Verstehenverbotenvorgestellt

 



Eines Tages fängt ein Menschenkind, das man in seinem Leben bis dahin erst als Mädchen, dann als Frau bezeichnet hat, plötzlich damit an, Fragen zu stellen, die nicht direkt zur Wissenschaft, nicht zur Philosophie, nicht zur Politik gehören. Es sind künstlerische Fragen danach, ob die Bezeichnungen stimmen. In der feministischen Gruppe, der sie sich aus politischen, philosophischen und sogar wissenschaftlichen Gründen angeschlossen hat, wird sie dafür kritisiert, dass sie diese Fragen künstlerisch stellt statt wissenschaftlich, philosophisch oder politisch. Die Kritik sagt, Kunst sei zu indirekt. Der Effekt der Kritik, die sehr heftig, belehrend und schlecht gelaunt artikuliert wird, ist nicht indirekt. Der Effekt ist sehr direkt: Das Menschenkind verstummt und stellt keine Fragen mehr. Ein anderes Menschenkind, das man in seinem Leben bis dahin erst als Jungen, dann als Mann bezeichnet hat, schreibt ein theoretisches Buch über drei Phänomene. Damit es sie vergleichen und unterscheiden kann, gibt es ihnen „Ordnungsbuchstaben“ und nennt sie A, B und C. Alle drei sind verschieden, aber sie sind darin ähnlich, dass man ihnen Buchstaben zuordnet. Es geht in dem Buch darum, zu überprüfen, wer die Ordnungen macht. Eine Rezension erscheint, die mit missbilligendem Unterton feststellt, das Buch sei Schauplatz der Behauptung, es gäbe etwas namens A, und davon zwei Sorten, nämlich B und C. Der Effekt der Rezension, die auch direkt falsch zugeordnete Zitate und unstimmige Nacherzählungen enthält, ist nicht indirekt. Der Effekt ist sehr direkt. Das Menschenkind gibt den Versuch auf, die Ordnungen zu überprüfen. Was ist los? Ich habe es schon mal erzählt, ohne Erfolg: Ungefähr 1990 arbeitete ich als Zivildienstleistender, das heißt Pflegehilfskraft ohne Ausbildung in der Neurologie und Psychiatrie. Eine wichtige Regel dort half mir später, mich im Nichtverstehen der Leute zurechtzufinden und nicht über die Füße meiner Sätze zu stolpern: Personen mit bestimmten Problemen sollte man nicht zu Leuten mit bestimmten anderen Problemen auf denselben Zimmern einquartieren, insbesondere nicht auf Zweibettzimmern. Außerordentlich heikel war da die Zimmerbelegungsfrage bei Aphasikern, also bei Leuten mit Aphasie, das heißt Menschen, die mit der Sprache Sorgen hatten, etwa wegen Schlaganfällen, physischen Läsionen des Hirns, Traumata irgendwelcher Art, meist nur vorübergehend und mit logopädischer Arbeit korrigierbar, aber das waren doch sehr ernste Schwierigkeiten: Sie benutzten die Worte anders als der etablierte Sprachgebrauch oder sie benutzten andere Worte, sie verstanden nicht, was man ihnen sagte, oder sagten etwas, das man nicht verstehen konnte. Wer so jemanden bei jemand anderem, die oder der nicht an derlei litt, einquartierte, konnte sicher sein: Die andere, noch halbwegs ihrer Sprache mächtige Person wusste spätestens nach einer Woche auch nicht mehr, wie man redet und versteht, was gesagt ist. Man kann Leute so zueinander sperren, dass sie einander sehr schlecht verstehen, tendenziell immer schlechter. Kluge Herrschaft tut das überall. Künstlich verschärfte Verwirrung ist gefährlicher als Unkenntnis. Das ist los. Das sitzt.

Essay#3PS