Fantômas gegen das multinationale Vergessen – Erinnerung als Widerstand
eins.
1975 veröffentlicht Julio Cortázar die Erzählung „Fantomas gegen die multinationalen Vampire“. Eine Comic-Strip- und Text-Collage, in der literarische Wirklichkeit und Fiktion ineinander verschwimmen. Ein Erzähler, Cortázar selbst, reist von Brüssel nach Paris, kauft am Bahnhof ein Comic-Heft des mexikanischen Novaro Verlages. In „Intelligenz in Flammen“ (eine tatsächlich von Novaro herausgegebene Bonus-Geschichte zu einem Fantomas-Heft) verschwinden sämtliche Bücher (auch die von Cortázar) aus den Bibliotheken. Fantomas verbündet sich mit den Autorinnen und Autoren, der Erzähler konferiert mit Susan Sontag, der Inhalt seiner Lektüre schwappt in seine Erlebnisrealität über, die Bücher sind tatsächlich weg.
Am Ende der Kriminalgeschichte steht nicht die Auflösung des Kriminalfalls, sondern die Einsicht Fantomas’, dieses Verbrechen nicht ohne Untersuchung der größeren Zusammenhänge und nicht ohne Hilfe einer solidarischen Gemeinschaft aufhalten zu können. Cortázar, der selbst am Mitte der 1970er in Brüssel abgehaltenen zweiten Russell-Tribunal über Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika und Südafrika teilgenommen hatte, integriert die Erkenntnisse und Anklagen des Tribunals in die Erzählebene der Geschichte. Menschenrechtsverletzungen und Versuche der Anklage durch das Tribunal werden mittels Koppelung mit einer popkulturellen Chiffre einem literaturinteressierten Publikum zugänglich gemacht.
zwei.
Von vorne: Fantomas, das ist nicht nur Schauspieler Jean Marais mit ungesunder Gesichtsfarbe, gejagt vom konfusen Kommissar Juve (Louis de Funès) in den Filmen von André Hunebelle aus den 1960ern. Fantomas, das ist auch nicht nur Figur der fünfteiligen französischen Filmreihe von Louis Feuillade aus den Jahren 1913/14. Fantomas, das ist zuallererst Protagonist in über 40 von Pierre Souvestre und Marcel Allain zwischen Februar 1911 und September 1913 produzierten Kriminalromanen.
Auch hier unterstehen die Geschichten nicht dem Diktat der Aufklärung, stets entkommt am Ende der Schurke Fantômas (hier in der Schreibweise mit Zirkumflex). Er verwandelt sich, seine Identität bleibt ungeklärt, selbst seine Fingerabdrücke sind die eines anderen. Mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten gibt er das Treiben der Polizei der Lächerlichkeit preis. Sein Hauptquartier befindet sich direkt unter dem Justizpalast.
„Ein Teil der Faszination von Fantômas liegt in dem Vorschein einer radikal anderen Sichtweise auf die kapitalistische Wirklichkeit. Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Und was ist schon ein kleiner Anarchoverbrecher gegen staatlichen Massenmord?“, schreibt Thomas Brandlmeier in seiner Auseinandersetzung mit „Fantomas – Beiträge zur Panik des 20. Jahrhunderts“. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kühlt die Begeisterung für Fantomas ab. Er wird in seiner schwarzen Romantik und nicht zu bändigenden Gewalt als Prototyp der Faschisten interpretiert.
1969 beginnt der mexikanische Verlag Novaro mit der Herausgabe von Fantomas-Comic-Heften. Der Schurke/Anarchist/Faschist erfährt eine weitere Deutungsverschiebung und wird als Robin Hood interpretiert. Fantomas, Beschützer der Unterdrückten, Rächer der Ungerechtigkeit, Hüter des widerständigen Denkens. Es ist diese Lesart, auf welche sich Cortázar bezieht, wenn er politische Aktualität in eine Fantomas-Geschichte verpackt und die Ergebnisse des 2. Russell-Tribunals durch das Bereitstellen und Zugänglich-Machen vor dem Entschwinden in Bedeutungslosigkeit bewahren will. In künstlerischer Weise werden die Anklagen in das literarische Gedächtnis eingeschrieben.
drei.
Wenn „Erinnern heißt auswählen“ (Günter Grass), dann verschuldet sich das Erinnerte einem Kompositionsprozess. Einer nie abgeschlossenen Erzählweise des Vergangenen. Geschichte, genauso wie Gegenwart, ist nie nur gegeben, sondern immer schon so oder so. Wahrscheinlich so: Kulturelle Hegemonie reguliert den Wissenserhalt einer Gesellschaft. Das Zu-Erinnernde aktualisiert sich in Ritualen, Denkmälern, Schulbüchern und Straßennamen. Alles Erinnern ist, ebenso wie alles Erleben, ideologisch strukturiert. Alles Erinnern kann für oder gegen eine hegemoniale Ordnung instrumentalisiert werden. Und Ideologie ist nie nur Ideologie der anderen.
Wenn „Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht“ (Salman Rushdie), dann entscheidet das Zustandekommen einer Erinnerungserzählung über das Sein oder Nicht-Sein, die Möglichkeit, die Veränderung, die Zukunft. Wenn nicht erzählt, dann nicht erinnert, wenn nicht Teil eines kulturellen Gedächtnisses, dann nicht Teil einer potentiellen Zukunft. Die Art und Weise der Geschichtsschreibung eröffnet Möglichkeiten für heute, morgen, übermorgen, für Gerechtigkeit. Staatlich verordnetes Vergessen und privates internalisiertes Verdrängen aber unterbinden das Erzählen von Erinnerung. Dann liegen prekäre Momente wie heterogene Elemente auch als Totgeschwiegene im toten Winkel des Denkens.
Wenn „Erinnern kann nicht ungeschehen machen, aber die Wiederholungswahrscheinlichkeit verringern“ (Friedrich Schorlemmer), dann ist Widerstand gegen das Vergessen unser aller Arbeit an einer besseren Welt. Und die ist möglich.
vier.
Regisseur Gin Müller und Bühnenbildner Jan Machacek haben sich für ein zweijähriges und zweiteiliges Projekt mit der Figur des Fantomas auseinander gesetzt. Es entstanden die beiden Theater-Produktionen „Fantomas Monster. Teil 1/Iran: Fantomas gegen die Macht der Auslöschung“ (gemeinsam mit Gorji Marzban, Edwarda Gurrola, Kaveh Parmas und Stefanie Sourial) und „Fantomas Monster. Teil 2/Mexiko: Fantomas gegen die Angst und das Vergessen“ (gemeinsam mit Edwarda Gurrola, Miriam Balderas und Kaveh Parmas).
Der fiktive Superheld wird samt seiner superheldischen Möglichkeiten (wiedermal, wie bei Cortázar) in die faktische Welt der Dokumentation exportiert. Die Theater-Produktionen verbinden das ästhetisch anspruchsvolle Format eines Live-Comics mit politisch fundierter Recherche-Arbeit. Das heißt: Inhaltlich voneinander verschieden, verfahren die beiden Teile formal im Rückgriff auf Cortázars „Fantomas gegen die multinationalen Vampire“. Live-produzierte Comic-Bilder werden mit dokumentarischen Sequenzen zu einer Collage verarbeitet, erzählte Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen.
Die Figur des Fantomas dient der Einschreibung von Weltwirklichkeit in ein bestehendes Format der Weltverbesserung, das des Superhelden-Comics. „Wir Phantome kehren immer wieder und schreiben die Geschichte um.“ Der Einbruch des Wundersamen verspricht Hoffnung für die faktischen „Superheld*innen“, die sich einem staatlich verordneten Vergessen entgegen stellen: „Wir vergessen euch nie. Wir konstruieren Erinnerung. Wir bleiben im Widerstand.“
fünf.
Während bei „Teil 2/Mexiko: Fantomas gegen die Angst und das Vergessen“ eine namenlos bleibende Erzählerin von Wien nach Mexiko reist, um Widerstand gegen korrupte Beamte zu leisten und den Fall der Massenentführung von 43 Studenten in Iguala aus dem Jahr 2014 zur Aufklärung zu bringen, hat bei „Teil 1/Iran: Fantomas gegen die Macht der Auslöschung“ die faktische „Superheldin des Erinnerns“ einen Namen: Parastou Forouhar.
1962 in Teheran geboren, lebt die Künstlerin und Aktivistin seit 1991 in Deutschland. Jedes Jahr reist sie in den Iran, um eine Gedenkveranstaltung für ihre 1998 ermordeten Eltern abzuhalten. Dariush Forouhar, ehemaliger Arbeitsminister, und seine Frau Parvaneh Forouhar hatten sich prominent für die Trennung von Staat und Religion und die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt. Ihre Ermordung fällt in eine systematische Serie in den 1990ern, die als „Kettenmorde“ bezeichnet wird und der unzählige oppositionelle Intellektuelle zum Opfer fielen.
Die nackte Gewalt der Morde findet ihre Fortsetzung in der symbolischen Gewalt der Gerichte. Und im Schweigen der Öffentlichkeit. Durch Verschleppung und Verschleierung wird die lückenlose Aufdeckung der Auftragsebene der Verbrechen unterbunden. Iranische Behörden versuchen Parastou Forouhars öffentlich widerständiges Erinnern gegen das staatliche Diktat des Vergessens zu verhindern. 2016 wurden sie wegen Blasphemie angeklagt. Die widerspenstige Erinnerung an eine Opposition des Regimes soll mundtot gemacht werden.
Dort setzt „Fantomas Monster“ ein. Eine Erzählerin, Edwarda Gurrola, startet ihre Reise in Wien. Am Naschmarkt kauft sie vor dem Flug noch ein Fantomas-Comic. Darin kämpft der Maskierte gegen die Macht der Auslöschung, also gegen das Verschwinden der Orte, die an den Widerstand gegen das Regime erinnern. Kaum sitzt Gurrola neben Kaveh Parmas und Stefanie Sourial, die an diesem Abend alle anderen Rollen übernehmen, in einer Flugzeug-Reihe, schon klappt nicht nur das Heft in ihrem Schoß auf, sondern auch eine große Projektionswand, auf der fortan ein Live-Comic entsteht. Und das geht so: Links auf der Bühne eine Kamera, vor der posiert, vorne Miniatur-Bildhintergründe, in die retuschiert, und auf der Wand charakteristische Comic-Kacheln, in die hinein projiziert wird. Das, was hier als Inhalt des emanzipatorischen Comics entsteht, verschwimmt von vornherein mit der Erzählung von der Erzählerin, die in den Iran reist, um eine Trauerfeier für ihre Eltern abzuhalten.
Jedes Kapitel des Abends, und es gibt derer viele, setzt sich aus drei Ebenen zusammen. Im Präteritum wird die Handlung voran getrieben. So „trat“ das Flugzeug irgendwann in den iranischen Luftraum ein, Gurrola und Sourial legen also ein Tuch über ihre Haare. So wird auch die Geschichte der iranischen Revolution von 1979 referiert und werden Gedanken über den Antikolonialismus dargebracht. Zu einer anderen Ordnung gehören die Sequenzen, in denen Gurrola zu sich selbst „ich“ sagt und über ihr ambivalentes Verhältnis zum Iran spricht. Auch die aufgenommenen Geschichten über die Iran-Reisen von Forouhar gehören zu dieser Kategorie der intimen Auseinandersetzung. Die dritte Ebene, das ist Fantomas und der Live-Comic. Parmas trägt eine rosa Strumpfhose über dem Kopf und zerschlägt bei jedem Exit Fensterglas. Klirr! Und klick! Zwischen den einzelnen Photos setzen die drei ihre jeweiligen Gespräche fort. So kommt es zu einem surrealen Zusammensein von darstellender und bildender Kunst. Oder von Trash und Dokumentation. Was im Angesicht der Wahrhaftigkeit des Themas und in Zusammenhang mit den filigranen Musikarrangements Bilder von großer Ambivalenz entstehen lässt.
„Man kann Regimes stürzen. Es ist gefährlich, aber es geht“, sagt Gurrola irgendwann über die iranische Revolution. Dann fährt sie als Comic-Figur mit dem Auto durch Teheran und zeigt auf Wandgemälde. Da ist zum Beispiel Ali, der erste Kalif der Schiiten, dessen Gesicht nicht gezeigt werden darf und also durch einen Wasserfall ersetzt ist. Die Erzählerin attestiert eine interessante Nähe zwischen Propaganda und Surrealismus. Und surreal ist an diesem Theaterabend vieles und dies auf allen Ebenen. Die Lächerlichkeit eines sich noch am Leben haltenden Regimes zeigt sich im Verbot einer Ausstellung, das umgangen wird, indem die leeren Rahmen eine viel größere Kritik darstellen, als es jede Darstellung hätte tun können. Die leeren Rahmen des famos vielfältigen Bühnenbaus werden so präzise mit Projektionen gefüllt, dass schon alleine deswegen dieser Theaterabend ein beglückendes Erlebnis darstellt. Nebenher verschwimmt Realität und Fiktion, Trauer und Widerstand und wird von einem zukünftigen Iran geträumt.
sechs.
Die Theaterarbeiten zu „Fantomas Monster“ von Müller und Machacek greifen auf das durch Cortázar etablierte Format der Einschreibung aktueller politischer Realitäten in die Dramaturgie einer Fantomas-Kriminalgeschichte zurück. Auch hier verschwimmen die Ebenen von Fakten und Fiktionen. Der Impetus speist sich aus dem Widerstand gegen das Vergessen, versucht Details einer politischen Anklage einem breiteren kunstinteressierten Publikum zugänglich zu machen.
Erinnerung als widerständige Praxis heißt, das Trauma der staatlich-unrechtlichen Gewalt in ein identitätsstiftendes Moment der Unterwanderung von Hegemonie zu überführen. Das, was nicht erinnert werden soll, die Morde, die Massenentführungen, wird mit der aufrecht erhaltenen Erinnerung an die Toten zu einer politischen Anklage. Die Erinnerungserzählung gemahnt an das Unrecht, hält diejenigen, deren Geschichten nicht erzählt werden sollen, in Existenz, in Gegenwart, für die Zukunft. Erinnerung ist Widerstand gegen die Gewalt der Geschichtsschreibung. Und Fantomas? „Hat auf dieser Welt viel zu tun.“