Lachen und Gold
Manchmal denke ich, das Schlimmste am Alter ist, dass es einem von außen als Nachteil zugeschrieben wird. Vor allem den Frauen. Dubravka Ugresic schildert im Roman „Baba Jaga legt ein Ei“ (1) das weibliche Altern als Eintritt in die Unsichtbarkeit. Kein jüngerer Mensch will gealterte Frauen wahrnehmen und damit an die Vergänglichkeit des eigenen Körpers erinnert werden. Man möchte auf gar keinen Fall so werden wie sie. Ihre aus der Form geratenen Umrisse weisen auf die Sinnlosigkeit weiblicher Existenz, nachdem die reproduktive Grenze überschritten ist. Positive Leitbilder gibt es kaum. Niemand will jahrzehntelang – die Lebenserwartung hat sich schließlich gesteigert – als einsames Menschenmüllwesen vegetieren. Indem die Gealterten den Mehrwert ihres Geschlechts verlieren, werden sie geschlechtslos. Zusätzlich sind die Frauen – nunmehr ohne Resonanz – ihrer eigenen Erscheinung entfremdet. So, wie sie aussehen, mögen sie sich nicht, weil sie sich nicht mehr über den Körper, der vom allgemein begehrten Ideal abweicht, definieren können, erklärt Ugresic.
Manchmal denke ich, dass das Alter eine Summe ist, aufeinandergestapelte Leben und Personen, die man bereits gewesen ist, die teilweise miteinander zu tun haben, teilweise auseinander entstanden sind, teilweise unverbunden in der Erinnerung herumstehen, als wäre man selbst eine völlig andere gewesen. Manchmal träume ich und befinde mich in mehreren Lebensphasen parallel: Ich spreche mit einer Freundin über die Drogen, die wir einnehmen, und über einen Freund, der sich das HI-Virus eingefangen hat. Dann ist es plötzlich Jahre später. Auch wir sind betroffen, streiten über Heilungschancen und -therapien. Während wir darüber reden, sind wir schon wieder vom Virus befreit. Im Traum ist es normal, zusammengeschobene Zeiträume synchron zu erleben. Im Traum komme ich mir nie alt vor.
Manchmal denke ich, die Alten, das sind die anderen. Ich betrachte Fotos meiner Großmutter, die in meiner Wahrnehmung immer schon alt war, obwohl sie auf diesen Bildern jünger ist als ich jetzt. Ich denke an meine Schwiegermutter, die stets von alten Frauen sprach, wenn sie in Österreich Grauhaarigen begegnete, obwohl die nicht älter als sie selbst waren. Doch als Französin kümmerte sie sich um ihr Aussehen, ließ ihr Haar färben, trug weiterhin unbequeme Schuhe, auch wenn sie darin kaum mehr einen Schritt vorwärts kam. Dieses Sich-Gehenlassen und Miteinstimmen in das abgewertete Bild war ihr ein Gräuel. Nie wollte sie sich farb- und formlose Kleidung einreden lassen. Sie war bis zum Schluss „gepflegt“. Dieses Adjektiv verrät allerdings, was man älteren Frauen zugesteht, und was nicht. Sie sollen sich pflegen, damit sich die Jüngeren durch ihre im Verfall begriffenen Körper nicht gestört fühlen. Andererseits muss man sich diese „Pflege“ auch leisten können.
Manchmal glaube ich, dass es davon abhängt, wie frau selbst über das Alter denkt, ob sie alt ist oder nicht. Dass eine gewisse Unsicherheit innerhalb von klassischen Geschlechterrollen den Vorteil hat, bereit für neue Erfahrungen zu bleiben, dass Hindernisse ermöglichen, vom allgemeinen Weg abzukommen. Offenheit gegenüber Veränderungen hilft. Deshalb suche ich stets nach Vorbildern jenseits der Groß- und Schwiegermutter-Modelle. Ich entscheide mich für andere Muster. Meist muss ich sie erfinden.
Manchmal denke ich, dass kreatives Denken die Verbindung von Kindheit und Alter frisch erhält. Ich betrachte die über neunzigjährige Friederike Mayröcker (2) auf einem Stuhl in der Man-Ray-Ausstellung sitzend. Mit riesigen Schuhen und völlig abgemagert hält sie sich an einem weißen Blatt Papier fest. Besser ließe sich dieses Aufheben aller Energie in den Text hinein nicht visualisieren. Sie sei nur äußerlich dieses alte Weib, das durch die Straßen humpele, behauptet Mayröcker, innerlich sei sie immer noch das Mädchen, das leichtfüßig durch eine Sommerwiese springe. Doch beharrt die Dichterin auf einer Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Alter. Bejahrte Männer hätten mehr Würde. Was natürlich an den – Männern gewährten – vergleichsweise positiveren Zuschreibungen der Außenwelt liegt. Und Kinder können sie noch als Greise zeugen.
Auch die Künstlerin Louise Bourgeois (3) hielt das in der Kindheit Erfahrene lebendig. Die frühen Eindrücke hatten sich als Motor ihrer kreativen Arbeit verselbständigt und sorgten für nie versiegende Ideen. Respektlos und beschwingt setzt sich die Künstlerin über negative Projektionen hinweg. Mit ihren Werken deckt sie deren Ursprünge nicht nur auf, sondern besetzt die weibliche Seite kraftvoll und positiv.
Bei Marina Abramovic (4), mittlerweile über siebzig, spielt Alter scheinbar keine Rolle. Eine geschickte Darstellung ihres Lebens als künstlerisches Material, eine manipulierte Kunstgeschichtsschreibung, in die sie sich als „Mutter der Performancekunst“ einschreibt, sowie schönheitschirurgische Behandlungen lassen Abramovic als das Nonplusultra einer verehrungswürdigen weiblichen Persönlichkeit erscheinen. Diese Inszenierung als Frau und Künstlerin erreicht gottähnliche Züge und funktioniert nur, solange man die Einzige bleibt. Dazu mussten alle Vorgängerinnen und Zeitgenossinnen der Performance-Kunst wie Valie Export, Gina Pane, Lynn Hershman etc., gelöscht und ins Vergessen überführt werden. Dazu müssen hunderte Darstellerinnen und Darsteller für die Ehre einer Teilnahme an Performances ausgebeutet werden. Dazu muss christliche und sozialistische Symbolik im kapitalistischen Kunstbetrieb gewinnbringend verwertet werden. Dazu muss das eigene Fleisch für viel Geld aufgeschnitten, festgezogen und umgeformt werden. Viel Geld für das Bild, das dem entspricht, was von Medien und Gesellschaft vorgegeben wird.
Die Unsichtbarkeit älterer Frauen ist ohnehin eine Wahrnehmungsstörung, welche von den Bildmedien gestützt wird, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie zu Diversität in den Geschlechterdarstellungen (5) zeigt. Neben der bekannten Zweidrittelmehrheit männlicher Präsenz – stets kommt auf zwei Männer nur eine Frau – ist die Ungleichheit in der Darstellung älterer Personen besonders erschreckend. Je älter die Frauen, desto seltener sind sie zu sehen. Ab 50 Jahren stellt sich das Geschlechterverhältnis bereits als drei zu eins dar. Am größten ist der Unterschied in der non-fiktionalen Unterhaltung: Hier kommen jenseits der 40 auf eine Frau vier Männer, jenseits der 50 auf eine Frau acht Männer. Und als sei das noch nicht Schrecken genug, sieht es bei Sendungen, die sich an Kinder richten, noch schlimmer aus: Sobald es um fantastische Geschichten geht, sind von zehn Tierfiguren neun männlich konnotiert. Gerade die imaginative Seite des kindlichen Denkens wird also auf eine männerlastige Ordnung hin getrimmt.
Um die Bilder von abgewerteten älteren Frauen zu hinterfragen, erforsche ich Mythen, suche nach Hexen, vor denen wir als Kind schon geübt haben uns zu fürchten, die ursprünglich Fruchtbarkeits- und Muttergöttinnen gewesen sein könnten, aber mit Einführung eines patriarchalen, göttlichen Systems ins Verwerfliche gezerrt wurden. Einen Rest der einst mit Macht versehenen weiblichen Vorbilder stellt in Europa Frau Perchta, bekannter auch als Frau Holle, dar. Natürlich sind Perchta und Baba Jaga miteinander verwandt. Im Roman von Dubravka Urgesic heißt es: „Sie ist ein Kollektivwerk und ein Kollektivspiegel. Ihre Biographie beginnt in den besseren Zeiten, als sie die Goldene Baba, die Große Göttin, die Mutter Erde, die Mokosch war. Mit dem Übergang zum Patriarchat verlor die Baba Jaga ihre Macht.“ (6)
In Mexiko blieben in der Bruja, der Hexe, mythische Spuren der präkolumbianischen Göttin Coatlicue erhalten, die sowohl mit Tod als auch mit Wiederauferstehung in Verbindung gebracht wird. Sie dient Autorinnen als Referenzpunkt, um Leerstellen weiblicher Geschichte, jenseits von Modellen, die mit der Kolonisierung ins Land gebracht wurden, zu untersuchen.
In Japan ist es die Yamauba, die alte Waldhexe, die Verirrten gefährlich werden kann und die ursprünglich eine Muttergöttin war, in der die Widersprüchlichkeit von Fruchtbarkeit und Tod noch nicht aufgespalten war.
Der Roman von Dubravka Ugresic enthält ein ausführliches Glossar, verfasst von einer fiktiven Mythenforscherin, in dem zahlreiche Figuren alter Frauen in verschiedenen Regionen und Kulturen samt Attributen und magischen Accessoires vorgestellt werden. Das Traktat mündet in eine „Baba-Internationale“, welche an eine Umwertung negativ gezeichneter Frauengestalten appelliert. Wer noch mehr über Baubo, Kali, Inanna, Ishtar, Devi, Tiamat und andere Göttinnen erfahren will, dem sei das Vulva-Buch von Mithu M. Sanyal empfohlen. (6)
Entgegen der negativen Zuschreibungen versuche ich literarisch andere Muster zu entwerfen. Ihnen wünsche ich Gültigkeit, so wie der Füchsin in der japanischen Mythologie: „Mit fünfzig Jahren können sich Füchse in Frauen verwandeln, mit hundert in Schönheiten oder Zauberinnen.
Manche verwandeln sich auch in Männer und haben Verkehr mit Frauen. Sie können Dinge aus tausend Meilen Entfernung erkennen, beherrschen die Magie, täuschen die Menschen und verwirren ihre Sinne. Mit tausend Jahren kommunizieren sie mit dem Himmel und werden zu himmlischen Füchsen“ (7), so als würden erst jenseits der reproduktiven Grenze die besseren Seiten der Existenz eröffnet. Bilder wie diese kehren die Entwertung der alten Frauenkörper um, geben ihnen die Möglichkeit, ihre Bedeutung mit dem Alter zu steigern. Sie helfen das Andere zu denken und gegen die gängigen, jedoch eigentlich überholten Modelle einer patriarchalen Gesellschaft anzugehen. Die Füchsin bildete auch das Leitmotiv meines Romans „Die Füchsin spricht“ (8), in dem eine fünfzigjährige Frau sich den nicht immer willkommenen Veränderungen in ihrem Leben stellen muss.
Für den Roman habe ich mich auch mit Möglichkeiten von Langlebigkeit beschäftigt. Die Einwohner der von Japan regierten Inselgruppe Okinawas sind für ihr hohes Alter bekannt. Eines Tages blickte ich auf dem Markt in die Augen eines Hundertjährigen. Er gab mir die Hand und ich versuchte in der Berührung den langen Zeitraum seines Lebens zu durchmessen. Er schlug mir kumpelhaft auf die Schultern, lachte und lachte und lachte. Wird man so froh, wenn man so alt geworden ist? Später sah ich im Fernsehen die ältesten Zwillinge Japans, Frauen, die so verhutzelt und geschrumpft waren, dass sie wie zwei lustige Dörrpflaumen mit untergeschlagenen Beinen auf ihren Polstern hockten. Eine erzählte, die andere kicherte andauernd vor sich hin, dann wieder brachen sie gemeinsam in Lachen aus.
Das durchschnittliche Straßenbild in einer durchschnittlichen japanischen Stadt kann als Vorausblick auf europäische Zustände verstanden werden. In einer alternden Gesellschaft ist Grau nicht die Ausnahme, sondern Alltag. Frauen in Tarnfarben und Männer mit Pflastern über der Stirn, am Hals, in Rollstühlen, mit Krücken sind hier sichtbar, verlangsamt zwar, aber sie nehmen teil. Mittlerweile leben etwa 67.000 Überhundertjährige in Japan. Graues Haar und ältere Heldinnen sind daher sogar in Kinderfilmen zu finden, obwohl Sophie aus dem Anime „Das wandelnde Schloss“ von Hayao Miyazaki (9) eigentlich eine Achtzehnjährige ist, die in eine alte Frau verwandelt wird. Trotzdem spiegelt diese Erzählstruktur eine interessante Verbindung von sehr jung und sehr alt, welche hierzulande nirgends zu finden wäre, und weist auf erweiterte Möglichkeiten eines Umgangs von Menschen verschiedener Generationen miteinander.
Langlebigkeitsforscher machen nämlich neben den besonderen Ernährungsgewohnheiten einen weiteren bestimmenden Faktor aus: In allen Gesellschaften, in denen Menschen ein sehr hohes Alter erreichen, steht die Familie, und zwar die Großfamilie, im Zentrum der Interessen. Zudem sind Menschen aller Altersgruppen nicht nur im Familienverband, sondern auch in weiteren gemeinschaftlichen Beziehungsnetzen integriert. Es ist also der soziale Aspekt, das Gebrauchtwerden, das Sich-als-Teil-von-etwas-Größerem-Fühlen, welches im Alter einerseits frisch erhält, andererseits Klarheit darüber schafft, welche Position man in der Generationenpyramide einnimmt. Und ich erinnere mich an die Mutter meiner Schwiegermutter in Paris, die sonntags stets zum Mittagessen lud. Ihr Haus war Treffpunkt für ihre nahebei wohnenden Nachkomminnen und Nachkommen. Unablässig memorierte sie deren Namen und Abfolgen, trainierte auf diese Weise ihr Gedächtnis. Ihren Mann hatte sie bereits um Jahrzehnte überlebt.
Aufgrund der meist höheren Lebenserwartung sitzen Frauen ja vielleicht am längeren Ast. Friederike Mayröcker behauptet, dass sie erst jenseits der 70 ein „wirklicher Mensch“ geworden sei. Den Eindruck gewinnt man auch von den älteren Heldinnen in Margaret Atwoods Erzählungen „Die steinerne Matratze“ (10). Diese Frauen lassen sich nicht unterkriegen, sie können abwarten, bis es gelingt, die Vertreter der sie abwertenden Gesellschaft um die Ecke zu bringen. Den meisten von Atwoods Figuren ist das Erzählen, das Uminterpretieren, In-die-Handlung-Eingreifen als Fähigkeit mitgegeben – eine andere Art, um Lebensbedingungen entsprechend den eigenen Bedürfnissen umzuwandeln. Fiktion und Imagination helfen anscheinend sehr. Und gute Ärzte. Schuhe, die sowohl praktisch als auch ästhetisch ansprechend sind. Außerdem eine ausreichende finanzielle Versorgung. Die Wirklichkeit, die sich in Zahlen und Fakten ausdrückt, zeigt jedoch, dass das Handfeste des weiblichen Alters ziemlich oft Armut und Ausschluss bedeutet.
Lachen und Gold machen das Alter erträglich, heißt es in einem Sprichwort.
Lachen können wir bereits, jetzt brauchen wir nur noch die Community und das Gold.
1 Dubravka Ugresic: Baba Jaga legt ein Ei. Berlin Verlag 2008
2 Friederike Mayröcker: Dichterin, geboren 1924 in Wien
3 Louise Bourgeois: Künstlerin, geboren 1911 in Paris, gestorben 2010 in New York
4 Marina Abramovic: Künstlerin, geboren 1946 in Belgrad
5 Malisa Stiftung: Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen. „Audiovisuelle Diversität?“, Stand April 2018, https://malisastiftung.org/en/audiovisualdiversity/
6 Mithu M. Sanyal: Vulva. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2009
7 Taiping Yulan, 10. Jhdt., zitiert nach dem Web-Handbuch “Religion in Japan”
8 Sabine Scholl: Die Füchsin spricht. Zürich 2016
9 Hayao Miyazaki: Das wandelnde Schloss, 2004
10 Margret Atwood: Die steinerne Matratze. Berlin Verlag, Berlin 2016