Gespenster
Erster Teil
1.
Der Birkenast streift das Fenster. Grün und biegsam. Seine Baumkrone rauscht. Wenn sie erwacht, ist keine Birke irgendwo. Es ist dunkel. Nur das leere Zimmer. Zwar ist das Zimmer möbliert, aber sie verspürt es leer. Entleert, genauer gesagt. Regal, Schrank, Nachttisch. Sie gehören nicht ihr. Nichts gehört ihr. Der Geruch ist fremd; ebenso ist die Luft, ebenso das Essen, das sie nur durch Selbstüberwindung zu sich nimmt. Sie nimmt ab. Zuhause nimmt sie wieder zu. Hier nimmt sie ab. Ein Wechselspiel, ein ständiges.
Plötzlich stützt sie sich auf die Ellenbogen in der Dunkelheit. Ihre runden Finger suchen nach dem Knopf entlang des Kabels der Nachttischlampe. Was sie hört? Was sie immer hört, seitdem sie auf jenem Parkplatz den Koffer vom Kleinbus hinuntergeworfen hat. Das Rinnen der Zeit; nein, nicht das Rinnen, das Fließen; nicht das Fließen, das Kriechen, ja, das Kriechen der Zeit. Das hört sie. Und das Wasser tropft vom Wasserhahn. Die Alte ist munter und bewegt Gegenstände im Badezimmer. Sie nimmt die Zahnpasta vom Brett und legt sie neben das Klopapier. Sie nimmt die Handtücher aus dem Kasten und rollt sie auf den Boden aus. Noch im Bett stellt sich Marina das genau vor. Sie denkt: was heißt nehmen nochmals? Ah ja, nehmen… Aber abnehmen?
Die Alarmuhr blinkt – keine Zeit für Fragen. Es ist 4:48. Offiziell arbeitet sie nicht. Laut Vertrag beginnt ihr Dienst um fünf und endet um neun Uhr abends. Aber das ist eben Vertrag, Papier. Dort liegt er, zwischen dem Pass und den Medikamenten. Unter dem Foto von ihrem Mann und ihren drei Kindern. Nicht angerührt seit Anbeginn des Ganzen, dieser Vertrag.
Marina steht auf und geht über den langen Flur ins Bad. Die Alte hat sich diesmal nicht eingesperrt. Sie sitzt schief auf dem Klodeckel. Ihre Unterhose hängt lose an den Fußknöcheln zwischen ihren dürren Beinen. Mit zittrigen Händen versucht sie eine Crème aufzumachen. Anstatt sie aufzuschrauben, zieht sie. Sie blinkt erstaunt herauf. Ihre wässrigen blauen Augen, in denen man sich verlieren kann. Da sind sie.
Marina: „Na, Ana. Geht nicht?“
Hanna: „Es geht, es geht schon“
Doch ihre Finger rutschen ungeschickt über den Deckel. Marina hört nicht; sie bückt sich: zieht die Unterhose auf. Beide erheben sich.
Sie gehen in die Küche hinunter. Langsam – weil steile Treppen. Dem schmalen Gelände vertraut Hannas Hand nicht. Hanna stützt sich auf Marinas Schulter. Sie gehen.
2.
Mittagszeit. Marinas Mann, Kuan, kommt herein. Er trägt einen blauen Arbeitsanzug. Seine dicken Handgelenke und seine Hände riechen nach Rohöl. Staub gemischt mit Rost. Er nimmt Platz auf einem Stuhl neben Hanna, sehr nah an ihr. Beinahe berühren sich ihre Ellenbogen. Immer, wenn sich Kuan über den Tisch beugt, um die Scheiben Brot zu erreichen, verdeckt er Hanna mit seinem langen Schatten. Alle drei atmen rhythmisch: ein und aus, ein und aus. Man isst.
„Dann hole ich das Fass von Niko später“, sagt Kuan, indem er den Stuhl nach hinten schiebt und sich erhebt. So will er einem früheren Gespräch ein Ende setzen, in dem es um die eingelegten Kürbisse ihrer ältesten Tochter, Nikolli, ging. Die beiden und Nikolli teilen diese Kürbisse, die Marina immer im Herbst einlegt.
„Geh dich hinlegen“, sagt Marina zu Kuan.
Er geht. Hanna, die wieder eingenickt war, zuckt und öffnet die Augen. Sie sieht sich verwirrt um, erkennt die große Küche im Erdgeschoss ihres Hauses nicht. Marina wäscht ab.
„Ich bringe dich gleich ins Bett“, sagt sie.
Aber Hanna will nicht schlafen. Sie schweigt. Marina wäscht ab. Mit dem Augenwinkel blickt sie in das Zimmer nebenan, wo ihr Mann leise vor sich hin schnarcht.
„Komm, hilf mir“, sagt Hanna. Sie wiederholt es.
„Du kannst alleine aufstehen, Ana“, sagt Marina.
„Kann nicht.“
„Doch, das kannst du.“
„Du bist gemein, Nona“, sagt Hanna.
„Nein, ich bin gut“, sagt Marina und denkt: „Ich bin ein guter Mensch“, oder sie denkt nicht, sie nimmt es wahr, so, wie man einen Stein wahrnimmt.
Marina wäscht ab. Sie dreht den Wasserhahn ab, das Wasser macht Stopp, also kein Wasser mehr. Gut so. Sie trocknet ihre Hände im Küchenhandtuch.
„Komm, ich bringe dich jetzt ins Bett“, sagt sie und packt Hanna fest und geschickt unter ihrem Arm.
„No-na“, stöhnt Hanna, oder sie sagt: „Nein, nein“, in ihrer Sprache, leise und unverständlich. Die Frauen gehen so, einen Schritt nach dem anderen. Vor der Treppe fragt Marina, auf einmal aufgeheitert:
„Oder magst du fernsehen? Dein Lieblingsprogramm fängt gleich an…“
Als ob dieser Einfall schon die Erleichterung in sich bergen würde. Hanna gibt zu verstehen, sie will weitergehen. Doch oben bringt sie plötzlich den Namen der TV-Sendung über ihre Lippen.
„Nein, sagt Marina, jetzt legst du dich hin. Du bist müde.“ Und sie hält Hanna eine Tasse Wasser hin, in der sich eine Pille noch auflöst. Wäre die Pille da, würde Hanna nicht trinken.
„Trink“, sagt Marina. Die Pille löst sich auf. Hanna trinkt.
Marina geht in den Garten. Sie lehnt sich an die Hauswand. Raucht. So, von außen betrachtet, wirkt der Garten umso schöner. Dem dunkelgrünen Schatten des Feigenbaums zugewandt, betrachtet sie seine orangene Blüte. Über der Hecke schlummert das benachbarte Haus in der Mittagslethargie. Marina sieht sein knallgrünes, schräges Dach, die herunterhängende Markise – das sehen ihre Augen, während das Bild zerbröckelt, das Dach und die Markise schwinden langsam. Marina sieht eine schmale Straße zuhause, die grauen Pfützen auf dem Asphalt. Das angenehme Gefühl einer bekannten Feuchtigkeit kommt hoch. Im Haus mit dem grünen Dach gehen Schatten um, wie die Schatten von Riesenschnecken. Die Hausbesitzer. Gott weiß, wie viele. Sie gehen nicht aus dem Haus. Nie.
3.
Marina wischt ab. Tatsächlich ist Staubwischen nicht notwendig. Das braun lackierte Holz glänzt; die Weingläser glänzen. Im ganzen Haus herrscht vollkommene Ruhe. Hanna schläft noch. Kuan muss jetzt bei Niko sein. Das ist gut. Also: Bügeln im Wohnzimmer. Marina hebt den Kopf. Die Pendeluhr zeigt zwei Stunden früher als zuhause. Klick-klack.
Hannas Sohn Konrad kommt herein. Einen Finger nach dem anderen zieht er seine Lederhandschuhe aus.
„Mutter schläft?“, fragt Konrad.
Marina schweigt, als würde sie nach einer in ihrem Gedächtnis verschollenen, Erinnerung suchen.
„Heute ist Donnerstag, Marina“, sagt Konrad. Er wirft die Handschuhe auf den Tisch. „Geh ein bisschen aus. Amüsiere dich. Das hast du dir verdient. Ich passe auf Mutter auf.“
Tatsächlich Donnerstag – könnte jeder andere Tag sein.
Konrad liest Zeitung; die Zeitung hält er weit entfaltet in seinen Händen. Er schreibt in sein Handy. Marina zieht einen Mantel an.
„Die Medikamente sind im Kühlschrank. Du weißt, sie nimmt sie nur zerhackt. Es gibt eine Suppe auf dem Herd. Misch die braunen Ampullen da rein. Auf Wiedersehen, Konrad.“
Konrad lächelt wohlwollend.
Auf dem Hauptplatz steht diese kleine Reiterstatue aus Bronze. Die Zeit hat den Schutzhelm des Ritters grün gefärbt. Er stößt seine Lanze in die Leere. Eine Fahnenstange liegt schräg auf dessen Bauch und Armen. Asha lässt Marina warten. Wie jedes Mal. Dann, mit langer Verspätung, erscheint sie hinter dem Pferd.
Sie spricht von ihrer Alten. „Cordula hat den Wohnungsschlüssel versteckt. Wir mussten sie ausziehen. Sie hat so gemacht…“ Und sie schreit. Sie schreit leise, erstickt, sie macht einen Schrei nach. Beide sprechen. Das Gespräch nimmt seinen Lauf. Ja, Asha ist lieb. Sie hat ein Haus auf einem Feld, von Wasserkanälen eingerahmt. Ein Berg ragt in den Himmel in der Ferne. Weißer Schnee, Felsen. Asha hat Kinder. Die Kinder laufen glücklich im Hof. Drei. Aber es gibt ein Problem mit dem Haus; der Mafia verschuldet ist das Haus. Das Leben. Und der Mann ist krank. Asha erzählt von einem lustigen Zwischenfall. Dieser soll am selben Tag geschehen sein. Sie lachen. Auch Marina ist lieb. Verständigung kommt aus dem Bauch heraus, nicht über die Worte. Die Worte sind Schätzungen. Asha ist neu in diesem Land. Sie legt ihre Hand auf Marinas Schulter; reicht ihr Kekse, die sie selbst lustvoll knabbert. Das Handy klingelt. Es ist Konrad.
„Könntest du früher zurückkommen?“, fragt er.
„Es sind noch keine zwei Stunden vergangen. Ich habe frei, Konrad.“
„Wir würden dich extra bezahlen. Wie beim letzten Mal, Marina… Alles fair.“
4.
Es herrscht Unruhe im Haus. Nein, nicht Unruhe – Eifer. Hannas drei Söhne sind da und packen ihr Zeug.
Ülrik sagt: „Sei brav, Mutter. Am Abend kriegst du leckeres Wild, wenn alles gut läuft.“
„Und höre auf Marina, okay? Sie will dir nur Gutes tun“, sagt Wolfram.
„Gut, dass du gekommen bist“, sagt Konrad. „Wir haben uns Sorgen gemacht.“
Einer nach dem anderen küssen sie ihre Mutter auf die Wange. Hanna starrt entgeistert in Marinas Richtung, die gerade dabei ist, ihre Schürze anzuziehen.
„Hat sie gegessen?“, fragt Marina. Hanna schnappt nach Luft.
„Was ist, Mutter?“, sagt Konrad.
„Wer ist das?“, sagt Hanna und deutet auf Marina. Ihre wässrigen blauen Augen wieder. Der ganze Schrecken in diesen Augen überschwemmt den Raum zwischen ihnen.
„Komm, Mutter. Das ist doch Marina“, sagt Wolfram.
„Die kennst du doch“, sagt Ülrik.
„Sie will dir nur helfen“, sagt Konrad und schaut zu Marina auf.
Marina schweigt.
„Gut, also los jetzt“, sagt Wolfram.
Sie werfen die Gewehre auf die Schulter.
„Kochst du Rehfleisch, Marina?“, fragt Ülrik plötzlich neugierig.
„Rehfleisch ist auch Fleisch. Ich koche gerne Fleisch“, sagt Marina.
„Ausgezeichnet.“
Während sie reden, öffnet sich hinter ihnen die Tür. Kuan betritt die Küche in Begleitung eines zweiten Mannes. Er stellt ein Fass auf den Boden und eine Plastikflasche auf den Tisch, an den sich die Männer unmittelbar setzen.
Konrad flüstert Marina ins Ohr:
„Nimm sie nicht ernst. Sie meint es nicht so.“
„Ich weiß ganz genau, wie sie es meint, Konrad. Für dich ist es leicht zu sprechen. Du verbringst ja nicht die ganze Zeit mit ihr. Sie macht dich kaputt im Kopf.“
Beide blicken auf Hanna hinunter, deren Schrecken nicht geringer geworden ist, sondern, im Gegenteil, er hat zugenommen.
„Wir haben dir einen Fünfziger auf den Tisch hingelegt“, sagt Wolfram.
„Was für Köstlichkeiten wirst du zu Abendessen kriegen, Mutter“, sagt Ülrik. Er küsst seine Fingerspitzen. Die Söhne gehen an den zwei Männern in der Küche vorbei. Sie verschwinden hinter der Tür.
5.
Die zwei Männer sitzen in der Küche und spielen Backgammon. Nachdem Marina Hanna beruhigt hat und ihr zwei Kissen unter den Kopf geschlichtet hat, geht sie zu den beiden hinüber. Die Männer trinken Schnaps aus der Plastikflasche. Sie reden über die Autowerkstatt, in der sie arbeiten. Diese Werkstatt droht ständig zu schließen.
Marina: „War Niko zuhause?“
„Das Fass steht dort“, sagt Kuan. „Voll. Sie meinen, sie wollen den Kürbis nicht. Schmeckt ihnen nicht mehr.“
Marina: „Wer sagt das?“
Kuans Faust erstarrt in der Luft, dann würfelt er. Die Würfel rollen auf dem Brett mit starkem Geräusch.
„Gut, dann werden wir wohl den Kürbis alleine aufessen“, sagt Marina.
Der zweite Mann lacht, als hätte er gerade einen sehr guten Witz gehört. Kuan wirft ihm einen ironischen, fast genervten Blick zu. Er würfelt. Er hält den Stein wieder lang in der Luft, als würde er sich den nächsten Zug überlegen. Sein Gesicht verrät ihn. Kuan denkt an was anderes, offensichtlich nicht an das Spiel. Er setzt den Stein.
„Wenn der Arsch wirklich kein Geld hat, warum fährt er dann mit dem Hubschrauber!“, sagt Kuan.
„Er fährt doch nicht mit dem Hubschrauber!“, sagt der zweite Mann.
„Nein? Und wo seine Tochter geheiratet hat, hat er sie nicht mit dem Hubschrauber zur Hochzeitsfeier gebracht?“, sagt Kuan.
„Das war einmal… eine Hochzeit“, sagt der zweite Mann.
Kuan nickt. Seine Miene sagt aber, dass er mit dieser Meinung gar nicht einverstanden ist. Marina steht regungslos zwischen ihnen. Sie starrt einfach dahin, so dass man nicht wissen kann, ob sie zuhört oder in eigenen Gedanken versunken ist. Hanna stöhnt leise wie vor Schmerzen auf dem Sofa. Niemanden scheint das Geächze zu unterbrechen, auch wenn es immer lauter wird.
„Mistkerl!“ brüllt Kuan. „Warum muss ich in alten Autoteilen wühlen, während er seinen Hubschrauber fährt!“
Der Schrei weckt Marina.
„Und die Kleine“, fragt sie… „Kann sie schon gehen?“
Kuan dreht sich mit dem ganzen Körper zu ihr. Dabei wird der Stuhl über den Boden gezerrt. Sein Rücken, gebeugt wie eine gewaltige Klammer, ist gegen den zweiten Mann gerichtet.
„Die Kleine“, sagt Kuan. „Sie hat ein bisschen Husten. Ihr geht es gut.“
„Sie hat Husten!“, sagt Marina. Schweigen. „Du hättest sie zu mir bringen sollen. Ich hätte sie gerne gepflegt. Oh, das arme Mausilein…“
Kuan sagt: „Du bist ja nicht da…“
Er dreht sich wieder zum Brett. Er nimmt die Würfel zwischen seine zwei Hände und schüttelt fest. Das Geräusch von rollenden Würfeln. Das regelmäßige Geräusch von rollenden Würfeln. Marina geht zum Kühlschrank, drückt auf den Knopf, um Wein in das Glas zu gießen. Der Rotwein fließt aus dem Karton. Marina nimmt einen Schluck. Lauteres Gestöhn aus dem Wohnzimmer.
6.
Hanna weint.
„Na, gefällt dir die Sendung nicht?“, sagt Marina.
Hanna blickt entsetzt herauf. Die Schattierungen, die Farben aus dem Fernseher flackern im Raum und färben Hannas verweintes Gesicht. Schweigen.
Unausgesprochenes, das in der Kehle steckt. Kratzt.
„Du musst etwas essen“, sagt Marina.
„… nicht essen“, sagt Hanna.
„Anaaa!“, sagt Marina. „Es gibt so eine gute Suppe im Kühlschrank. Champignonsuppe. Dir schmecken doch die Champignons sehr gut, oder?“
Auf dem Bildschirm laufen Models in Sommerkleidung über die Bühne. Die Moderatorin, das Mikrophon in der Hand, redet begeistert.
„Ich habe keinen Hunger“, sagt Hanna.
Marina mischt blaue Pillen in die bräunliche Flüssigkeit. Mit einem Plastiklöffel rührt sie die Suppe um.
„Hier!“, sagt Marina und hält Hanna die Schüssel hin. Der Löffel steht schief zwischen ihnen. Hanna will keine Suppe. Sie schüttelt lustlos ihren schönen Kopf.
„Wer bist du?“, fragt Hanna leise.
Marina sagt: „Iss, Ana. Es wird kalt.“ Sture Hanna. „Iss“, sagt Marina und schiebt den Löffel in Hannas Mund. Die Alte weigert sich zu schlucken, und ein paar Tropfen fallen in ihren Schoß.
„Blöde Kuh“, sagt Marina.
Hanna schaut verwundert vor sich hin.
„Ana“, sagt Marina. “Spiel kein Spielchen mit mir.“ Pause. Immer noch das Gleiche. Wer bist du?, fragen Hannas blaue Augen.
„Ich bin’s“, sagt Marina. „Nona“, sagt sie, als wäre das ein Schimpfwort.
„Nona“, wiederholt Hanna verträumt. Sie lächelt. Marina schiebt Hanna den Löffel in den Mund.
Hanna schläft ein. Im Fernsehen läuft ein Quiz. Wann und wo bildete sich die bis dato längste Menschenkette. Drei Varianten. Marina verfolgt die TV-Show gefesselt. Die
Konkurrenten schießen ihre Antworten. Marina fällt schwer, der Fremdsprache zu folgen. Ihr Handy klingelt.
Das Bild ihres jüngeren Sohns blendet sich auf dem Handybildschirm ein.
„Mama?… Hallo… Wie geht es dir?“
„Danke, mein Schatz. Mir geht es gut. Soll ich dich zurückrufen?“, sagt Marina.
„Nein, Mama. Ich kann mir doch die zwei Minuten leisten. Mach dir keine Sorgen!“, sagt der Sohn, obwohl Marina die Rechnung bezahlt.
Der Sohn studiert im Ausland, besucht eine Elite-Uni. Er ist ein guter Student. Sie telefonieren oft.
„Wie geht es dir, mein Schatz?“, fragt Marina.
„Mir geht es gut, Mama. Das Leben ist schön. Ich bin ein guter Student. Wir lernen so viel hier. Ich bin froh, im Ausland zu leben. Der Frühling ist gerade ausgebrochen“, sagt der Sohn.
„Wie schön. Das erfüllt mein Herz mit Freude“, sagt Marina. Sie sagt sowas Ähnliches in ihrer Sprache eigentlich. Beide atmen in den Hörer. Man hört sich gut, als wäre man nebeneinander. Man sieht sich. Der Fernseher läuft.
„Tja… ich sitze in diesem Fauteuil“, sagt Marina. „Seit ein paar Tagen belästigt mich der Rücken. Er gibt einfach keine Ruhe. Ich weiß es nicht. Es zieht sehr in diesem Zimmer, wo ich schlafe. Sie haben hier keine gescheiten Jalousien an ihren Fenstern. Ich glaube, es liegt daran.“
„Mama, das interessiert mich nicht“, sagt der Sohn. „Es ist so banal.“
„Das weiß ich, mein Schatz. Ich mag mich sonst nicht beklagen. Aber es tut gerade sehr weh“, sagt Marina.
Schweigen.
„Was gibt es sonst bei dir Neues?“, fragt Marina.
„Es ist gerade viel los, Mama“, sagt der Sohn. „Der Norden ist Dynamik pur. Alle Bauten glänzen. Wir führen zurzeit eine Forschung über das rohe Leben durch. Ein kollaboratives Experiment.“
„Toll“, sagt Marina. Im Fernsehen: ein Prunksaal. Eine aktuelle Popsängerin spielt die geliebte Prinzessin, die Tochter des letzten Kaisers. Es handelt sich um eine dramatische Szene. Marina schaut sich die Szene an.
„Ich muss jetzt los, Mama.“
Sie legen auf. Marina dreht den Fernseher wieder laut. Mit einer raschen Bewegung will sie aufstehen. Der Schmerz schießt ins Bein, tief, bis in die Fersen.