An Wünschen rütteln

 

Inspiration eins bis drei:


Prüfe deine Sehnsüchte“, sagte Saša zu mir am Rande einer Verabschiedung. Manchmal haken sich Sätze fest, so dieser.

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Auf den Hinweis der Freundin Anne hörte ich mir einen Radiobeitrag zu Frigga Haugs Kritik der Wünsche aus dem Jahr 2004 an. In einem Vortrag sagt Haug: „Die Markt-Leistungsgesellschaft und ihre Restriktionen haben die Fähigkeit zu Traum und Utopie beinahe vollständig zersetzt.“1
Es sei daher eine „Aufgabe, […] das Vermögen, Utopisches zu entwerfen, zum Lernziel zu machen.“
2

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Im Mai 2019 gestaltete der feministische Lesekreis AK Unbehagen eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe zu utopischem Denken. Zur Eröffnung lasen sie neunstimmig einen Text, in dem es unter anderem heißt: „Das Glück, das wir kennen, ist nicht denkbar ohne unsere spezifische Subjektivierung […]. Gleichzeitig ist das Glück, das wir jetzt und hier erfahren können, unsere Vorlage für die Utopie, die Glück ermöglichen, aber gleichzeitig jene Subjektform abschaffen soll, die durch Beschneidungen und Mängel hervorgebracht ist. Die Unmöglichkeit radikal utopischen Denkens lässt sich nicht auflösen, sie dreht sich im Kreis. Ich möchte und kann mir aber keine Welt wünschen, an der ich selbst in meiner Mangelhaftigkeit nicht teilhaben kann.“3

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Moment mal:
Sehnsucht – Wünsche – utopisches Denken.
Mit diesen drei Begriffen einen Text anzusetzen, der im Rahmen eines Kurzessays bleiben soll, heißt doch, die Autorin ist unmöglich. Eine Anmaßung, diese drei Begriffsberge jonglieren zu wollen, schön locker in der Hüfte (oh, heiliger Schreib-Flow). Scheitern ist hier allzu wahrscheinlich.
Aber dies ist keine Schreib-Show, sondern ein Experiment. Liebe Widerstände, ich höre euch
und fange an.

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Prämisse:
Unser Wünschen und Sehnen ist von unserem Sein, den Umständen, in denen wir leben, bestimmt – um überhaupt utopisch denken und wünschen zu können, muss man sich der Grenzen bewusst werden, denen das eigene Denken unterliegt, das ja in einer bestimmten Gesellschaft geworden ist.

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Situation eins ¬

Anfang Mai 2019 kontaktiert mich eine Frau auf der Suche nach einer Lektorin für ein Sachbuch, das sie verfasst hat. Ihr liegt viel daran, dass es Menschen erreicht, die ähnliche Erfahrungen haben, wie sie dort beschrieben werden. Das Buch macht Therapievorschläge. Es hat 500 Seiten, die Autorin wenig Geld; für die Veröffentlichung zahlt sie selbst. Die Frau gehört eigentlich zu genau jener Gruppe von Autor_innen, die ich als Lektorin unterstützen möchte. Leute, die aus dem Nichts kommen, aus Dringlichkeit schreiben.
Aber: Auch ich habe wenig Geld und trotzdem wenig Zeit. Ich arbeite schlecht bezahlt, abhängig sowie freiberuflich. PS mache ich für Liebe und Verstand, nicht für Brot. Lektorate lassen mich ein bisschen besser über die Runden kommen, und ich bin gut darin. Sie machen mir auch Freude, doch lieber würde ich mehr schreiben. Urlaube kann ich mir selten leisten. Ich bin oft erschöpft – und kann die Leier vom Erschöpft-Sein längst nicht mehr hören –, bin stets verspannt und zuckelig, so schon. Neben allem schreibe ich selbst an einem Buch, einem längeren Text, der über Monate unangetastet bleibt, weil andere Dinge dringender oder sachlich zwingend sind.
Ich kann jetzt also keine 500 Seiten für zu wenig Honorar lektorieren und korrigieren. Es ist der rationale Schluss und doch keiner, den ich ruhig im Gedächtnis ablege.
Natürlich hapert es in dieser alltäglichen Geschichte an sämtlichen Ecken und Enden. Aber genauer: Wohin weist mein Unbehagen, geht der Wunsch – weg wovon, hin wozu?

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Eine Szene

Ein Tag in Wien, während der Kritischen Literaturtage Mitte Mai 2019. An einem Samstagmorgen gehe ich vor Beginn der Messe über den Markt am Yppenplatz. Es ist voll. Mehrmals höre das Wort „Enthüllungsvideo“, aber sicher hätte ich das später wieder vergessen. Als ich den Messeraum der KriLit betrete, die übrige Redaktion ist noch nicht da, kommen mir Freudentaumel und Aufregung entgegen. Menschen fallen sich in die Arme und rufen: „Was für ein Tag!“ Ein Radio läuft, und manche stecken Köpfe über Smartphone-Displays zusammen. Das Ibiza-Video ist am Vorabend publik geworden, Vizepräsident Strache bereits zurückgetreten. Es weht etwas selten Gewordenes durch die Stadt: linke Euphorie
statt der seit 1933 dominanten linken Melancholie. Wie oft hat die Linke, heute, überhaupt, etwas zu feiern?
Am Buchtisch nebenan signiert jemand ein Buch, murmelt dabei: „An diesem Freudentag…“ Jiaspa kommt zum Stand und erzählt: „Auf dem Markt rief jemand ‚Kauft Konfetti! Konfettischlacht am Ballhausplatz!‘“, wo die große Demo-Feier des Tages einberufen wurde.
Geht es hier eher um Sehnsucht – oder Hoffnung? Um einen Moment, in dem etwas Besseres aufscheint? In Wirklichkeit sind sich ja alle bewusst: Wenn es überhaupt bei einer Neuwahl zu einer Abstrafung der FPÖ durch die Wähler_innen kommt, dann ist diese hervorgebracht durch einen politischen Skandal, nicht durch politische Einsicht, nicht durch all das, was am Programm der FPÖ rassistisch und unmenschlich – und als solches nicht skandalträchtig – ist. Auch die Kooperationsbereitschaft und strategische Ablenkung der etablierten Konservativen von sich selbst ist mit der „b’soffenen G’schicht“ nicht tangiert.

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Situation zwei ^

Es ist immer noch Mai. Ziemlich unerwartet wird während einer Lesung mehrerer Zeitschriftenprojekte PS nicht kritisiert, sondern lächerlich gemacht, so, als sei es eine argumentierende Kritik und Auseinandersetzung nicht einmal wert, sondern würde sich vor Blödheit (der weiblichen und trans-Menschen, die PS machen) selbst entlarven. Nicht, dass uns derartiges gänzlich neu wäre. Yael und ich sollen kurz nachher lesen. Wir entscheiden, dem Angriff keinen Raum zu geben und unsere Lesung durchzuziehen.
Während der Lesung versagt – das ist mir allerdings noch nie passiert – meine Stimme. Ich huste und röchle nur noch, Yael reagiert rasch und federt alles ab.
Ich wünschte, mir könnte so was nicht passieren.
Ach ja?

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Lernversuch:
In den Situationen eins (¬) und zwei (^) baut sich Druck innerlich und äußerlich, durcheinander bedingt, auf und korrespondiert mit gesellschaftlichen Anforderungen, die ohnehin internalisiert sind.
In der Szene (≡) wird Druck plötzlich wie über ein Ventil abgelassen.

Alle drei sind bestimmt von Druck.

¬ Ich hätte gern ‚mehr Zeit‘ und mehr Geld übrigens,
≡ hätte gern keine Nazis in Parlamenten,
^ einen unsichtbaren Panzer und eine feste Stimme, die nicht bricht, wenn’s drauf ankommt.

All das stimmt. Und ist falsch, insofern hier etwas fehlt – es fehlt der Gegenentwurf zur Situation, die diese Wünsche erst notwendig macht.
Das wussten alle (Marxist_innen) schon,
auch ich, überhaupt:
„alle wissen alles“4,
und rollen die Augen.

Doch die Aufgabe, die eigenen Sehnsüchte, Wünsche, Träume zu prüfen, in jeder Situation, in der dies einer möglich ist, ist keine leichte in Anbetracht der Ballungen des Alltags (siehe oben: der lange Mai). Und auf die Gefahr hin, die eigenen Lebensentwürfe ins Wanken zu bringen, was wir zwar wollen müssen – wovor wir zugleich zurückschrecken, denn es ist ja das Leben, das wir gerade führen. Ich ziehe mir selbst den Teppich unter den Füßen weg – aber sanft (und nicht allein). Mit den Träumen und Wünschen fängt es an,
(schrittweise).

¬ Autorinnen sollten nicht selbst für Publikationen zahlen, das Schreiben ganz generell sollte nicht mit existentiellem Risiko verbunden sein – auch damit nicht nur diejenigen schreiben, die dieses Risiko materiell eingehen können. Gerade die relative Armut machen viele Autoren und (etwas seltener) Autorinnen zu einem Anker ihres Stolzes. Aber das ist ideologisch verdreht, nicht Unabhängigkeit, nicht Freiheit – kein Geld für Arbeit ist keine Freiheit. Sowenig wie Geld für Arbeit Freiheit ist.

≡ Ich hätte gern: politische Vernunft statt Symbolik und Identität. Das ginge nur über die Auflösung von Konkurrenz; es ginge ohne gesellschaftliche Abstiegsangst und Aufstiegsversprechen, den Motoren, die das Treten nach unten antreiben.

^ Hätte gern: Einen Boden für sachliche – d.i. an einer Sache, dem Ziel von Veränderung – ausgerichtete Kritik. Ein Streiten um Wege des Feminismus, statt der ungemein ermüdenden Verteidigungsposition.

Fast.
Ab hier wird es rutschig, denn konkrete Vorstellungen fehlen – noch.

¬ Möchte so leben, dass ich nichts verkaufe, nicht mein Schreiben, meine Arbeitskraft, mich. Ich will keine Existenz, die allein gesichert (und legitim) ist durch das, was ich im Verkauf veräußere.
≡ Möchte eine am Menschenwohl ausgerichtete Gesellschaft als gemeinsame politökonomische Form, in der niemand die Produktionsmittel besitzt.
^ Meine feste Stimme nicht an Scheingefechte verschwenden, sondern für wirkliche Umgestaltung nutzen. Zudem auch eine sanfte Stimme haben können, zum Lieben zum Beispiel. Wenn Liebe nicht mehr überzogen, überfrachtet, unfrei machender Privatersatz wäre für das schlechte Ganze.
Literatur kann dazu inspirieren:
Sie weiß alles, zum Beispiel Irmtraud Morgner:
„Ruhiger, die Tage ohne ihn waren keine Makulatur, die Leidenschaft schrumpfte das Gegebene nicht mehr und blähte das Gewollte. Die Liebe verlor ihr dogmatisches System mit Naturereignischarakter, das die Welt mit großen Gesten vergewaltigt. Ereignisse und Gegenstände näherten sich vergleichsweise ihrem Eigenwert. In freundlichem Umgang war Vielfalt, schöne Menschengemeinschaft.“5

Ich möchte herausfinden, was es auf welche Weisen zu schreiben gäbe, wenn auch die Literatur nicht mehr so sehr um Flow (den locker-leichten Umgang mit Druck und Effizienz) und Show (die locker-leichte Platzierung des Produkts Autor_in) kreiste.

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Rütteln an der Gegenwart:
ist am Wunsch rütteln. Ihn zu erwischen auf jener ersten Stufe, da er nur darauf zielt, besser am Bestehenden teilnehmen zu können. Von dort weiterzugehen. Liebe Widerstände, das ist für euch.

 

Rat und Lektorat: Olivia Golde, Simon Kalus, Ricarda Kiel

 

1 Nachzuhören in „Anleitung zum utopischen Denken“ von Inforedaktion Frauen/Lesben Freies Radio für Stuttgart auf: https://www.freie-radios.net/7157
2 Ebd.
3 AK Unbehagen:…und für wen das alles? Das Subjekt und die Utopie“ in: Can’t Take My Eyes Off You, 2019, S. 21.
¬ Fakten verfremdet und wahrhaftig.
Fakten 1:1 und fragwürdig.
^ Unmissverständlich.
4 Ronald M. Schernikau: die tage in l., 2009², S. 114. Weiter heißt es dort: „niemand braucht irgendwem etwas zu sagen, die dinge sind deutlich vorhanden in der welt.“
5 Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, 19899, S. 358.

Essay#5PS