riot grrrl revisited*

 

„Guten Abend, Masochistinnen und Masochisten“, verkündete meine beste Freundin Anita und hielt sich das Mikrofon so nahe an ihre Lippen, als wolle sie die Werbung einer wohlbekannten Eismarke nachahmen, die ihrerseits eine wohlbekannte Form des Oralverkehrs nachahmte. „Euch erwartet ein Abend voller Lieder, die ihr hassen werdet.“ Wir schrien das Jahr 1995, damals, als man Jahre nicht mehr schrieb, sondern schrie.

Anita war seit kurzem Mitglied der Riot Grrrl Band Test my Schleim, die so etwas wie Lokalheroinnen in Düsseldorf waren, weil sie die einzige All-Girl-Band waren, die jeden Auftritt mit mindestens einem Verletzten absolvierte. Außer Anita sang noch eine andere Anita, und eine Frau namens Fred spielte Schlagzeug und Bass – gleichzeitig. An besagtem Abend experimentierten sie mit ungewohnten Textformen, wie Reimen.
Ein Beispiel:
„Lass uns nicht ständig über Missgeschicke reden
und über Fragmentierung oder verzerrtes Erleben.
Denn all die kalten feuchten Toiletten
können mich einfach nicht mehr retten.
Erst richtig auf den Rand gepisst
fragst du dich, was wirklich wichtig ist.“

Das hört sich heute nicht mehr so spektakulär an, aber Mitte der 90er war es revolutionär. Das Stück hieß Listen des nutzlosen Widerstands und alle im Saal klatschten sofort lauter mit als Anita und Anita singen konnten. Nur zwei Menschen unbestimmten Geschlechts lehnten an der Theke, wahrscheinlich um nicht umzufallen, und grölten stattdessen den Hit von Test my Schleim:
„Just fucking,
fucking endlessly!“
Es war die Sorte Party, auf der eine Menge Deutschlandfahnen verbrannt wurden und die Klimaanlage in regelmäßigen Abständen ausfiel.

Riot Grrrl war so überwältigend, weil die Bewegung sich gegen den Ausschluss von Frauen aus der Popkulturproduktion richtete. So stand es zumindest in all den Grrrl Zines, die Anita und ich pflichtschuldig lasen, um an der vorderen Front des feministischen Kulturkampfes mitzumachen. Was uns ebenso beunruhigte wie faszinierte, war dass die Grrrls sich vehement gegen sexuellen und anderen Missbrauch richteten, indem sie diese Erfahrungen öffentlich machten und von Bühnen auf der ganzen Welt herunter schrien – oder zumindest von Bühnen in ganz Nordamerika und halb England.
In Düsseldorf dagegen war die Szene spätestens seit der berüchtigten Patriarchatsdebatte der 80er Jahre mit ihrem legendären grünen Flugblatt – das Anita und ich zu unserer großen Frustration verpasst hatten – gewohnt, den Deckel auf solchen Themen zu halten.

Deswegen entschied sich Anita, ihre Texte expliziter zu machen. „Seid ihr bereit für den Oberbilker-S-Bahn-Song?“, rief sie und schloss ihre Faust um das immer noch phallische Mikrofon.
„Alle meine Freundinnen
kommen über die Schienen und schreien!
Ihre Stimmen fluten durch die Seitenstraßen
und schwappen an den Häuserwänden hoch“,
schwappte die Stimme meiner Freundin durch den Raum, während ich nach meiner Tasche aus aneinandergenähten Fahrradschläuchen griff und mich durch dem warmen Zigarettenrauch bewegte wie durch ein türkisches Bad, nur dass die Menschen alle angezogen waren.
„Das Echo in den nachtleeren Straßen
ist unheimlich – und vertraut,
so wie das milchige Licht,
das uns an den Beinen herunterlief wie Pisse,
als meine beste Freundin
vergewaltigt wurde.“

„Aber ich bin deine beste Freundin“, protestierte ich, als Anita mir den Text zwei Tage davor in ihrer Küche zeigte.
„Das ist Literatur, Liebchen“, belehrte mich Anita.
„Das ist keine Literatur, das ist Punkmusik“, widersprach ich, um mein Gesicht zu wahren, und fuhr fort, bevor sie den Mund aufmachen konnte: „Aber sogar, wenn es Literatur wäre, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass ich deine beste Freundin bin und alle unsere Freunde dann Dinge aus meinem Leben wissen oder zu wissen meinen.“ Ich brach ab und blickte an Anita vorbei zu ihrem Klo, das keine Tür hatte, so dass jeder einem vom Küchentisch beim Pissen zusehen konnte.

Zum Glück ließ sich die Toilette auf dem Konzert verschließen. Ich nahm eine Zahnpastaprobe aus der Jackentasche und putzte mir mit dem Finger die Zähne. Das vertrieb zwar nicht den brackigen Geschmack aus meinem Mund, fügte aber ein weiteres Aroma, nämlich kandierte Pfefferminze, hinzu.
„Nichts kann diese Straßen erschüttern.
Sie sind so fest
und ruhig,
weil sie so angespannt sind“,
jaulte Anita hinter der Tür, und die andere Anita produzierte darüber eine ganz passable zweite Stimme:
„Ein Ort des Vergessens, dass es eine Zukunft geben muss.“
Die wackere Glühbirne über dem Waschbecken zauberte mir Marlene-Dietrich-Wangenknochen in den Spiegel, und es roch nach Klostein.

„Niemand hört auf die Texte, die ich singe“, maulte Anita in der Pause, die auch das Ende des Konzerts war, weil Fred nach Hause gegangen war und Anita Zwei mich aus dem Klo geworfen hatte, um sich dort mit einem gutaussehenden nicht-binären Menschen einzuschließen.
„Die Texte, die du schreist“, korrigierte ich.
„Schreien, kreischen, brüllen, was auch immer“, sagte sie und reichte mir ihre Bierflasche.
Die gelbschäumende Flüssigkeit roch nach Leber, und als ein Schwarzgekleideter, der nicht mitbekommen hatte, dass die Musik vorbei war, von hinten in mich hineinpogte, rann sie an meinen Beinen hinunter wie Pisse.
„Weißt du, wie Michael Schumacher immer macht?“, fragte ich, froh, meinen Ärger an ihm auszulassen. Erwartungsvoll hüpfte er auf und ab. Ich drückte den Daumen auf die Öffnung von Anitas Flasche und schüttelte sie einmal kräftig durch, bevor ich sie auf ihn richtete.
„Wie fies“, spuckte er unter dem Sprühregen hervor.
„Gendertrouble, Baby!“, rief Anita begeistert.

Als er längst wieder getrocknet und von jemand anderem mit frischem Bier übergossen worden war, diskutierten Anita und ich noch immer.
„Warum schreibst du überhaupt Texte, wenn du davon ausgehst, dass sowieso niemand darauf achtet?“, fragte ich.
„Weil zwar jetzt niemand auf meine Texte hört“, erklärte sie, „aber in zehn Jahren werden sie an den Universitäten interpretiert werden…“
Ich nahm meine Tasche und gab auf, doch ihre Hand auf meiner Schulter hielt mich zurück. „…und dann weiß niemand mehr, wer du warst“, vollendete Anita ihren Satz, in dem festen Glauben, mich damit glücklich zu machen.

 

*Ich wollte den Text ursprünglich: „Riot Grrrl Revisited“ nennen. Aber dann erschien das Buch von Katja Peglow und Jonas Engelmann mit dem Titel: Riot Grrrl Revisited. Deshalb habe ich die Überschrift durch Kleinschreibung verändert.

 

Lektorat: kaśka bryla, jiaspa fenzl, eva schörkhuber

Essay#5PS