Nel mezzo del pensier di nostra vita

 

„Als ich in der Mitte der Gedanken meines Lebens war“ – so beginnt die Irrfahrt in Dantes „Divina Commedia“. Der Protagonist denkt, nun wäre es an der Zeit, ein Resümee ziehen zu können. Doch kaum gedacht, geht das Ganze erst richtig los. Es ist ähnlich wie für Homers Odysseus, der unmittelbar vor der Rückkehr in den sicheren Hafen innehält, dann fortgetragen wird, und schließlich zur großen Odyssee aufbricht.

Vor- und zurückrudernd: Die Welt in der Vorausschau betrachtet erscheint wild, das Leben zurückblickend betrachtet noch viel wilder. Und hier, mittendrin im Leben, in der beständig neuen An- und Aufnahme des Realen, spielt die Kunst und mit ihr die Sehnsucht, diesen durch uns durchziehenden Ereignissen, eine Bedeutung zu geben.

Der Kunst der Jungen wird das Wilde nachgesagt und anempfohlen, und manchmal ist sie es: radikal, zornig, erfrischend wie ein Regen auf Staubiges, scharf im Durchblick, übergreifend auf das Ganze, und wahr darin. Der Kunst der Älteren wird das Wilde abgesprochen, und manchmal ist sie es dennoch: radikal, zornig, erfrischend wie ein Regen auf Staubiges, aufs Detail gerichtet, und wahr darin. Und auch, wenn es beide gerade nicht sind – statt wild, mild, oder statt zornig, zart –, das Leben und die Kunst haben gemeinsam, dass sie immer wieder angefangen werden wollen.

Umso seltsamer, dass manche, besonders künstlerische Berufe mit dem Erreichen des 30. Lebensjahres als beendet gelten. Zuweilen mit der größten Selbstverständlichkeit. Bei Tänzerinnen und Tänzern hinterfragen wir kaum, warum jenseits der dreißig nicht weiter getanzt werden sollte. Tänzerinnen und Tänzer haben jung zu sein, um tanzen zu können. Die Altersbegrenzung wird über den Körper begründet, der nach 30 nicht mehr fit genug sei. Fit genug, um jung zu sein? Um den jungen Körper zum Ausdruck zu bringen? Warum sollte sich ein älterer Körper nicht mehr ausdrücken?
Was ist wirklich bestimmend?
Wohl nicht die Perspektive der Tänzerinnen selbst; die scheinen sich eher einem ehernen Gesetz beugen zu müssen. Gegenüber Strukturen, die auf ältere Tänzerinnen gar nicht eingestellt sind. Die meisten klassischen Tanzstücke sind es schließlich auch nicht. Die gegenwärtige freie Tanzszene tanzt immer heftiger dagegen an.
Und schon immer gab es die, die sich dem klassischen Urteil nicht beugten.
Sie tanzten über jede Altersgrenze hinweg und zeigten ihre Körper in jeder Phase des Lebens, und noch mehr: In jeder Faser des Widerständigen, was dem Tanz umso mehr Ausdruck verlieh. Wer sich über die Altersgrenze hinwegtanzt, tanzt im Widerstand, tanzt umso kräftiger, heftiger.
Wer den Ausdruckstanz von Valeska Gert kennt, sieht das Aufbäumen gegen das ganze politische Regime des aufkommenden Naziregimes. Eine jüdische Künstlerin, Frau und Lesbe, die nicht an den Gewalten und am Gewaltsamen vorbeisehen konnte und wollte. Ihr Ausdruckstanz ist von erschreckender Schönheit, tief geprägt vom Schmerz, von der Wut, von der Abscheu, vom Grotesken. Sie wurde, was sie wurde, weil in ihrem Ausdruck der Widerspruch sich formuliert – und darin die radikale Hinterfragung dessen, was politisch an Unrecht vor sich ging.
Auch wenn die Verhältnisse, gegen die Valeska Gert angetanzt hat, mit den heutigen schwer vergleichbar sind: Die Hinterfragung des Gegebenen, des Vergebenen und des Vorgegebenen ist, was die künstlerische Arbeit so unvergleichlich stark macht. Und zu ihr gehört – neben dem jugendlichen Widerstandsgeist eben auch ein solcher, der sich aus der Erfahrung mit der Welt und seinen Einrichtungen heraus entwickelt. Jugendlichkeit – und Reife –, beide sind in gleicher Weise die Stärken, auf die die Kunst nicht verzichtet, nicht verzichten kann. Die Institutionen und Strukturen sollten es auch nicht.

Und dennoch: Wo Körper zum Einsatz kommen, erhalten sich nicht nur die sexuellen Übergriffe, sondern auch die Einschränkungen. Die sind gender- und altersbezogen. Er ist erster und letzter Ausdruck in einer Verkettung von Mainstream-Vorstellungen, die im Film oder im Theater über den Körper manifest werden, die also bestimmen, wie Körper in der Öffentlichkeit sein sollten. Vorstellungen, die in den Strukturen der Theaterhäuser noch immer wirksam sind, und die auf den Bühnen wiederholt formuliert werden, wo sie weiterhin und wiederholt festlegen und festigen, wie alt, oder besser, wie jung der weibliche und der männliche Körper im öffentlichen Raum aussieht.
Sie beginnen am anderen Ende, dort, wo die Stücke geschrieben wurden, wo sich die Narrative etablieren, wo sich zeigt, welche Gesellschaft darin vorkommt – und welche nicht, welches Leben, und auch: welches Alter. Auch hier grassiert die Altersbeschneidung, die allumfassend ist, und dabei so stillschweigend am Einzelnen vollzogen wird.

Es ist der allererste Filter: Nach dem Namen der Autorin steht zuerst die Altersangabe, nicht ihr Text. Ganz so, als würde sich der folgende Text danach verändern. Und tatsächlich, er tut es. Wie sehr die Geburtszahl unsere Wahrnehmung auf das Werk beeinflusst, kann ganz einfach festgestellt werden, indem sie weggelassen wird. Schlagartig ist der Blick darauf – aufs Eigentliche – ein anderer: freigelegter, präsenter, da.

Vor nichts müssen sich Künstlerinnen und Künstler mehr fürchten, als vor dem Ausschluss durchs Älterwerden. Und kaum eine andere Diskriminierung wird so wenig laut gemacht. Als sei es schon mit Scham behaftet, es überhaupt auszusprechen – eine Unmöglichkeit, wenn wir stillschweigend hinnehmen, dass etwas, das wir am wenigsten beeinflussen konnten, unsere Geburt, und etwas, das wir alle am wenigsten ändern können, nämlich älter zu werden, relevanten Einfluss hat auf unsere künstlerischen, persönlichen Prozesse.
Wir müssen natürlich nicht; und die erste sinnvoll politische Strategie ist, eine solche Einschränkung nicht gelten zu lassen, ein Stück weit darüber hinwegzusehen, und zugleich scharf dorthin zu sehen, wo sie wie selbstredend vollzogen wird. Wie Sprüche, die den Ausschluss legitimieren, ihn auf die Person zurück lenken.

Ein Satz, der für Künstler*innen gerne in Anschlag gebracht wird: Er, oder sie, sei „durch“. Ein grausamer Satz. Darüber hinweggehend, dass es eine lebendige Beziehung gibt zwischen Künstler*innen und ihrem Publikum, dass sie sich gegenseitig bedingt, dass ein Autor dann zu seiner vollen Kraft und Entfaltung findet, wenn Entsprechendes von ihm gewollt, erwartet, gewünscht und auch wahrgenommen wird.
Wer sagt, jemand sei „durch“, hat entschieden, dass man die Zusammenarbeit jetzt aufkündigt. Oft genug allein mit dem Erreichen eines bestimmten Alters.

Für Theaterautor*innen grassiert eine Tendenz, die junge und erfahrenere in eine unheilige Konkurrenz hineinmanövriert, sie gegeneinander ausspielt. Wie Schwärme von jungen Fischen werden regelmäßig junge Autorinnen in das System eingeschleust, dasselbe, das sie nach wenigen Jahren wieder sang- und klanglos ausmustert. Gegen die Förderung von Jungen ist nichts zu sagen, gegen die Lieblosigkeit, mit der sie und ihre Kunst weitergereicht werden, dagegen viel. Regelmäßig gehen ihre Stücke baden, weil sie ihnen ebenso junge Regiedebütantinnen an ihre Seite stellen, die, wer kann’s ihnen verübeln, ihrerseits ihr Regietalent zeigen wollen.
Es erfordert große Reife und Erfahrung, neben der eigenen Vision auch die andere, zudem noch sprachlich formulierte, einer Autorin zu erkennen und bestehen zu lassen. Wie fruchtbar aber, statt sich gegenseitig einschränkend, könnte das Zusammentreffen eines jungen Theaterautors mit einer erfahrenen Regisseurin – oder umgekehrt sein? Ebenso: Das klassische alte Stück von einem jungen Regisseur inszeniert. Es hieße auch, die radikale Trennung zwischen Klassikern, die auf der großen Bühne gespielt werden, und den jungen Werken, die im Studio spielen, radikal aufzuheben. Eine Entscheidung, die zeigen würde, wie ernsthaft die großzügige Förderung junger Talente überhaupt gemeint ist. Und mit welcher Perspektive sie operiert.
Für sehr viele ist nach einer üppigen und oftmals blinden Förderung plötzlich Schluss. Oft genau zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich befreiten, sich befreien mussten von einem System, das sie pflichtgemäß fördert, ihnen aber nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen will. Und viele, die diesen wichtigen Schritt gegangen sind, gereift sind mit sich und mit ihrer Kunst, und entsprechend die Begegnung auf Augenhöhe einfordern, müssen erfahren, dass sie jetzt nicht mehr erwünscht sind. Und dass es keinen Platz gibt für Stücke, die nun weniger die rebellierenden Kinder zeigen, sondern Erwachsene mitten im Leben zur gegenwärtigen Zeit.
Müßig, aber pflichtgemäß erwähnt werden muss, dass dies natürlich für Autorinnen wesentlich stärker zutrifft.

Wenn in Strukturen eine strikte Altersbeschränkung vorherrscht, hat dies Auswirkungen nach allen Seiten hin. Auf die Autor*innen und auf das, was wir schließlich zu sehen bekommen.
Wann sehen wir Menschen über dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, siebzig?
In den Stücken von Schiller, Ibsen, oder bei Shakespeare, bei den Klassikern. Stücke, deren Geschichten fesselnd sind. Deren Konflikte zeitgemäß sind? Im übertragenen Sinne sicher, dort, wo die Sache viele Interpretationen zulässt – und so universell offen ist, dass es schon recht apolitisch wird, trotz der zweifellos politischen Stoffe. Welches Frauenbild bekommen wir darin zu sehen? Es fehlt nicht einmal an starken Frauenfiguren, doch in welch eingeschränkten aristokratischen Rastern? (Und meist auch: In welch eingeschränkter männlicher Sicht? Waren doch sämtliche Klassiker unter den Dramatikern männlich.)

Zuweilen herrscht der bequeme Pragmatismus, selten der Mut zur Auseinandersetzung. Dieser Eindruck entsteht schnell, wenn Intendanten (gerne männlich, gerne älter), die ohnehin wenigen Frauenpositionen mit jungen, fast gleichaltrigen und fast gleich aussehenden Schauspielerinnen besetzen, und die älteren gnadenlos rauskanten. Die geringere Gage tut ihr übriges, wenn es an der Sensibilität und am Mut vieler Intendanten fehlt, sich auf die Arbeit auf Augenhöhe mit einer gleichaltrigen oder gar älteren Schauspielerin einzulassen. Vor kurzem antwortete ein Berliner Intendant auf die Frage, warum Schauspielerinnen über dreißig regelmäßig auf die Straße gestellt würden, dass dies keine politische, sondern eine ästhetische Frage sei.

Wenn wir eine Kultur, eine Literatur und ein Theater der Vielen wollen – und wollen müssen, denn alles andere ist Unterdrückung, so müssen wir, neben allen anderen gesellschaftlichen Gruppen, denen der Zugang schwergemacht wird, auch gegen die Beschneidung durch künstliche Altersgrenzen vorgehen. Und hier besonders gegen das Tabu und gegen das Stillheimliche.

 

Alle Rechte zum Text verbleiben bei der Autorin.

Essay#4PS