Aktivismus leicht gemacht

 

Aktivismus ist ein lebenslanger Lernprozess, welcher spezifisches Knowhow erfordert, um am Puls aktueller Positionierungen der jeweiligen Polit-Bubbles zu bleiben und zu wissen, wogegen man gerade zu sein hat. Für diejenigen, welche am Anfang ihrer Aktivismus-Karriere stehen, scheint es schier unmöglich, jemals das gleiche Wissen zu erlangen, wie die Veteran_innen1

An dieser Stelle soll ein bescheidener Versuch unternommen werden, aus meinen bisherigen politischen Erfahrungen einige wichtige Handlungsgrundsätze zu formulieren, welche sowohl der_dem unbedarften Einstiegsaktivist_in, als auch der_dem ausgereifteren Aktivist_in zur Orientierung dienen können.

 

1. Die Politisierung der_des unbedarften Einstiegstaktivist_in

Wenn du auf eine Person triffst, die frisch in deiner politischen Szene auftaucht, sich für Politik und Aktivismus interessiert, aber irgendwie noch nicht so ganz durchblickt, wie hier der Hase läuft: Sei solidarisch! Achte penibel darauf, die Person auf disziplinierte und unempathische Art zurechtzuweisen. Wenn diese Person etwas nicht so formuliert, wie es sich gehört, vermeide tunlichst zu erklären, was an dem Gesagten problematisch ist. Wichtig ist, dass die Person erschüttert ist. Wenn notwendig, unterstreiche die Untragbarkeit des Geäußerten, indem du dich demonstrativ abwendest.

 

2. Die Kunst der Komplexitätsreduktion – die Attraktivität manichäischer Welterklärungen

Viele Thematiken, auf welche du im Laufe deiner Aktivismus-Karriere triffst, scheinen zu Beginn komplex und verworren. Doch der Schein trügt! Lasse dich nicht dazu verleiten, dich differenziert mit unterschiedlichsten Thematiken auseinanderzusetzen. Ordne dich lieber einem der bestehenden Lager unter. Im deutschsprachigen Raum ist häufigster Spaltungsgrund in linken Kontexten der Nah-Ost Konflikt, welcher Linke sorgfältig in „Anti-Imps“ und „Anti-Deutsche“ trennt. Hier ist es wichtig zu entscheiden, wo deine Solidarität liegt. Entscheide weise. Je nachdem wirst du fein säuberlich in eine vorgefertigte Kategorie verfrachtet, werden sich Bündnisse und Spaltungen, Freundschaften und Feindschaften ergeben. Eigentlich gibt es stets nur eine richtige Position zu jedem Thema. Und diese ist gut. Alle anderen Positionen sind falsch und böse, deren Anhänger_innen gilt es zu bekämpfen.

 

3. Die „richtige“ Analyse – ein Plädoyer für Dogmatismus

Hast du eine Entscheidung getroffen, die dein weiteres Leben beeinflussen wird, gilt es diese um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Lass dich nicht auf potentiell konstruktive Diskussionen mit Personen anderer Meinung ein. Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Immerhin vertreten sie nicht deine Position und hängen somit einer „falschen“ Analyse an. An dieser Stelle eröffnen sich dir zwei Möglichkeiten: Die eine ist, diese irregeleiteten, problematischen Menschen still und heimlich ob ihrer Unfähigkeit zu bedauern; der bevorzugte Umgang unter Aktivist_innen ist jedoch die Konfrontation dieser Andersgläubigen – entweder von Angesicht zu Angesicht, oder doch lieber im Internet.2 Sowohl bei der direkten als auch bei der indirekten Konfrontation ist es wichtig, jegliches Potential eines konstruktiven Gesprächs zu verunmöglichen, mit möglichst konnotationsschweren Begriffen um sich zu werfen und der Polemik zu frönen.3

 

4. Postmoderne Sinnentleerung(en) – von der Intersektionalität zu den Oppression Olympcis

Keine Sorge, ist von Olympics die Rede, so ist nichts Sportbezogenes im bürgerlichen Verständnis der Mehrheitsgesellschaft gemeint. Sport ist, wie du sicher bereits gelernt hast, neoliberal und der Selbstoptimierung zur besseren Verwertbarkeit im Kapitalismus zuzurechnen – und somit tunlichst zu vermeiden. Punkt 4 betrifft dich vor allem dann, wenn du in politischen Bläschen unterwegs bist, die sich postmodernen Denktraditionen verpflichtet fühlen.4 Wobei Judiths Kritik an identitätspolitischem Sektierertum irgendwie doch nicht so ganz angekommen ist. Kann passieren. So ergibt sich eine Szene, die sich vom Marginalisierten zum Marginalisierten im Marginalisierten (usw.) spaltet und in als homogen verstandene Kleinstgrüppchen zurückzieht. Soweit, so nachvollziehbar.
Das bedeutet: Bist du von etwas betroffen, so gehört es zum guten Ton, sich überzeugt mit dieser Betroffenheitsposition, die dir die beschissene Gesellschaft zuweist, zu identifizieren. Sie verleiht dir gleichzeitig deine Position in postmodern geprägten Polit-Kontexten. Motto ist: Je geschissener du es (tatsächlich/vermeintlich/theoretisch/…) aufgrund deiner (tatsächlichen/vermeintlichen/theoretischen/…) Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in der Mehrheitsgesellschaft hast, desto schützenswerter bist du. Hierbei ist irrelevant, was du tatsächlich erlebt hast oder wie deine Lebensrealität aussieht. Strukturell vorhandene Gesellschaftsverhältnisse werden eins zu eins auf Einzelpersonen übertragen. Für jede Betroffenheit werden dann Punkte vergeben. Ich weiß, du blickst gar nicht mehr durch. Deswegen hier eine Aufschlüsselung:


0 Punkte: Da es nicht darum geht, dass es allen gut geht, sondern darum, dass alle gleichermaßen leiden, solltest du dich zunächst einmal richtig schämen. Strukturell gesehen entsprichst du den normativen Gesellschaftsvorstellungen. Das bedeutet natürlich, dass du immer ein geiles Leben hattest. Was für Probleme könntest du schon haben? Halt die Klappe, hör auf, rumzusudern und mach gefälligst deine Hausaufgaben! Bei der Musikband „Ärzte“ heißt es: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es ist nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Ein klassisches Beispiel für das Weltbild privilegierter weißer Dudes. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Es ist die Schuld deiner direkten Vorfahren, dass die Welt so ist, wie sie ist, und so was vererbt sich. Eigentlich ist dir nicht mehr zu helfen. Hier ist deine Peitsche, Kartoffel! Verzieh dich!

1 Punkt: Glückwunsch, du bist in den Augen der Mehrheitsgesellschaft seltsam! Aber das beeindruckt niemanden so wirklich. Bild dir bloß nicht ein, du seist jetzt etwas Besseres, nur weil du ab und zu mal scheiße behandelt wirst. Andere haben es viel schlechter. Deine Anwesenheit wird gnädigerweise toleriert.

2 Punkte: Na, das wird ja noch was hier! Du hast den Bruch mit der Mehrheitsgesellschaft erfolgreich vollzogen. Deinen Opfer-Punkte Ausweis trägst du sichtbar vor anderen Aktivist_innen her. Aktivist_innen mit 0-1 Punkten schauen respektvoll zu dir auf.

3 Punkte: Deine Position ist gesichert. Aufgrund deiner Zugehörigkeit zu strukturell unterdrückten Gruppen hast du Expert_innenstatus und bist in der Lage, für alle zu sprechen, die strukturell genauso unterdrückt werden wie du. Ab und zu disst du Aktivist_innen mit 0 Punkten, weil du dich ohnmächtig fühlst und nicht weißt, wohin mit der ganzen Wut in dieser Scheißgesellschaft. Wagt es dein Gegenüber, eine Diskussion über das von dir Gesagte anzufangen, wirfst du ihm_ihr [insert random –ism], tone policing, silencing, gaslighting oder ähnliche Anglizismen um die Ohren. Runde dies mit der Verleihung des Titels White Feminist ab. Wenn du es dir richtig gönnen willst, erkenne ihm_ihr gleich den Titel Feminist_in ab.

>4 Punkte: Du bist der Star. Du bist eine Anhäufung unterschiedlicher Betroffenheiten. Intersektionalität ist dein zweiter Name. Du forderst Reparaturleistungen von den 0-1 Punkte Aktivist_innen und versprichst ihnen Absolution für ihre problematische Existenz. Du bist flexibel mit den Wiedergutmachungsangeboten. Deine Miete wird bezahlt, einen Pole-Dance Kurs hast du auch schon bekommen und mit einem Fingerzeig stürzt sich ein Mob bedingungslos solidarischer 0-1 Punkte Allies auf jene, die sich deiner Autorität nicht so beugen, wie du dir das vorstellst. Du hast den Durchblick, was Theorie und Praxis angeht. Du kannst gar nichts falsch machen. Und ganz ehrlich – wenn du doch mal scheiße baust, ist es nur, weil du so unterdrückt bist und insbesondere 0-1 Aktivist_innen dir deine reinen, safer spaces versauen.

 

5. Repräsentation als Selbstzweck

Die Frage nach Repräsentation ist eine von höchster Wichtigkeit. Hierbei ist der Anspruch auf feministischen Aktivismus ein besonders strenger. Die Lehre, welche für die politische Praxis aus der Intersektionalität gezogen wurde, ist, dass immer (!) alle unterdrückten Personen(-gruppen) repräsentiert sein müssen. Das bedeutet, dass du dir den Titel Feminist_in nur dann verdienst, wenn du beispielsweise in deinem Veranstaltungseinladungstext ALLE Unterdrückungen aufzählst. Achte darauf, Unterdrückungsverhältnisse sorgfältig nach tagespolitischen Geschehen zu hierarchisieren und die marginalisierteste der marginalisierten Gruppen klar zu benennen. Erwähne jene, die es eigentlich eh nicht so schlimm haben, dennoch pseudohalber ebenfalls. Es geht nicht darum, politische Forderungen zum Ausgangspunkt der Revolution zu machen, sondern bestimmte Personen(-gruppen), die es am härtesten haben! Tust du das nicht, brauchst du dich nicht wundern, wenn dir der Titel Feminist_in gleich wieder öffentlich aberkannt wird. Sollte dich das extrem verletzen – gut so! Reflektier dich gefälligst und vergiss nicht: Deine privilegierten Tränen interessieren niemanden!

 

6. Sprache ist alles – Educate yourself!

Du kapierst nicht, was all diese Wörter, Phrasen und Anglizismen bedeuten? Glückwunsch, wir leben im 21. Jahrhundert und du hast das Privileg namens Google. Neben Zwang zur Lohnarbeit, dem Putzen des Katzenklos und sonstigen Verpflichtungen hast du, wenn wir uns ehrlich sind, massig Zeit, immer am neuesten Stand feministischer und linker Diskursverschiebungen zu sein. Bist du das nicht, dann ist offensichtlich etwas falsch mit dir. So schwierig ist das doch nun wirklich nicht. Sternchen oder Unterstrich, SWERF, TERF, White Feminism, Nationalismus, Kapitalismus…wenn du nur wirklich willst, kannst du dich informieren, was es mit all dem auf sich hat. Und bitte, frag bloß nicht nach. Andere Aktivist_innen sind nicht deine Lexika. Bist du laut Einschätzung anderer Aktivist_innen nicht fähig oder gewillt, dich immer und zu jedem Thema so auszudrücken, wie es sich in den jeweiligen Szenen gerade gehört, brauchst du dich nicht wundern, wenn dir jemand den Stempel „problematisch“ ins Gesicht schmeißt. Ist es soweit, und es kommt zum solidarischen „calling-out“, dann schweig , hör nur zu und übernimm 1:1 das Fremdbild deiner Person.

 

7. Umgang mit als problematisch entlarvten Subjekten bzw. Gruppen – Die eigenen Reihen rein halten!

Entlarvst du oder dein politisches Umfeld eine Einzelperson als problematisch und oppressiv, gilt es schnell zu handeln! Dabei ist einiges zu beachten. Erstens: Sei dogmatisch! Dich hat es nicht zu interessieren, wie und warum sich eine Person im jeweiligen Kontext so geäußert oder verhalten hat. Dich hat es auch nicht zu interessieren, was die Person im Nachhinein darüber zu sagen hat. Fakt ist, dass die Person sich problematisch verhalten hat, was den Rückschluss auf das ganze Wesen der Person zulässt. Ja, du hast richtig verstanden! „Fehler“ und dergleichen passieren nicht einfach so. Sie sind in der Essenz der jeweiligen Person selbst zu verorten. In einem zweiten Schritt gilt es, das Mittel des sogenannten „calling-out“ zu ergreifen. Das bedeutet, die Person vor möglichst vielen Aktivist_innen als zutiefst problematisch zu identifizieren und öffentlich Konsequenzen einzufordern.
Ist die Person in politischen Gruppen organisiert, müssen diese darauf hingewiesen werden, was für ein Mensch in ihren Reihen weilt. Gleichzeitig wird gefordert, diese Person aus der Gruppe zu werfen und sich öffentlich zu erklären. Verweigert sich die jeweilige Gruppe, ist sie Kompliz_in und jegliche weitere politische Zusammenarbeit mit ihr abzubrechen. Wer dennoch Kooperationen eingeht, ist um keinen Deut besser, als die problematische Gruppe, die den_die problematische Person schützt.
Ach, weißt du was – das ist alles zu kompliziert und belastend! Am besten, du bleibst unter deinesgleichen und ihr veranstaltet regelmäßige radical self-care Abende, die ihr mit Netflix und emanzipatorischer Esoterik verbringt. Oder du bleibst einfach alleine zu Hause, denn der Rückzug ins Private ist empowernd und widerständig, in dieser kaputten neoliberalen Leistungsgesellschaft! Es sind sowieso letzten Endes alle außer dir früher oder später problematisch.

 

8. Umgang mit solidarischer Kritik – Reflexion durch lustvolle Selbstgeißelung

Es ist passiert. Jemand sagt, du hättest Scheiße gebaut, hättest dich problematisch verhalten oder würdest [insert random –ism] reproduzieren. Kein Stress, passiert den Besten. Aber Vorsicht: Hier gilt nicht die Unschuldsvermutung.
Bist du erst einmal auffällig geworden, stehst du unter strenger Überwachung. Jedes weitere Vergehen wird addiert und ehe du dich versiehst, beschreibt das Adjektiv „problematisch“ dich in deiner Gesamtheit. Freundschaften werden gekündigt, es hagelt Raumverbote, und eigentlich wäre es am besten, wenn du deine Aktivismus-Karriere niederlegst. Die offensichtlichste Lösung ist: Plappere einfach alles nach, was dir so vorgeplappert wird. Solltest du doch einen Hang zum selbstständigen Denken und kritischen Hinterfragen haben, mein Beileid. You brought this onto yourself.

 

9. Generalverdacht White Feminism – Oder: Positionier dich mal!

Das Private ist politisch. Das gilt es unbedingt in aktivistischen Kontexten zu berücksichtigen! Gleich nach der Pronomenrunde sollte eine Positionierungsrunde stattfinden – dann weiß jede_r gleich Bescheid, wer was zu melden und wer nichts Relevantes beizutragen hat. Fordert also jemand von dir, dich zu positionieren, leiste dem unbedingt Folge! Pack alles aus, worüber du sonst nur mit engen Freund_innen reden würdest! Das Plenum ist ein safe space, solange du dich an die Spielregeln hältst und deinen Platz kennst. Kommt es zu einem Konflikt, vergiss alles, was du bisher über Deeskalation und konstruktive Lösungsvorschläge gehört hast: Es kommt einzig und allein auf deine Unterdrückungspunkte an. Hast du weniger, halt einfach die Klappe und hör zu. Hast du mehr – Glückwunsch! Die Runde geht an dich! Weigert dein Gegenüber sich, auf diese identitätspolitischen Spielchen einzugehen, dann brülle einfach deine Betroffenheiten in den Raum, bis es endlich angekommen ist. Dann wirf die Person aus der Struktur raus.
Organisierst du eine Veranstaltung, muss jede Person in der Orga zumindest einige Sätze über sich und die Familiengeschichte für alle sichtbar ins Internet stellen, damit ganz klar ist, wer hier organisiert. Es empfiehlt sich, diese schriftliche Positionierung mit Klarnamen, Wohnadresse und Lichtbildausweis zu kombinieren. Das erleichtert auch fehlgeleiteten Männerrechtlern und Nazis die Recherchearbeit. Eine win-win Situation!

 

1 Mir ging es damals nicht anders. Irgendwann habe ich verstanden, dass es nicht darauf ankommt, alles zu wissen, sondern zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Schlagwörter geschickt in Sätze zu integrieren. Aber auch das erfordert Übung und sollte nicht unterschätzt werden!

2 Achtung! Wählst du die Online-Variante der Konfrontation, kann es durchaus vorkommen, dass sich selbige über mehrere Stunden oder gar Tage ziehen kann! Schätze also ab, inwiefern deine Ressourcen hierfür vorhanden sind.

3 Pro-Tipp: Screenshots machen und empört an all deine Freund_innen schicken. Nutze diese strategisch in weiteren Konfrontationen. Screenshots verjähren nicht und können später noch effektiv zur Entlarvung jener Aktivist_innen herangezogen werden, die es einfach nicht verstehen wollen.

4 Judith Butler hat in den 90ern die Frage aufgeworfen, was denn nun allen Frauen gemein sei und dazu aufgerufen, Identitätszugehörigkeiten zum Ausgang politischer Kämpfe zu machen. Judith, you tried.

Prosa#4PS