Lektor:innen zählen zum Schreibschulalltag.iv Erfolge, die privilegierte Studienanfänger:innen tendenziell früher einfahren als ihre Mitstudierenden, schlagen sich nicht nur in besseren Noten nieder, sondern am »echten« Buchmarkt – und wirken auf »langsamere« Studierende im unmittelbaren Vergleich ganz real entmutigend.
So weit die Literaturbetriebslogik. Schreibschulen lassen sich hier als eine Institution unter vielen beobachten, die den herrschenden Normen und Werten verpflichtet sind und sie zugleich reproduzieren. Dennoch: Als irgendwie doch abgeschlossene Orte, als Austausch- und Reflexionsbecken bieten die Literaturinstitute ihren Mitgliedern auch Nischen des Widerstands, mit denen sich der Weg zur Autor:innenidentität umformen lässt – und damit auch der Weg zum und der Wert des Debüts.
Zunächst bietet sich die Möglichkeit der Abschottung. Ein Institut kann sich vom Literaturbetrieb so weit wie möglich fernhalten und seinen Schüler:innen bewusst einen Schutzraum bauen. Studierende, die ein Prosa-Debüt anstreben, können sich so zunächst in aller Ruhe mit ihrem Text beschäftigen, bevor sie sich mit ihrer Autor:innenidentität auseinandersetzen müssen. Ansätze dieser Prozesse lassen sich in Biel und Leipzig beobachten, wo die Textarbeit der Kern der Lehre ist. Die Aufnahme von Beziehungen zum Betriebssystem Literatur wird den einzelnen selbst überlassen, erzählt Donat Blum, der an beiden Instituten studierte und mittlerweile nach seinem Debüt Opoe (2019) auch lehrt. Rhea Krčmářová berichtet, dass auch in Wien der Wert des Experimentierens über den Wert des Kontakteknüpfens gestellt wird. Die Alumni dieser Studiengänge sprechen jedoch auch über die Gefahren, die eine solche Abschottung birgt. Nach dem Studium sind die Schreibschüler:innen auf sich allein gestellt und mit dem, was rund um das (mögliche) Debüt auf sie einprasselt, möglicherweise überfordert. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Autor:innenidentität wird so nicht verhindert, sondern nur verschoben auf einen Zeitpunkt, an dem sich bereits in einer größeren Öffentlichkeit zu ihr verhalten werden muss. Die wirkenden Hierarchien werden so zwar ausgeklammert, jedoch nicht zerrüttet.
Zweitens bietet sich den Literaturinstituten die Möglichkeit, dem Wunsch nach dem frühen Debüt eine alternative Wertelogik gegenüberzustellen. Sie können andere Wege des Schriftsteller:innendaseins, etwa als Lyriker:in, Performer:in oder Selbstverleger:in, preisen. Und sie können eine Haltung propagieren, die alternative Netzwerke wertschätzt und die Studierenden anleitet, literaturbetriebliche Institutionen nicht nach ihrem Prestige, sondern nach ihren eigenen Werten zu beurteilen. Vor allem in Wien, Hildesheim und Köln gibt es Ansätze, alternative Formen der »literarischen Lebensführung« zu erkunden. Doch auch hier folgt irgendwann der Schritt in die kalte Wirklichkeit, in der die Kunstformen sehr unterschiedliche Entlohnungsmöglichkeiten bieten – und er gestaltet sich umso schwieriger, je dünner die wärmende Privilegiendecke gestrickt ist.
Das Kemmerhaus, in dem Sov das einvernehmliche Begehren erlernt, steht in einer hierarchiefreien Welt. Ohne diese Voraussetzung hätte Le Guin ihrer Figur andere Erlebnisse einschreiben müssen, hätte Erlebnisse generieren müssen, die von machtvollen Zuschreibungsprozessen außerhalb des Kemmerhauses und ihren Entsprechungen im Haus selbst erzählen. Und so lässt sich auch ein Literaturinstitut nur als Ort betrachten, der mit den Normen und Werten des Literaturbetriebs verwoben ist. Als Ort, an dem es entsprechend wichtig ist, auf welche Personen ein:e Studierende:r trifft, mit welchen Normen und Werten sie:er in Berührung kommt. Denn letztlich sind es die einzelnen Begegnungen an ebendiesen Orten, die den größten Einfluss darauf haben, wie die Studierenden ihre Autor:innenidentität ausbilden. Es liegt an den Anwesenden (dem Lehrpersonal, aber auch den Studierenden selbst), den Wert, den der Gedanke an das Debüt für sie trägt, nach den zugrundeliegenden Zielen, Unsicherheiten und Nöten zu befragen – und gemeinsam mit den anderen Normen und Werten des Betriebs unermüdlich infrage zu stellen. Denn wo, wenn nicht dort.
Lektorat: kaśka bryla und Eva Schörkhuber
i Außer Alina Herbing und Stefan Mesch baten wir noch die Alumni Shida Bazyar, Donat Blum, Raphaela Edelbauer, Jessica Guaia, Martina Hefter und Rhea Krčmářová um ihre Einschätzungen bezüglich des Stellenwerts von Debüts im Kontext der Literaturinstitute. Wir bedanken uns herzlich für die ausführlichen und erhellenden Antworten.
ii So kämpfen die Literaturinstitute im deutschsprachigen Raum seit ihrer Entstehung gegen den Geist der Genieästhetik. Die zyklisch wiederkehrende abfällige Berichterstattung über die Schreibschulen und ihre Alumni hat Claudia Dürr in einem Beitrag zusammengefasst und untersucht, vgl. Claudia Dürr: „Schreiben lernen können aus Sicht des Feuilletons.“ In: Kevin Kempke / Lena Vöcklinghaus / Miriam Zeh (Hg.): Institutsprosa. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf akademische Schreibschulen. Leipzig: Spector Books (2019).
iii Da Sov als Frau kemmert, nutzen wir hier die weiblichen Pronomen.
iv Vgl. zum Scouten in den Literaturinstituten auch Katrin Zimmermann: „Von Kraken und Lentoren.“ In: Johanne Mohs / Katrin Zimmermann / Marie Caffari (Hg.): Schreiben im Zwiegespräch / Writing as Dialogue. Praktiken des Mentorats und Lektorats in der zeitgenössischen Literatur / Practices of editors and mentors in contemporary literature. Bielefeld: transcript 2019, S. 161-190.