Im Buchvehikel unterwegs
Viele Jahre besaß ich in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wie selbstverständlich einen Ausweis für die Stadtbücherei. Er kam zu mir, weil meine Herkunftsfamilie (akademisches Milieu) aus ihrer Migrationsgeschichte heraus bereits post-materialistisch orientiert sein musste, als es diese Einstellung offiziell noch nicht gab, weil die Generation Y noch nicht am Zug war. Im Klartext hieß das: Zusatzunterricht ja, Südseeurlaub nein. Oder: Bücherkaufen nein (außer, es war „Klassik“), Bücherleihen ja. Vielleicht war das immer schon, was man unter „Bildungsbürgertum“ versteht, auch wenn der Begriff des Bürgerlichen heute kaum mit Sinn behaftet scheint und auf mein Elternhaus nur bedingt passt. Jedenfalls war für mich der eigene, nicht kontrollierte Büchereiausweis so etwas wie ein Ticket in eine befreite Welt, direkt in ein Schlaraffenland.
In der städtischen Bücherei gab es damals, vor der Modernisierungswelle (das heißt, vor Eventisierung und Festivalisierung und Multimedia), in erster Linie die basalen Gänge voller Bücher. Mir stellte sich komischerweise nie die Frage, woher die Bücher kamen, wer die Auswahl traf, warum ausgerechnet diese und nicht andere in der jeweiligen Abteilung das jeweilige Thema repräsentierten. Für mich teilten sich die Bücher schlicht in langweilige und interessante, wobei sich das sowohl auf den Inhalt als auch den Stil beziehen konnte, wie ich heute verstehe. Denn ich erinnere ein Buch, in dem ein Junge den „Ort Flughafen“ entdeckt, mit all den technischen Details, die mich zwar faszinierten, allerdings nicht genug in den Bann zogen, als dass ich mich mit ihnen länger aufhalten wollte. Trotzdem gefiel es mir als Gesamtensemble derart, dass ich es sicherlich fast zehnmal ausgeliehen hatte, obwohl ich darin höchstens blätterte, nicht aber las. Mittlerweile weiß ich, dass dieses Leseverhalten, durchaus sozial anerkannt, sehr viele Menschen an den Tag legen; ich jedoch war nicht zufrieden mit meinem Unvermögen, zu Ende oder richtig zu lesen.
Dann kam diese Zeit, in der ich begann, wie besessen über Liebe und Freundschaft, Lust und Sexualität, Begehren und Ablehnung zu lesen. Ich muss zwischen elf und dreizehn Jahren alt gewesen sein und, wie sollte es anders sein, sicherlich neugierig und auf der Suche nach Beziehungen zum Außen, zu den anderen. Ich hoffte, nicht zu erröten, wenn ich die Bücher auf die Ausleihtheke legen musste. Heute würde man diesen Moment durch das Selbstverbuchungssystem geschickt auszusparen wissen. Nur denke ich rückblickend, dass dieses Erröten ein wichtiger Schritt der Emanzipation gewesen sein könnte. Ich wählte einen Pfad, ich wählte ein Objekt, dieses Buch, und – abgesehen davon, dass die Angestellten unmöglich alle Buchinhalte hätten kennen können, aber das fiel mir damals nicht auf – war bereit, dafür einzustehen.
Besonders in Erinnerung bleibt mir aus dieser Phase der Roman Für Isabel war es Liebe (2002), verfasst von der jüngst verstorbenen, deutsch-jüdischen Schriftstellerin und Übersetzerin Mirjam Pressler. Der Text trifft mich, damals wie heute, an einer Stelle in Herz und Verstand, die für mich zu den Notwendigkeiten des Lebens und auch des Überlebens gehört: dort, wo die zarte Gewissheit anberaumt ist, dass es gut und richtig sei, ohne Angst dem Unterschiedlichen begegnen zu können. Gepaart mit einer tiefen Sehnsucht und dem Wunsch, grundsätzlich angstfrei, mutig zu sein. Es waren bestimmt kitschige Gefühlsüberlegungen einer altklugen Heranwachsenden, aber ich denke, das mindert nicht ihren Wert. Sie formten mich und sind Teil von mir, mitsamt dem Pathos.
Isabel, die Hauptfigur des Romans, berichtet davon, wie im Alter von 17 Jahren gleichzeitig Todesnähe, erotische Liebe und Begeisterung für bildende Kunst in ihr Leben treten. Ihre Mutter erkrankt an Brustkrebs, den sie bekämpft, der aber Isabels Leben fundamental verändert. Und ich entdeckte die Lust an der Nacktheit ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als meine Mutter Krebs hatte und der Tod in jeder Ecke unseres Hauses lauerte, jedenfalls kam es mir so vor, denn wer konnte schon wissen, dass sie fünf Jahre überleben würde, Schönheit im Angesicht des Todes, Sinnlichkeit ohne Zukunft, ein Versprechen, das vielleicht nie erfüllt würde. Die „Lust an der Nacktheit“ gilt Daniela – ihrer Klassenkameradin, aber bald auch ihrer Geliebten, mit der sie stundenlang zeichnet, in Ausstellungen geht, aber das Bett war das Zentrum unseres Lebens. Ihre erste erotische Begegnung bedeutet Isabel den vollkommenen Kontrollverlust –
… und wie es dann weiterging, weiß ich nicht mehr, ich muss meinen Verstand abgeschaltet haben, sonst hätte ich mich doch nicht so verhalten, ich doch nicht, ich hätte mich doch nicht einfach ausgezogen und ihren Händen überlassen, ihren Lippen, ich hätte nicht einfach meine Beine aufgemacht, meinen Mund, meine Sinne, mein Herz. Ich doch nicht. Selbst heute weiß ich genau, wie diese Zeilen in mir nachhallten, wie sie beim Lesen in der Tat mein eigenes Leben ersetzten, mich, wenn ich wieder aus dem Buch heraustauchte, fassungslos hinterließen, wie mein eigenes etwa 13-jähriges Leben nur so schal und leer im Vergleich sein konnte. Die Erkrankung der Mutter erschien mir als dramatischer Hintergrund, ich hatte die Passagen fast gänzlich vergessen, während die Liebesszenen mit Daniela wie auch die schreckliche Trennung von ihr mir beinah wörtlich auf der Zunge lagen, selbst wenn ich nicht wusste, woher die Worte kamen.
… hast du geweint, weil du Sehnsucht nach ihr hast? Hast du geweint, weil du sie immer noch liebst?
Nein, sage ich, nehme das Taschentuch, das sie mir hinhält, schnäuze mir laut und hörbar die Nase und sage noch einmal, nein, ich habe doch nicht deshalb geweint, weil ich sie immer noch liebe, ich habe geweint, weil sie mich verlassen hat, die blöde Kuh. Sie hat nur mit mir gespielt, sie hat mich nicht ernst genommen, deshalb habe ich geweint.
Conny schaut mich zweifelnd an, ich stoße ihr den Ellenbogen in die Seite und sage, he, wer da gerade geweint hat, war die Siebzehnjährige, nicht ich.
Und das ist nicht gelogen.
Mit Conny ist Isabel einige Jahre später zusammen, aber es wird nicht wirklich „alles gut“, denn durch die Trennung von Daniela inmitten der Krebstherapie der Mutter entwickelt Isabel ein kaum überwindbares Misstrauen, das sie daran hindert, sich auf neue Beziehungen einzulassen. Trotzdem endet der Roman auf wundervolle Weise: Jeder liebt, so gut er kann, sage ich. Meinst du, das wird dir genügen? – Conny wird ihr hoffentlich ausführlich geantwortet haben. Für mich existiert diese Isabel noch immer, sie prägt noch immer mein Verständnis von Liebe mit. Ihre Verschiedenheit – lesbisch zu lieben, scheu zu lieben, in ihrer Erinnerung lange Zeit eine bestimmte Person zu lieben, brüchig-verletzbar zu lieben, unvermögend zu lieben – war mir nicht als Makel, sondern als Möglichkeit zur Eigenständigkeit ins Bewusstsein gekommen. Für dieses Grundelement der Angstfreiheit im Lieben eines unterschiedslos-Wen bin ich Mirjam Pressler sehr dankbar.
Kann man eine Stadtbücherei nun mit dem Schlaraffenland gleichsetzen? Vermutlich sollte man dies nicht. Aber wenn das Schlaraffenland der Ort ist, an dem man „ohne Angst verschieden sein kann“, dann sind bestimmte Bücher die Vehikel dorthin. Und man sollte ihre Erreichbarkeit großflächig sichern, sei es auch durch einen Büchereiausweis, der sich anfühlt wie ein Ticket ins unbestimmt kribbelnde Glück. Diese besonderen Büchervehikel ins Schlaraffenland, sie gestalten Gefühlsstrukturen und Denkweisen mit, die lange nachwirken, in Haltungen übergehen. Erst recht, wenn man sie nicht vergisst, sie wiederliest und sich erinnert.
Das Schlaraffenland wird umso konkreter, je mehr man sich das eigene Werden vor Augen hält.
Literatur:
Pressler, Mirjam. 2002. Für Isabel war es Liebe. Roman. Weinheim: Beltz und Gelberg.
Adorno, Theodor W. Original 1951. Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Hier: Aphorismus 66 – Melange. http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/minima.html
Lektorat: Olivia Golde und Carolin Krahl