Willst du Samba?

 
 

Tempi: Grenzen verschwimmen fließend auseinander

 
 

1a)

willst du Samba, bin ich Haiku
willst du Vernunft, bin ich Wein
willst du Fleisch, bin ich Gift
willst du Lachen, bin ich Beißen
willst du Leistung, bin ich Hängematte
willst du Ordnung, bin ich Chaos
willst du Familie, bin ich Begehren
willst du Eigentum, bin ich Tauschmarkt
willst du Namen, bin ich Frau
willst du Frau, bin ich Eunuch
willst du Eunuch, bin ich Lesbe
willst du Grenzen, bin ich Bolzenschneider
willst du Mord, bin ich Seerettung
willst du Polizei, bin ich Clown
willst du Pferde, bin ich Drachen
willst du Wüste, bin ich Berg
willst du Berg, bin ich Welt
willst du Welt, bin ich Linz
willst du Linz, bin ich Rio
willst du Rio, bin ich Mittelmeer
willst du Tod, schreie ich Leben
willst du Stille, bin ich Stimme
willst du mich, bin ich wir

1b)

Nichts Uriges … nichts Eigenes … nichts (Ein)Heimisches … (nicht in diesem Sinne) … kein Verdienst, wenn es darauf ankommt … steht es dir nicht zu, nicht mehr als allen anderen zumindest … lass die Ahnen schlafen … sie an ihrer Stelle, ich an meiner … es gibt genug Platz … hier auf der Erde … es liegt an uns … aber keinen Vorrang bitte, keine Vorrechte … warum auch? … die Ruderer haben die Kraft, lass uns also rudern … wir teilen das … über die momentanen, willkürlichen Grenzen hinaus … setze sie nicht … was dann? frage ich, was dann? … wenn das Tuch in der Hand liegt, zerfasert, zu spät, zu verknäult, um zusammengenäht zu werden … dann plötzlich sind überall nur Fahnen daraus, aus der früheren Seide, Fahnen gehisst im Namen des Stahls und der neuen Eingebildetheit …

dass man über allem steht, wenn man über nichts stehen darf…
dass man stark ist, wenn man schwach ist,
dass man das Recht dazu hat, wenn die anderen das Recht dazu haben,

hüte dich davor … vor dem abscheulichen Marsch … rufe die Luft zu dir, bevor sie stickig wird … bevor es mörderisch wird, sag:

wehe Wind, wehe

Und der Himmel klärt sich auf!

 
 
 

A)

Schlaraffenland ist jetzt in Gleichzeitigkeit mit dem Jetzt der Gewalt.

Schlaraffenland ist funk, Jelinek e Conceição Evaristo, bloco gay no carnaval, 8. März, Zapatistas, MST, donnerstagsdemo, ele não. Schlaraffenland ist cuceta. É Pedra Costa, Cusicanqui, Dandara.

Wir hören Schüsse.

Schlaraffenland ist Poesie, Granatapfel und ihr Saftblut durch meine Finger.

Wir hören Schreie.

Schlaraffenland ist eine schwarze queer-Person, die Samba zur Militärmusik tanzte, irgendwo, vermutlich in Brasilien. Schlaraffenland ist Willst du Samba, das daraus entstandene rewriting des Liedes von Caetano Veloso, auf der Donnerstagsdemo auf dem Ballhausplatz in Wien, 2018, vorzutragen. Und nicht allein zu sein.

Wir hören Erstickungen.

Schlaraffenland ist Eloína im Film República dos Assassinos. Subversion vorherrschender Narrative. Dramatischer Bruch der normativen Männlichkeit. Dichotomien und Ambivalenzen des Selbstschutzes und am Schluss der Triumph.

Wir hören Mord.

Schlaraffenland ist das Lied von Chico Buarque, die Rache der Travesti Eloína gegen den brutalen Polizisten im Film allegorisch begleitend.

Schlaraffenland ist diese Rache in das Jetzt der Gewalt in Österreich zu übersetzen.

Auf dem Himmel trotzen verlorene Kugeln.

Polizist*innen, milicianos, Bürgerwehr, Stadtwache, Soldat*innen

zerstreut, einsam, promenieren verirrt den abscheulichen Marsch.

 

Б)

Einmal wollte ich einen Essay übers Versagen schreiben – ich war der Überzeugung, dass die Erfahrung des Versagens zentral für das literarische Können sei. Vielleicht für Kunst im Allgemeinen. Jetzt vertrete ich nicht mehr diese Meinung. Ich denke, dass (Irr)Wege, die eine*n zum Leiden und zum Misslingen führen, das Schreiben auf ihre eigene Weise prägen. Unabhängig von unseren Erlebnissen. Es gibt viele Arten, wie etwas misslingt. Und ebenso viele Nachwirkungen.

Das Schreiben ist an sich eine einsame Beschäftigung. Oft. Ich möchte eine Leichtathletin sein, die die Körperkategorien sprengt. Gleichzeitig möchte ich ein Staffelteam sein.

Das Versagen entdecke ich in anderen Formen wieder, getarnt. Zum Beispiel: bei der Lust. Klar, schließt die Entwicklung von Figuren und Worten Arbeit mit ein. Mühe. Aber ist Freude auch dabei? Ist Lust auch dabei? Kann das schriftstellerische Handwerk das anstrengende Tun mit einfachem Spaß versöhnen?

Ich schreibe immer wieder, wie jetzt, in der Zweit- oder Drittsprache. Dabei muss ich Bedeutungen im Wörterbuch nachschlagen, immer wieder. Herumtun und angleichen. Nuancieren. Nie ist das, was ich sagen will, eins zu eins das, was herauskommt. Irgendwann frage ich mich: What’s the point? Die Erstsprache gleicht ebenfalls einem Labyrinth, ist eine Zumutung. Der Wunsch nach einem utopischen Ort taucht in so einem Kontext auf: Was wäre, wenn alles Gesagte gleich zutrifft? Spontan! Mühelos! Die Form ergibt sich wie von selbst! Immer wenn ich verzweifelt bin, kommt der Wunsch nach dieser Oase. Nach der totalen Übereinstimmung. Dann werfe ich einen Blick auf die Welt. Ungewollt höre ich der steigenden Aggression zu.

Als ich mich mit Deutsch niedergebombt habe, um die Sprache in der Fremde schnell zu beherrschen, um anzukommen (sic!), sah ich in meiner Erstsprache ein Rückzugsgebiet. Ich verschlang die Bücher in der Muttersprache, als wäre sie eine Schutzhülle. Immer wenn ich sie hörte, ging eine Welt auf. Eine Welt, in der alles seinen Platz hatte. Seine Grammatik. Natürlich romantisierte ich meine Erstsprache, verlieh ihr magische Eigenschaften, als läge sie dort drüben, hinter einer unübertretbaren Grenze. Heute sehe ich keine Grenzen zwischen den Sprachen mehr. Auch keine Magie. Die Erstsprache nimmt Platz unter den späteren Sprachen. Sie fließen ineinander. Es kommt kein Rückzug in Frage. Ich sehe nicht, wohin ich mich zurückziehen sollte, nachdem die Grenzen sich aufgelöst haben. In welcher Richtung auch immer, ist nur vorwärts möglich. Auch rückwärts ist vorwärts.

Trotzdem sehne ich mich immer noch nach einem utopischen Land, wo eine awareness herrscht, wo ich in einer produktiven Spannung weiterleben kann. Entspannung, die ist Teil davon, selbstverständlich, aber nur ein Teil, sie gibt nicht den Ton an. Ich sehe diesen Idealort ganz nah, fast greifbar, nicht irgendwo draußen. So fühle ich mich sicherer. Wenn ich weiß, der Ort ist da, nur eine Verschiebung, nicht irgendwo drüber, im Jenseits.

Jeden Tag wünsche ich mir mehr progressive Imagination.

 

В)

Das Barr-Körperchen ist ein Sex-Chromatin. Zum Ausgleich der Verhältnisse wird es stillgelegt, damit bei Frauen wie bei Männern nur eines der X-Chromosomen aktiv bleibt.

Es ist nicht meine Aufgabe, Ungereimtheiten zu klären. Ein Reporter heftete sich regelrecht an meine Fersen, deshalb log ich, die Nazis hätten mich zu allem gezwungen und mir Medikamente verabreicht. Das war es doch, was der Trottel hören wollte – ich wollte nur, dass er endlich abhaut.

Das inaktive X-Chromosom schmiegt sich der Membran des Zellkerns an. Mit dem Barr-Test lässt sich das Geschlecht des Individuums anhand der zahlenmäßigen Abweichungen der Sex-Chromosomen durch ein Mikroskop feststellen.

Die Athletin hatte ja keine Ahnung, dass sie etwas anderes sein könnte als eine Frau, dennoch hielten sie alle für eine Betrügerin, weil sie als intergeschlechtliche Person an einem Frauenwettbewerb teilgenommen hatte.

Trotz der Unzuverlässigkeit dieser Untersuchungsmethode wurden zur Enttarnung intersexueller Sportler*innen jahrzehntelang Barr-Tests durchgeführt.

Eine ganze Wissenschaft hatte sich zu diesem Thema entwickelt. All das Gefasel über Chromatine – doch Tatsache ist, die Athletin wurde zum Mann erklärt, und ein Jahr später brachte sie ein Kind zur Welt.

 

Г)

Mein Morgen, mein Schlaraffenland, aus Stücken setze ich es zusammen, aus kleinen und gebrochenen. Keine exakten Puzzlekanten, die man vorgefertigterweise ineinander verkeilen kann, kein Bild, das sich vorgedruckterweise sicher und klar ergibt. Alles muss gekittet, zueinander gebracht werden, seine Form erst finden.

Mein Morgen, mein Schlaraffenland – immer wieder baue ich es zusammen. Aus Steinchen – gestrandete, abgeschlagene Zeug*innen mit

schneidend scharfen Rändern. Ich verschiebe, baue aus und um. Manchmal kommt der Wind und weht sie weg, manchmal strömt das Wasser zum Bach und reißt sie mit.

Wie ein Kind an der Kante von Wasser und Sand bringe ich sie, immer wieder, zusammen – was mich nicht loslässt, was noch und trotzdem glänzt, was Farbe behält, was heraussticht. In der Brandung funkelt das Salz auf dem Saum der Wellen, und das Meer legt mir seine Schätze vor die Füße – polierte Teile von Ex-Größerem, gerundete Splitter, erkaltete Lava…

In der Hand ein blaues Steinchen, wie frisch aus der Tiefe des Meeres gestiegen, deep blue, das die Trauer nicht leugnet. Es strahlt und verhellt sich und funkelt.

Abertausende kleine, gebrochene Stückchen, wie bringe ich euch zusammen?

Mein Morgen, mein Schlaraffenland aus kantigen Fetzen – abertausende schiefe Stückchen die zueinander finden: Ein Schiff, von Stürmen gewaschen, auf hoher See.

 
Essay#5PS