XX, XY oder
(zu?¹) einfach Mathilda
¹Soll hier ein Fragezeichen stehen? Vielleicht weiß der Text eine Antwort darauf.
XX. Man wird nicht als Frau geboren.2 Man wird als hilfloses Bündel geboren und bleibt es. Mathilda trägt die schmutzige Wäsche von einem Zimmer ins nächste. XX. Mathilda will an den Anfang zurück. Vom Ende ihres Lebens, das noch immer nicht angefangen hat, hat sie endgültig genug. Dass in ihrem Alter noch ein Neuanfang möglich ist, hält sie für eine Jugendlüge.3 Mathilda ist seit ihrer Jugend eine begnadete Lügnerin. Leider haben ihre Lügen nie viel Gnade gefunden. Das Leben insgesamt ist mit Mathilda nicht sehr gnädig gewesen. Viel stärker als an das Leben im Alter glaubt Mathilda an ihre Jugendliebe, die einmal angefangen und dann abrupt geendet hat, weil ihre Jugendliebe ein Alter erreichte, in dem sie die Gesetze des Alters anerkennen und Mathilda verlassen musste und Mathilda hat seitdem keinen Mann mehr geliebt.
„Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick … inzwischen ist die Ehe zur Institution der Liebe geworden und als solche ist sie noch um ein weniges hinfälliger als die meisten Institutionen der Zeit. Die Liebe wiederum ist seit ihrer Institutionalisierung ganz und gar heimat- und schutzlos geworden. Dagegen protestieren Männer wie Frauen, jeder auf seine Weise.“ Hannah Arendts Stimme klingt ihr wohltuend in den Ohren, wenn auch der philosophische Gehalt sie nicht gerade aufzubauen vermag.
Mathilda hört Radio. Weil sich die Dinge (Wäsche und vieles mehr) in ihrem Leben anhäufen, hat ihr der Mann ein kleines trag- und ansteckbares Radio4 gekauft, mit dem sie von einem Zimmer ins andere gehen und aufräumen kann, während er seinen Löffel im Suppenteller scharren hört, was heißt, dass die Grießnockerl endlich wieder einmal die richtige Härte haben.
Apropos Idylle und große Themen, schnell muss sie etwas nachschlagen bevor sie in die Badewanne geht – was hat sie da kürzlich gelesen über die nicht standesgemäße Ehe der Königsschwester Mathilde, der Schwester Kaiser Ottos II, mit dem lothringischen Pfalzgrafen Ezzo aus dem Nibelungenlied? Es könnte ja sein, dass sie dieses Detail für ihre bevorstehende Diplomprüfung braucht. „Bezogen auf die Gesamthandlung füllt Mathilde, die gemeinsam mit Ezzo in heftigen Auseinadersetzungen mit Heinrich II um ihre Besitzungen im Trierer Raum verwickelt war (Moselfehde) die Rolle der Kriemhild nicht aus; dies ist schon eher der Fall, wenn man die ottonische Mathilde durch die zweite Mathilde ergänzt, die mit ihrer Schwester Kaiserin Gisela und ihrem Schwager Kaiser Konrad verfeindet war. Das lässt auf ein zweites Prinzip der Einforderung politischer Geschichte schließen, dass nämlich mehrere historische Persönlichkeiten in einer epischen Figur zusammengefasst werden.“5
„Mathilde wächst ungebührlich lang und zum Glück auch breit“ so schreibt der Vater der Psychoanalyse über das Ergebnis der von ihm nachweislich zuerst befruchteten Eizelle, als dieses eben eine schwere Diphterie überstanden hat. In seiner Freude, oder auch um der Erleichterung nach der Anspannung und Sorge irgendwie Ausdruck zu geben, schießt er einen Pantoffel an die Wand und trifft damit eine Venusfigur aus seiner Sammlung.6 Im 12. Lebensjahr, schreibt er später, habe sie „etwas frühzeitig ihren Eintritt in die Weiblichkeit besiegelt.“7 „Mathilde ist ein ganzer Mensch und natürlich ein volles Frauenzimmer,“ so der Vater über seine Erstgeborene, während er inzwischen daran gegangen war, ein volles Kinderzimmer zu produzieren. Fünf Geschwister bekommt Mathilde. Als sie vom sechsten Kind erfährt, ruft sie aus „Warum noch mehr, wir sind schon so viele!“ Sie hat jetzt schon genug vom Kinder-Bekommen. Freilich gebiert ihre Mutter, aber Mathilde bekommt „die Kinder“8 oft in ihre Obhut übertragen. „Bei ihm bin ich immer die Dame“, so Mathilde stolz über ihren Vater, der sie beim Spazieren rechts von ihm gehen lässt.9 „Unlängst träumte ich von überzärtlichen Gefühlen für Mathilde“ … der Vater hält seine Träume fest, selbst die ungebührlichen; Mathilde widmet sich indes gewissenhaft dem Briefe Schreiben. „Und wenn ich nicht mehr schreiben kann, kann ich nicht existieren, ich war verzweifelt und verbrachte die ganze Zeit in Tränen. Gott sei Dank, jetzt ist der schreckliche Nervositätsanfall vorbei, ich kann wieder schreiben, bin wieder ein Mensch.“10
Es geht ihr um Wirkliches, Wahrhaftiges, Wünschenswertes, Wollendes nicht Willkürliches und… aber was genau soll das sein? 11
Wir hören ja nur erzähltes Leben der anderen, leben kann ich nur für mich selbst und das dann auch nur als erzähltes Leben mitteilen (so wie ein Traum nicht mehr Traum ist, wenn ich ihn erzähle und ich demzufolge auch keinen Traum zu erzählen vermag, sondern nur das nach dem Aufwachen im Nicht-Schlaf-Zustand Erinnerte)
Unlängst hat ihr die Freundin von einem Psychotherapeuten erzählt, der nur noch in den Geschichten von anderen lebt und diese wieder erzählt. Sind diese erzählten Geschichten bevor er sie weitererzählt dann sein eigenes Leben? Nein, jetzt muss sie mit dieser Denkerei aufhören, sonst wird sie verrückt und produziert überdies ganz bestimmt nichts Idyllisches. 12
Die nicht als Frau geborene Frau erwacht mit einem leichten Ziehen im linken Unterbauch. Wieder macht sich eines der noch verbliebenen Eibläschen voller Hoffnung auf potentes Sperma auf den Weg. Auf der allmonatlichen Schleimspur, die in den kommenden Tagen immer schleimiger wird, macht sich die Frau auf den Weg aus dem Haus. Lange vor ihr hat es der Mann verlassen, während die Frau zwischen den Zimmern hin und herging auf ihrer Schleimspur und abwechselnd ans Schreiben und an die Schleimspur dachte, die Mathilda schon hinter sich gelassen hat in irgendwelchen Unterhosen, Klomuscheln und Abflüssen. Die Frau hat am Morgen dem Mann noch ein x13 abgelockt, auf dass daraus ein XX oder ein XY werde. Solange sie es aushält, wird sie jetzt nicht aufs Klo gehen, um keine der potenziellen Möglichkeiten hinunterzuspülen. Auch in den späten Abendstunden besteht noch eine große Chance auf ein oder zwei weitere x, die die Frau anders als Mathilda in kein vorgedrucktes Formular in ein Sparkassenbankbelegsheft einträgt, sondern nur in ihren unfruchtbaren Hirnwindungen hin- und hersausen lässt.14 Mathilda hat in ihrem Leben über kein eigenes Konto verfügt. Ihre Ersparnisse hat sie in den Schlitz der Sparehe gesteckt, wo sich aber bereits die Schuldscheine türmen, denn Mathilda hat zu gewissen Zeiten Auszeit von der Ehe genommen und das hat die Ehe15 einiges gekostet. Die nicht als Frau Geborene hat in ihrem bisherigen Leben als Frau immer über ein eigenes Konto verfügt, wenngleich darauf stets nur negative Summen waren, mit denen sie schon zu Schulzeiten am liebsten gerechnet hat. Leider ist die Rechenregel, dass Minus mal Minus plus ergibt, noch nicht bis zu den Geldautomaten vorgedrungen, die die nicht als Frau Geborene zu allen Tages- und Nachtzeiten anfleht, augenblicklich von der Anzeige einer Rahmenüberschreitung Abstand zu nehmen. Wird die zur Zeit nur mit X und Y rechnende Kontobesitzerin bald außer Kopf und Körper auch ihr Konto der mit Zahlen nicht aufzurechnenden (nicht als) Mann (Geborenen?) -Frau-Zweisamkeit16 hingeben und auf monatliche Zuwendungen angewiesen sein?
Ihr Weg führt Mathilda ein Stück durch einen nicht von Touristen besuchten Bezirk der Stadt, der aus diesem Grund nur selten eine Straßen- und Gehsteigsreinigung erfährt. Deshalb befinden sich hier besonders konzentriert große Spuckepatzen, zerflossene Hundescheiße, die sich mit bereits getrocknetem, rotem Erbrochenen vermischt hat, Urinspuren17, die sich zum Teil noch nass, von den Hauswänden in Richtung Hauptverkehrsader ziehen, und, sofern Mathilda nicht darauf treten will, Barrieren bilden, die nur großen Schritts überwunden werden können, usw. usw. Mathilda muss konzentriert gegen das Bedürfnis ankämpfen, das grausliche Gehsteiggemälde mit ihrem halbverdauten Frühstück zu ergänzen. Sie steckt sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund, bleibt vorsichtshalber stehen, damit ihre Schuhe bei dem Blick nach oben, den sie jetzt ihrem Magen zur Beruhigung gönnt, vor Verunreinigung durch das Gehsteiggemälde verschont werden.
In diesem Bezirk gibt es keine städtische Weihnachtsbeleuchtung, aber die Leute, die hier wohnen, wissen sich und ihren Fenstern zu helfen: Bunte Lichtsterne wechseln von innen nach außen ihre Farben, Lichtvorhänge glänzen, Kerzenhalterbögen halten elektrische Kerzen. Tröstlich inmitten des Graus von Himmel und Häusern. Doch plötzlich schlägt ihre Stimmung in heftige Aggression um. Das ist zu viel. Sie will gewalttätig werden, sofort.
„Sie müssen sich Ihrer Bedürfnisse bewusst werden und diese dann einfordern – nur so können Sie glücklich werden! Die eigenen Bedürfnisse erkennen und sich durchsetzen!“ Immer öfter fragt sich Mathilda, ob sie wieder aus dem Raum-Zeit-Kontinuum gerutscht ist oder warum sie die Menschen um sich herum nicht versteht. Das Wort Bedürfnis ist ohne dass sie es bemerkt hätte allgegenwärtig geworden18. Bedürfnisse sind also offenbar modern, das jagt ihr einen Schauer den Rücken hinab. Bedürfnisse müssen rasch befriedigt werden und bedeuten Abhängigkeit, etwas das Mathilda nicht gerne in ihr Erwachsenenleben integriert sehen möchte. Denn sie versteht Bedürfnisse im Gegensatz zu Wünschen, dem Gewollten als nicht ihrem Willen unterworfene! 19
Mathilda läuft Amok20. Sie reißt einem ihrer Chromosomen ein Bein aus:
XX – ½ / = XY
Mathilda ist männlich21.Jetzt kennt seine Wut keine Schranken. Sein Zorn und sein Maschinengewehr machen ihn mutig. Er befindet sich auf Kriegszug im Großstadtdschungel, um die Menschheit zu retten. Vor der Invasion. Wohin er auch blickt – er steht noch immer dort, wo sie stehen geblieben ist, um ihren Blick vom Gehsteig in die Höhe zu richten – sieht er rotweißgewandete Gestalten an den Hauswänden hochklettern. Sie benützen Strickleitern, erreichen schon fast die Fenster, manche sitzen auf Dachsimsen oder seilen sich von Balkonen ab oder zu ihnen empor. Mathilda steigt in den Stockautobus und setzt sich oben auf einen Fensterplatz. Der Stockautobus prescht dahin, Mathilda ist in Fahrt: „Una mattina, mi son alzato ed ho trovato l’invasor!“ Er schlägt mit dem Gewehrkolben die Scheibe ein und schießt auf die rotweißen Männer. Rttttttttt. Rttttttttt. Rttttttttt. Rtttttttt. Rttttttttt. Rttttttttt. Rtttttttt. Rttttttttt. Rtttttttt. Rttttttttt. Rtttttttt. Rttttttt. Rtttttttt.22 Rttttttttt. Rtttttttttt. Rttttttttt. Rttttttttt. Rtttttttt. Rttttttttt. Rtttttttttt. Rttttttttt. Rttttttttt. Rttttttttt.
Eine lange Spur von Einschusslöchern ziert nun die Häuserfronten entlang der Autobuslinie. Fenster zerbersten. Menschen schreien. Wird einer der Fassadenkletterer im Rücken getroffen, knickt sein Oberkörper nach hinten, so dass der Hinterkopf auf die Fersen baumelt. Mathilda trifft viele. Lauter weißrote, gefaltete Bündel hängen schlaff herab, von manchen fällt ein goldener Rucksack zu Boden, manch einer klatscht auf das Gehsteiggemälde und der Brei, auf dem er landet, spritzt die entsetzt aber vergebens zurückweichenden FußgängerInnen an.
Sie schlägt die Zeitschrift wieder zu und dreht das Radio auf: „Tell me why – I don’t like Mondays. I don’t like … I don’t like …“
Sie fasst sich ein Herz und einen Stift und schreibt. Sie schreibt dafür, dass alle Menschen so unüblich leben und so besonders eigenartig sein dürfen, wie sie wollen,23 und dass die Gesellschaft, die doch nur ein anderer Begriff für „alle Menschen“ ist, endlich aufhören soll, Druck zu machen. Kaum hat sie „alle Menschen“ geschrieben, fällt ihr sofort „… werden Brüder“ ein.24 Die Gesellschaft sitzt in ihrem Kopf und lacht. Als Frau wird sie nie ein Bruder werden und immer ein Sonderfall bleiben. Ein besonderer Fall, ein ganz besonderer Fall, denkt sie und jetzt lacht sie. Und schreibt weiter. Immer weiter.
1Soll hier ein Fragezeichen stehen? Vielleicht weiß der Text eine Antwort darauf.
2 „On ne naît pas femme. On le devient“ (Simone de Beauvoir). Im Internet findet sich dazu ein literarisches Forum, in dem sich Männer und Frauen über den natürlichen oder kulturellen Status des (weiblichen) Geschlechts unterhalten und dabei immer wieder, dass Mädchen von Natur aus einfach charmanter sind! http://www.etudes-litteraires.com/forum/sujet-1198-citation-nait-femme-devient
3 „… eine Lebensform, deren Weibchen – Kindheit und Alter zusammengenommen länger in unfruchtbarem als in gebärfähigem Zustand leben, das verlangt nach einer Erklärung.“ Süddeutsche Zeitung. Wissen. München, Mai 2005, S. 81. Das Rätsel der länger als jedes Säugetier jenseits ihrer Fruchtbarkeit lebensfähigen Frau beschäftigt die BiologInnen von heute. Abseits vom Mythos des ewigen Jungbrunnens, der Frauen eine x-fache Jugend ermöglichen soll, erklären sich die ForscherInnen – wie beispielsweise die finnische Evolutionsbiologin Mirkka Lahdenperä von der Universität Turku oder Kristin Hawkes von der Universität von Utah in Salt Lake City – die „verlängerte postreproduktive Phase“ (Hawkes) der Frau mit dem überlebenswichtigen Einfluss der Großmutter auf die Verbreitung der genetischen Erbmasse durch ihre Kinder (und Enkelkinder und so weiter)
4 Die Verwendung von Transistoren hat Gewicht und Größe der R.-Empfänger sehr herabgesetzt und damit den Bau von Reise- und Taschenempfängern ermöglicht. Der Brockhaus, S. 692. Wie mit einer Reiseschreibmaschine wird auch mit einem Reiseradio selten gereist.
5 Dietmar Breuer und Jürgen Breuer: Mit spaeher rede. Politische Geschichte im Nibelungenlied, S.122f.)
6 Günter Gödde, Mathilde Freud, S 47
7 Was meint er? Hat sie den „Eintritt in die Weiblichkeit“ mit ihrem ersten Monatsblut besiegelt? fragt sich die Schreibende, die seit einiger Zeit nur mehr Dreimonats- bis Halbjahresblut hervorbringt. Auch Mathildes Biograf Gödde schweigt dazu.
8 Bildunterschrift in Gödde, S 50 „Die Älteste mit den ‚Kindern‘“
9 Über diese Rechts-Regel weiß die Schreibende nichts. Die Zeiten haben sich wohl geändert. Außerdem ist sie keine Dame.
10 Mathilde an ihren Jugendfreund Eugen Pachmayr am 23. September 1903
11 Vielleicht sind das die sogenannten großen Themen?
12 Jetzt fällt ihr zu allem Überflluss auch noch Max Stirners Satz ein: Ich bin einzig und grundlos, damit aber über allem, was ist, weil es nur durch mich ist.“ (zitiert nach Spectrum, Die Presse vom 24.Juni 2006, Seite I)
13 In der Fruchtbarkeitstabelle (legende) von Mathilda konnotiert das x einen erfolgten (ob erfolgreich, wird sich weisen!) Koitus.
14 Die Schreibende hat Stress. Sie ist zur Zeit keine Schreibende, sondern eine Schreiben-Sollende. Sechs Seiten sollen es insgesamt werden. Am 32. Dezember ist es zu spät, und ihr fallen nur Aphorismen wie dieser ein, der nicht einmal von ihr ist, sondern aus der Werbung einer Bank oder Versicherung mit günstigen, aber befristeten Konditionen, irgendwann im vergangenen Jahrtausend. Sie kann sich nur damit trösten, dass ihre Freundin wahrscheinlich auch Stress hat. Vielleicht Stress mit ihrem Mann und den drei Kindern. Eine andere hat auch einen Mann, und zwei Kinder. Die dritte hat einen Mann, und ein Kind wächst gerade in ihrem Bauch. 3-2-1-0, eine Art Countdown der Fruchtbarkeit, die in der Schreiben-Sollenden ihren Tiefpunkt erreicht. Auch das macht Stress. Diesbezüglich gibt es zwar keine eigene Vereinbarung unter den Freundinnen, aber dafür mächtige gesellschaftliche Übereinkünfte, wonach es eher unüblich und nicht normgemäß ist, im Alter der Schreiben-Sollenden keinen Lebenspartner (männlichen Geschlechts) und keine Kinder zu haben.
15 Jetzt den Brockhaus von 1981 wieder zu Rate zu ziehen, erscheint verführerisch. Die Schreibende widersteht. Zur Ehe muss nicht viel gesagt werden außer ja oder nein. (?)
16 „Mehr Zinsen zu zweit“, wirbt die Erste Bank. Sie werden vielleicht bald zu dritt sein, was das erst für Zinsen ergeben wird!
17 Das Ergebnis der nachweislich zuletzt befruchteten Eizelle der Schreibenden unterbricht dieselbe: „Was gibt’s wann zu essen?“ Die Schreibende, schon seit Tagen mit diesem Text schwanger gehend, während eine andere, erstmals mit einer befruchteten Eizelle schwanger gehende Schreibende schon längst einen Text, mit dem sie schwanger gegangen war, geschrieben hat, ist offenbar dem Irrtum erlegen, sich für vorliegenden Text Zeit freigeschaufelt zu haben, heute am Feiertag, der gleichzeitig ihr Geburtstag ist. Innerlich ungehalten empfiehlt sie die Selbstzubereitung eines Frühstücks und stellt das Festtagsessen erst in fünf, sechs Stunden in Aussicht. Nicht ganz ohne schlechtes Gewissen.
18 Obwohl ihrer Meinung nach kaum noch jemand Bedürfnisanstalt oder froh zu sein bedarf es wenig sagt.
19 Neuen Theorien der Hirnforschung zufolge soll es zwar auch gar keinen freien menschlichen Willen geben, obwohl sie so tut als ginge sie diese Idee nichts an. Doch immer wieder liest sie über dieses Thema nach: „Im Kern geht es um die Interpretation eines wissenschaftlich gesicherten Sachverhalts: Mehrere Hirnforscher haben durch klinische Experimente nachgewiesen, dass das Gehirn Entscheidungen produziert, bevor sie dem Menschen bewusst werden. Ist dem Menschen diese Entscheidung bewusst geworden, so ist er der Meinung, er hat diese Entscheidungen getroffen.
Vorausgesetzt, diese Erkenntnis ist wissenschaftlich gesichert und damit eine unumstössliche Tatsache: Wie ist sie zu interpretieren? Wer trifft die Entscheidungen und wer ist damit auch für diese Entscheidungen verantwortlich? Das genau ist das Problem, das Hirnforscher seit mindestens 10 Jahren zur Diskussion stellen.“ (www.soryal.de/story 2005/schwarm.htm)
Hirnforscher also, keine Hirnforscherinnen? Wieder einmal hat der Matilda-Effekt zugeschlagen. Der Matilda-Effekt beschreibt die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Wissenschaftlerinnen in der Forschung, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird. Der Effekt wurde 1993 von der Wissenschaftshistorikerin Margaret W. Rossiter postuliert. Benannt ist er nach der US-amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda J. Gage, die am Ende des 19. Jahrhunderts dieses Phänomen als erste allgemein beschrieben hat. Bekannte Fälle aus dem 20. Jahrhundert sind Rosalind Franklin und Lise Meitner.
20 Der Schreibenden ist nicht bekannt, dass es je Amokläuferinnen gegeben hat. Wann hat eine Frau wahllos PassantInnen einer Straße oder MitschülerInnen und LehrerInnen einer Schule erschossen, ein Massaker in einem Kaufhaus angerichtet, alle ihre Familienmitglieder erstochen? Das Ergebnis der nachweislich zuletzt befruchteten Eizelle weiß es: am 29. 1. 1979. Brenda Ann Spencer, damals 16 Jahre alt, erschoss zwei Personen und verletzte neun weitere. Sie begründete ihre Tat mit dem später zum Titel eines Hits der Boomtown Rats gewordenen Ausspruch: „I don’t like Mondays“. http://de.wikipedia.org/wiki/Brenda_Ann_Spencer.
21 Bei dieser Formel und ihrem Ergebnis macht es sich Mathilda zu einfach. Sie_er sollte sich mal mit Inter*personen zum Beispiel über chirurgische Eingriffe zur Herstellung einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit und das damit verbundene Leid unterhalten. Dem Chromosomen ein Bein, aber sich selbst keinen Haxen ausreißen – sollen die Schreibenden das Mathilda wirklich durchgehen lassen? Wir werden ja gleich sehen, wohin das führt!
22 Die Schreibende nützt nicht die Kopierfunktion des Wordprogramms, sondern tippt jedes „Rtttttttt“ einzeln ein. Das klingt ein bisschen nach Maschinengewehr. Es macht ihr Spaß. Typischer Fall von Sublimierung natürlich.
23 Wollen? Wem will sie erzählen, dass sie keine PartnerInschaft will? Und doch, neulich an ihrem Geburtstag, war sie aufgewacht und hatte als ersten, unzensurierten Gedanken den gehabt, dass alles genauso war, wie sie es wollte, wenn sie in ihrem eineinhalb-breiten Bett aufwachte und neben sich den Kater schnurren hörte.
24 Oft genug hat sie im Chor bei Konzerten den Schlusssatz der 9. Symphonie von Beethoven mitgesungen. Sie hat dabei alles gegeben. Einmal wäre sie fast vom Podium gefallen, so sehr hatte sie sich ins Zeug gelegt für die große „Bruderschaft“. Erst vor kurzem hatte sie im Radio gehört, dass Schiller seinen Text, die „Ode an die Freude“, den Beethoven in der 9. Symphonie teilweise vertonte, für eine Freimaurerloge geschrieben hatte. Na bestens. Von Freimaurerinnen hat die nunmehr Schreibende noch nie etwas gehört, aber Altistinnen wurden im Chor sehr wohl gebraucht, und die heikelste Stelle hatte Beethoven den Sopranen zugeschrieben, zum Text „über Sternen muss er wohnen“, der auf einer hohen Note nicht aus Leibeskräften herausgebrüllt, sondern im Gegenteil sehr zart, schwebend und ahnungsvoll gestaltet werden sollte, womöglich auch noch mit verständlichem Text, obwohl ein Insider-Tipp lautete, die Vokale eher in Richtung „a“ zu denken, um die für die Tonproduktion ideale Mundstellung zu erreichen: „abar Starnan mass ar wahnan“. „Wanan“, also Wienerisch weinen, mass, pardon muss, die Schreibende, aber nicht mehr Chor-Singende oft heute noch, wenn sie die 9. von Beethoven hört und die ihr mehrfach eingedrillte Altstimme (sollte es sich nicht um eine Darbietung im Konzertsaal, bei der sich andere Zuhörende durch ihre lautstarke Anteilnahme gestört fühlen würden, sondern aus der Konserve handeln) mitsingt. Sie ist überhaupt recht rührselig – bei großen Worten und Gefühlen kann sie die Tränen schwer zurückhalten, ob es sich nun um die „Ode an die Freude“ oder Hollywoodkino handelt. Bei Happy-Ends ist es fast noch schlimmer, als wenn die Geschichte schlecht ausgeht.