PS im Gespräch mit Senthuran Varatharajah

„Was ich versucht habe, ist, dem real existierenden Gespräch den Traum, die Idee eines Gesprächs entgegenzuhalten.“

 

PS: Sehr viele deiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen haben an einer der deutschsprachigen Schreibschulen studiert und dadurch Unterstützung erfahren. Bei dir war das anders. Wie hast du angefangen?

Varatharajah: Ich habe mich eigentlich nie für Literatur interessiert und auch kaum Bücher gelesen, nur philosophische Texte, seit ich 14 bin. Ich habe in verschiedenen Bands gespielt, habe immer die Lyrics geschrieben, war eine Weile solo als Singer/Songwriter unterwegs. Das war lange meine einzige „schriftstellerische“ Tätigkeit. Und dann kam ich in die Situation, an meinem Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ zu schreiben. Das habe ich ohne Begleitung gemacht. Ich glaube, gerade deshalb, also aus einer gewissen Naivität heraus, war es mir möglich, jenseits festgefertigter etablierter Strukturen diesen Roman zu verfassen. Das war ein Zufall, ein glücklicher Zufall, dass ich mich vorher nicht mit Literatur beschäftigt und nicht mit institutionalisierten Formen des Schreibens auseinander gesetzt hatte. Sonst wüsste ich nicht, ob oder wie ich meinen Roman geschrieben hätte. Gerade die Unkenntnis hat dazu geführt, tatsächlich das zu machen, was zu meiner Poetologie geworden ist, nämlich neue Formen zu suchen, eine neue Sprache zu suchen für eine Erfahrung, die in der kanonisierten Fassung von Literatur so noch nie erzählt wurde.

PS: Welche Erfahrung meinst du da jetzt konkret?

Varatharajah: Die Erfahrung, immer vom Tod her zu sprechen, davon, dass der Tod der Sprache vorausgegangen ist. Einmal, weil meine sogenannte „Muttersprache“ Tamil geradewegs zum Tod hätte führen können, denn in meinem Geburtsland Sri Lanka war dein Leben bedroht, allein deshalb, weil du Tamil warst, allein, wenn du Tamil sprachst. Aber auch, weil der Tod in Form des Bürgerkriegs und des Völkermords in Sri Lanka die Voraussetzung war, weshalb meine Familie nach Deutschland gekommen ist und ich Deutsch gelernt habe. Das ist für mich die eigentliche Geschichte in „Vor der Zunahme der Zeichen“. Es geht nicht um Flucht und Asyl und das Aufwachsen unter diesen Bedingungen, sondern um meine sprachphilosophische Frage: Wie ist das Verhältnis von Sprache und Tod? Was macht der Tod mit deiner Sprache? Natürlich wäre es nicht möglich, von Sprache und Tod zu erzählen, wenn du nicht auch von Flucht und Asyl erzählen würdest. Aber sie sind nicht die Voraussetzung, sondern das Setting, das es mir erlaubt hat, mich dem Thema anzunähern.

PS: Hätte das Studium an einem „Schreibinstitut“ dir diesen Zugang zum Thema verschlossen?

Varatharajah: Ich möchte mich nicht von institutionalisierten Formen des Schreibens abgrenzen. Wenn du dich von etwas abgrenzt, dann heißt das, du empfängst deine Bedeutung von dem, was du nicht machen möchtest. Deswegen geht es mir nicht um Abgrenzung, sondern darum, für jede Geschichte eine Form zu finden, die angemessen ist. Und eine angemessene Form ist eine, die nicht etabliert ist. Weil die etablierten Formen das Neue, was erzählt wird, sofort einkassieren. Sie machen es dem Leser zu einfach, sich auf etwas einzulassen, weil er weiß: Das ist ein klassischer Roman mit einer klassischen Narration, mit einer klassischen Dramaturgie, mit einer Sprache, die mir vertraut ist. Diese vertraute Sprache ist heute meist eine lakonisch-ironische Sprache. Das hängt natürlich auch mit den Erfahrungen der Menschen, die schreiben, zusammen – aber diese Erfahrungen teile ich nicht. Ich bin nicht in einem weißen bildungsbürgerlichen Milieu aufgewachsen.
Institutionalisierte Sprache ist für mich eine Sprache, die auf Kommunikation ausgerichtet ist. Und wenn es um Kommunikation geht, heißt das, dass unsere ganz persönliche Erfahrung in dem Moment der Verständigung nivelliert wird, einfach, damit der oder die andere sie verstehen kann. Und mir geht es gerade um den Teil der Sprache, der eigentlich nicht kommunizierbar ist. Und der führt dann dazu, dass du die Sprache an ihre Grenzen treibst, an ihre Ränder, an die Ränder der Grammatik, an eine Art, mit Wortarten umzugehen, die nicht gewöhnlich ist. Worum es mir geht, ist, Sprache zu zerstören, um die Erfahrung, die in einer Sprache, die auf Kommunikation angelegt ist, nicht erzählt werden kann, hörbar zu machen.

PS: Dein Roman funktioniert nicht über klares Benennen von Erlebtem, sondern ganz viel über Zeichen, über sprachliche Bilder, Andeutungen. Allein dadurch, dass der darin stattfindende Dialog so angelegt ist, dass die zwei an verschiedenen Orten in Deutschland miteinander chattenden Hauptfiguren – eine junge Frau, die im Kosovo geboren ist, und ein junger Mann, der in Sri Lanka geboren ist – gar nicht direkt miteinander kommunizieren, sondern nur im Subtext aufeinander reagieren.

Varatharajah: Ich glaube, es gibt zwei Arten, über das Unsagbare zu sprechen: Man kann es kultisch erhöhen, oder man kann es ziemlich pragmatisch sehen. Ich pflege einerseits ein pragmatisches Verhältnis zur Sprache, weiß aber andererseits, dass der Raum des Unsagbaren immer mystisch besetzt ist und das immer auch bleibt. Zum einen, weil die heutige Sprache historisch stark von der Theologie geformt wurde, aber auch, weil sie bei mir biographisch bedingt immer mit Religion besetzt sein wird. Historisch gäbe es das gegenwärtige „Deutsch“ nicht, wenn es Luthers Bibelübersetzung nicht gegeben hätte. Biographisch ist das Deutsche für mich immer eine Sprache von einer ganz eigentümlichen Intimität und Diskretion gewesen. Ich bin dreisprachig aufgewachsen, Tamil, Englisch und Deutsch. Tamil und Englisch waren für mich immer Sprachen der Kommunikation, also Sprachen, die horizontal verlaufen sind, von Angesicht zu Angesicht, von Mund zu Ohr, von Ohr zu Mund. Aber das Deutsche war eine Sprache, die vertikal verläuft. Ich habe anhand der Bibel Deutsch gelernt, das erste Wort, das ich geschrieben habe, war nicht mein Name, sondern JEHOVA, weil ich vor meiner Einschulung bei den Zeugen Jehovas schreiben gelernt habe. Die ersten Sätze, die ich gelesen habe, war 1. Korinther, 13, Vers 12 – das heißt, das Deutsche war für mich immer eine Sprache, die aus der Theologie kommt, eine Sprache, in der ich auch geglaubt habe, mit Gott kommunizieren zu können und in der Gott zu mir kommt, mit mir kommuniziert. Ohne mir also eine kultische Erhöhung zu gestatten, möchte ich mir den Blick für das Theologische und Mystische des Unsagbaren bewahren.

PS: Du bezeichnest deine Sprache auch als „Sprache der Resignation“. In „Vor der Zunahme der Zeichen“ gibt es keinen Humor, keinen Flirt, keinen Plot; so etwas wie Hoffnungslosigkeit, auch Ausweglosigkeit, ist deutlich spürbar. Ist das für dich ein krisenhaftes Sprechen? Ist die Sprache der Resignation eine Sprache innerhalb der Krise? Oder ist sie Teil dessen, was die Krise auslöst? Oder folgt sie auf die Krise?

Varatharajah: Wenn du wie ich mit den Erzählungen davon aufgewachsen bist, dass Familienangehörige gestorben, auf der Flucht verschollen sind, wenn das Haus der Eltern, der Ort, an dem die Eltern zur Schule gegangen sind, zerstört worden sind, dann kennst du es nicht anders, es ist nicht meine Krise, es ist dann Erlebnisrealität. Aber es ist eine Erlebnisrealität von Hoffnungslosigkeit, von Resignation, insofern, weil du weißt, das einzige, was du machen kannst, ist, vor diesen Tatsachen zu kapitulieren. Du musst sie anerkennen und kannst keine Hoffnung schöpfen. Was für eine Hoffnung wäre das, die dieses Leiden als Voraussetzung hätte, als notwendige Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit eines Zustandes, in dem es keine Krise gäbe, in dem es kein Leid gäbe? Insofern ist die einzige Möglichkeit für mich die bloße Anerkennung dessen. Nicht dagegen zu schreiben. Auch nicht davon zu erzählen, sondern mich zu fragen: Was macht das mit dir als Mensch, mit der Art wie du Wirklichkeit mit der Sprache wahrnimmst? Was macht das mit dem, was du erzählen kannst? Mit dem, was du nicht erzählen kannst? Im Roman gibt es sehr subtile Momente des Aufeinandereinlassens der Hauptfiguren. Auf der einen Seite wirkt ihr Gespräch fast monologisch, auf der anderen Seite gibt es immer kleine Impulse, ein Adjektiv, eine Farbe, ein Track, was auch immer, die bei dem anderen etwas auslöst und von ihm aufgegriffen wird.

PS: Was sind das für Figuren, die sich da austauschen?

Varatharajah: Was für mich wichtig war, war, dass beide Figuren keine Außenseiter in einem konventionellen Sinne sind, sondern erfolgreich in dem, was sie tun. Sie haben ein funktionierendes soziales Netz, sie haben Liebhaberinnen, Liebhaber; sie stehen, wie man sagt, mit beiden Beinen im Leben. Und trotzdem gibt es in ihren Leben nicht den Raum und die Zeit, über wichtige Erfahrungen zu sprechen. Es gibt auch nicht die Sprache, davon zu erzählen. Und gerade die Unsichtbarkeit ihrer Körpern beim Chatten, gerade das Setting, in dem beide weder Raum noch Zeit wirklich miteinander teilen – Zeit nur, wenn sie zeitgleich online sind, aber das passiert relativ selten – erlaubt es ihnen, zu erzählen, wovon sie niemals haben erzählen können. Ihre gemeinsame Sprache ist eine einsame Sprache.

PS: Würdest du sagen, dass sie trotzdem einen gemeinsamen Erkenntnisprozess durchleben? Indem sie sich aufeinander beziehen? Gibt es ein dialogisches Prinzip, das Erkenntnisse hervorbringt – oder würdest du sagen, dass du das eher ablehnst?

Varatharajah: Es ist ein dialogisches Prinzip, aber ein negatives. Was ich versucht habe, ist, dem real existierenden Gespräch den Traum, die Idee eines Gesprächs entgegenzuhalten. Also eine Kommunikation zu entwickeln, in der man aufeinander eingeht, aber ohne den Körper des anderen zu verletzen.

PS: So viele Dinge sind gleichzeitig abwesend und anwesend in dem Buch …

Varatharajah: … eine Paradoxie, die auf vielen Ebenen arbeitet. Also, dass Kritikerinnen oder Leser sagen: Auf Facebook wird in Wirklichkeit nicht so gesprochen, wie in meinem Buch. Dass sie sagen, jemand mit einer solchen Erfahrung wie die Figuren in dem Buch, würde so nicht reden. Ich hab ja, Gott weiß, alle Dinge schon gehört! Aber gerade dieses Paradoxe, das ist ja, wenn ich mal von einer imaginären Gemeinschaft sprechen darf, unsere Lebensrealität, ja? Ich meine, ich werde immer noch von Journalisten auf Englisch angesprochen. Warum: Weil sie glauben, das, was dieser Körper ist, ist eine Paradoxie. Oder in der Sozialpsychologie nennt man das dann eine kognitive Dissonanz, also Dinge, die nicht zusammenpassen …

PS: … aber wie kommen die Leute dazu, wenn sie wissen, dass du auf Deutsch einen Roman geschrieben hast …

Varatharajah: …weil der innere Widerstand davor, zu glauben, dass jemand dunkle Haut hat und fließend Deutsch spricht und anspruchsvolle Literatur macht, stärker ist, als das Wissen und die Lektüreerfahrung von 256 Seiten. Weil wir immer noch in einer Gesellschaft leben, in der man Menschen, die eine solche Erfahrung teilen wie ich, Bildungsferne unterstellt. Und dass man ihnen unterstellt, sie würden sich nicht auskennen mit der Sprache, sie könnten die Sprache nicht autonom verwenden, das wäre jenseits ihrer Vorstellungskraft.

PS: Bei einer Lesung in Leipzig gab es einmal eine Stimme aus dem Publikum, die dich und die anderen Lesenden fragte, warum ihr so nette Texte unter dem Titel „Wie wir leben wollen“* schreiben würdet …
[*Diese Frage richtete sich an die Autorinnen und Autoren der im Suhrkamp Verlag erschienenen Anthologie Wie wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit. Hg. v. Matthias Jügler 2016]

Varatharajah: Lacht.

PS: …während da draußen die Häuser brennen würden? Wie fandest du diese Rückmeldung?

Varatharajah: Ich bin kein emotionaler Typ und auch nicht wütend, ich bin eigentlich so ziemlich apathisch. Apathisch bis gechillt. Aber manche Sachen … das hat mich irgendwie schon wütend gemacht …

PS: … weil?

Varatharajah: Das Problem ist die Haltung, dass Literatur im Grunde genommen Tendenzliteratur sein muss, Gesinnungsliteratur; dass sie nur dann ihre Wertigkeit hat, wenn sie explizit politisch ist. Das, was wir machen können, ist nicht Literatur schreiben, die sich für parteipolitische Veranstaltungen instrumentalisieren lässt, sondern, dass wir Sprache als etwas Politisches begreifen und uns fragen: Wie ist die Art des Sprechens – sie ist immer ein Politikum. Und das heißt aber auch: Wer spricht? Ist das ein dunkelhäutiger Körper? Ist das eine Frau? Ist das ein Homosexueller? Welcher Raum wird ihm gegeben? Welchen Raum betritt er? Und was kann er mit diesem Raum machen? Wie wird er dort wahrgenommen? Er – oder sie – hat nur die eigene, individuelle Sprache. Und Sprache ist etwas extrem Unheimliches. Etwas extrem Merkwürdiges. Sicherlich: Dass Sprache für mich nicht selbstverständlich ist, hat auch mit der Fluchterfahrung zu tun. Aber auf der anderen Seite glaube ich, hat es mit dem Schreiben selbst zu tun. Jemand, der schreibt, tut das – in meiner Vorstellung, meiner Imagination – immer aus dem Moment heraus, dass Sprache ein merkwürdiges Wunder ist. Und dass wir uns sie immer wieder neu erwerben müssen. Dass wir immer vor ihr stehen wie, wie sagt man: die Kuh vor dem neuen Tor? Oder so?

PS: Der Ochs vorm Berg? Lacht.

Varatharajah: Der Ochs vorm Berg, ja.

PS: Die Sprache, in der sich die Kritik mit deinem Roman auseinandersetzt, ist größtenteils sehr akademisch, sehr distanziert. Uns ist aufgefallen, dass sie allgemein von ihrem Duktus her nicht auf Berührung oder Konflikt angelegt ist …

Varatharajah: Ich denke, dieser Ton hat eben mit der Sache selbst zu tun. Ich verstehe ihn keineswegs als einen akademischen Ton, sondern als einen distanzierten Ton. Genau wie sich die Sprache in dem Buch vom Körper und vom Subjekt, das erzählt, distanziert. Auch von dem Subjekt, für das erzählt wird. Das ist irritierend und fordernd. Was ich schreiben wollte, war ein Roman, der einen vom Schlaf abhält. Den man nicht mal so nebenbei vor dem Einschlafen lesen kann. Ich wollte einen Roman schreiben, der dich irgendwo trifft, an einer Stelle, von der du nicht mal gewusst hast, dass du sie hast. Ob mir das gelungen ist, das kann ich nicht beurteilen. Auf der anderen Seite ist der Roman sehr gut aufgenommen worden. Darüber bin ich natürlich sehr froh. Ich finde es spannend, dass die Literaturkritik sich in dem Sprechen über diesen Roman von ihrer traditionellen Sprache verabschiedet hat. Sie will dem Roman auf Augenhöhe begegnen.

PS: Das hast du also durchweg positiv begriffen? Ist es nicht auch teils eine unerwünschte Art des Distanz-Haltens, wenn man sich in so einer distanzierten Sprache darüber verständigt und eben nicht vielleicht doch noch mal konfrontativer versucht, sich mit dem auseinanderzusetzen, worum es darin eigentlich geht …

Varatharajah: Ja, ja, das ist sicherlich der Fall. Letztes Frühjahr haben wir in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur zum ersten Mal erlebt, dass eine signifikante Anzahl von Autorinnen und Autoren bei großen Publikumsverlagen Geschichten erzählt hat, die auf ihrer eigenen Fluchtbiografie oder der ihrer Familie basieren. Natürlich wurde über mein Buch ganz anders geschrieben als über die zugänglicheren unter diesen Büchern. Mein Roman erfordert ein Lesen, das die Geduld der Lyrik mitbringt. Ein aufmerksameres, langsameres Lesen. Und das kann zu Verunsicherungen führen. Natürlich wird in den Besprechungen auch vieles auf Distanz gehalten, ja, was einen vielleicht auch selbst treffen, betreffen könnte. Das sind aber nur Vermutungen. Ich weiß nicht, inwiefern das tatsächlich zutrifft.

PS: Distanz heißt ja auch Einsamkeit, um dieses Gefühl kreist auch das Buch. Ein bisschen scheint es so, als ob die Kritik das sozusagen bestätigt, dass man einsam und irgendwie „unzugänglich“ oder unsichtbar bleibt – trotz allem.

Varatharajah: Die Einsamkeit vollzieht sich natürlich auf vielen Ebenen. Auf der einen Seite gibt es die Einsamkeit einer spezifischen biographischen Situation. Auf der anderen Seite glaube ich, die Einsamkeit, von der der Roman erzählt, ist eine Einsamkeit, die im besten Fall viel universeller ist. Jenseits von Flucht- und Migrationsgeschichten. Und das ist das Interessante. Es gibt ja viele Romane, bei denen du sofort den Willen merkst. Jemand möchte – und ich hasse diese Formulierung – einer bestimmten sozialen Gruppe eine Stimme geben. Nach dem Motto: Ich nehme mich dieser Gruppe an – das kann die eigene Gruppe sein, oder die Gruppe, zu der man traditionell dazu gezählt wird – und ich erzähle jetzt mal ihre Geschichte, aber auf eine Art, so allgemeingültig, dass jeder glaubt, sich damit identifizieren zu können. Aber ich finde, gerade wenn du in die Leere sprichst und niemanden direkt ansprichst, sprichst du jeden an. Kurz vor der Veröffentlichung des Romans hat mich mein Lektor gefragt: Wen würdest du dir denn vorstellen als Leser? Und ich hab erstmal ganz allgemein gesagt: jemand, der auch in den 80ern, 90ern groß geworden ist, so alt ist wie ich, der etwas Geisteswissenschaftliches studiert hat und in einer Großstadt lebt. In meinem Kopf habe ich das Buch nie auf die Marke „Fluchtbiografie“ reduziert. Und dann sind bei Lesungen 60-jährige Männer und Frauen auf mich zugekommen und haben davon erzählt, dass ihre Eltern aus Schlesien kamen und dass sie als Kinder so viele Fragen hatten und niemand ihnen Antworten geben wollte. Und jetzt haben sie noch mehr Fragen. Und alle, die ihnen mögliche Antworten hätten geben können, sind schon lange verschwunden. Sie sind alleine mit den Fragen, mit ihrer Sprache. So ein älterer Mann, der in Bielefeld neben mir saß, während ich Bücher signiert habe, hat zu mir gesagt, dass ich diese Geschichte erzähle, zeigte, wie sehr sie mich immer noch heimsuche. Er sagte: „Danke, dass Sie Ihre Sprachlosigkeit überwunden haben.“ Und dann ging er, wie in einem Film.
Die Einsamkeit aber bleibt, auch jenseits von rassistischer Diskriminierung, jenseits vom Aufwachsen im Asylbewerberheim. Du bist faktisch alleine mit deiner Sprache und deinen Erfahrungen – und das gilt für jeden. Das ist eigentlich eine Plattitüde, aber, sich daran immer wieder erinnert zu fühlen, ist natürlich brutal, das ist grausam. Dass es keine Form von Solidarität gibt. Keine Form von mythischer Schicksalsgemeinschaft, mit der wir uns trösten können.

PS: Mit Solidarität werben auch die Zeugen Jehovas, wenn sie im Asylbewerberheim nach Mitgliedern suchen, wie du es in deinem Roman beschreibst.

Varatharajah: Ich kann das natürlich so sehen, wie das viele außenstehende Beobachter sehen. Selbstverständlich ist das eine sehr perfide Strategie, Menschen, die Asyl suchen, für eine religiöse Sekte anzuwerben, Menschen, die Not erlitten haben und sie noch immer erleiden, die auf Leute, die der deutschen Sprache mächtig sind, angewiesen sind, weil diese sie auf Behördengängen begleiten und ihnen einen Raum jenseits der Enge und der Geräusche des Asylbewerberheims bieten können. Eine Form von Gemeinschaft, in der du in Ruhe sprechen kannst. Doch aus der Perspektive der Zeugen Jehovas ist das ein Akt von Nächstenliebe. Sie wollen dich auf den gerechten Weg führen. Das sind zwei verschiedene Arten, darüber zu sprechen. Man muss durchaus differenziert davon erzählen.
Wenn ich darüber nachdenke, warum unser Vater konvertiert ist, dann hat das natürlich auch damit zu tun, dass die Zeugen Jehovas ihm ermöglicht haben, sich in einem anderen eschatologischen Zusammenhang zu sehen, in einem neuen heilsgeschichtlichen Narrativ. Jenseits der diskriminierenden Struktur des Hinduismus mit diesem rigiden, brutalen Kastenwesen. Er konnte eintreten in etwas Neues.
Kennt ihr Tadao Andō, den japanischen Architekten? Er arbeitet viel mit Glas und Sichtbeton. Und für mich ist das das Ideal eines Textes: so undurchsichtig wie Glas und so durchsichtig wie Sichtbeton. Dass die Motive und die Sprache so eng zusammenhängen, dass du als Leser eigentlich davor kapitulierst, und du dich fragen musst: Wie komme ich in diesen Text hinein? Und dieses ‘Wie komme ich in einen Text hinein’ hat ja auch mit dem Thema selbst zu tun. Du versuchst epistemologisch die Fluchterfahrung nachzuvollziehen. Wie komme ich zu diesem Ort? Wie komme ich zu diesem Punkt, der mir einen Aufenthalt erlaubt? Der Text ist sperrig. Warum? Das hat eben mit dem Thema selbst zu tun. Wie komme ich da hinein? Wie kann ich darin bleiben? Kann ein Text, kann die Schrift, kann die Sprache mir den Aufenthalt gewähren?

PS: Fiktion als Flucht oder als einzige Möglichkeit der Überwindung der biographischen Versehrtheit?

Varatharajah: Schreiben heißt: mir kein Bildnis zu machen, indem ich jedes Bildnis verweigere. Alle Bilder, die vorher waren, zu zerstören. Damit schaffen wir natürlich neue Bilder, aber die müssen von jemand anderem zerstört werden. Hegel sagt: „Diejenigen, die dich mit den Füßen voran aus der Tür tragen werden, warten schon vor der Schwelle.“ Das heißt, auch die Bilder meines Romans müssen natürlich zerstört werden. Für mich ist dieser Roman auch ein Dokument des Scheiterns. Ich wollte zeigen, dass darüber nicht gesprochen werden kann. Das ist kein Rezept, eher ein Versuch beider Figuren, für ihre Erfahrung eine Sprache zu finden. Doch der letzte Satz lautet “Wir gehen.”, somit ist auch das nicht das Ende gewesen.
Und gerade wenn Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker über Bücher, die von Menschen mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ geschrieben wurden, sagen: „Es ist ein authentisch rotzig-migrantischer Ton”, denke ich mir: Ist das die Sprache, die uns zugestanden wird? Rotzig-migrantisch? Wenn wir auf einmal anfangen zu zeigen: Ich kann mit eurer Grammatik machen, was ich will, weil ich sie beherrsche, ich kenne mich aus mit eurer Ideengeschichte, mit eurer Literaturgeschichte, mit der Geschichte des politischen Systems, deutscher Philosophiegeschichte, dann bist du zu nah. Du bist nicht mehr hinterm Zaun, sie können nicht mehr mit dem Finger auf dich zeigen, du bist keine distanzierte Gestalt, sondern du bist in Literaturhäusern, weißen noch dazu. Mit diesem Namen.

PS: Obwohl das natürlich höchst problematisch ist, dass du das überhaupt beweisen mu-

Varatharajah: Ja, und ich habe null Bock darauf. Beim Chamisso-Preis kam tatsächlich eine Frau zu mir und sagte: „Ich möchte Ihnen dazu gratulieren, dass Sie so wunderbar meine Sprache erlernt haben.“

PS: Oh nein.

Varatharajah: Ich hätte am liebsten gesagt: Das ist nicht deine Sprache, das ist nicht meine Sprache, die gehört niemandem. Und jeder kann mit ihr machen, was er will. Das ist, was Literatur machen kann. Sie kann Sprache zerstören, damit sowohl jene, die wir uns vorstellen können, als auch jede unerdenkliche Sprache gültig ist; nicht nur die, von der die Leute zu wissen glauben: So spricht dieses Milieu, das ist authentisch. Nein, wir müssen gerade den Begriff der Authentizität infrage stellen. Die People of Color-Community wirft mir vor, ich würde mich bei der weißen Herrschaftsgesellschaft anbiedern, weil ich über Philosophie rede und mich mit der Bibel auseinandergesetzt habe.

PS: Wie positionierst du dich dazu?

Varatharajah: Ich finde das schlicht ein vulgäres Verständnis. Diese Abwertung von ‚dem‘ Deutschen und davon, dass die Sprache, diese Geographie und diese Kulturgeschichte dich geprägt haben. Dass das so zwanghaft ferngehalten wird, kann ich nicht verstehen. Auf Deutsch gibt es keine Formen von Differenzierungen –„Black Lives Matter“ und „People of Color“. Warum finden wir nicht neue Ausdrücke dafür, anstatt uns des amerikanischen Vokabulars zu bedienen, das unsere Erfahrung hier in Deutschland nicht abbilden kann?
James Baldwin hat darüber geschrieben, dass die weißen Amerikaner zu ihm sagten, er müsse sich mit irgendeinem afrikanischen Stamm identifizieren. Er antwortete: Wie soll ich das machen? Unsere Geschichte ist durch den transatlantischen Sklavenhandel abgeschnitten. Es gibt keinen afrikanischen Stamm, dem ich mich zugehörig fühle.
Mich haben Rembrandt, Beethoven, Hegel, die christliche Theologie und Altgriechisch geprägt. Nicht irgendein hinduistisches Gott-weiß-was. Dass ich sage: „Das gehört zu mir“, ist sowohl für die weiße Mehrheitsgesellschaft als auch für die politisierten Menschen mit Flucht- und Migrationsbiografien, die alles von sich schieben möchten, schwer verständlich. Aber diese Dinge sind durch mich gegangen, diese Dinge haben meinen Körper geprägt.
Von mir wird erwartet, eine allgemeine Erfahrung von einem spezifischen Milieu zu erzählen. Es ist anscheinend schwer, sich mit jemandem zu identifizieren, der jung, gebildet und bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen ist. Ich habe einige Mails von jungen Menschen mit Fluchtgeschichte bekommen, die lange verschwiegen haben, dass sie in einem Asylbewerberheim aufgewachsen sind; ich hätte ihnen mit dem Buch eine Sprache gegeben, davon zu erzählen. Ich habe darauf geantwortet: Ich kann dir keine Sprache gegeben haben, ich habe selbst keine Sprache! Ich repräsentiere nichts, weil ich keine Repräsentation habe. Das ist natürlich eine Paradoxie zwischen Autor und Leser, die aber eben viel darüber sagt, wie ein Text auf vielen Ebenen jenseits deiner Vorstellungskraft weiter funktioniert.
Ich habe auch keine Fantasie. Alles, was ich schreibe, ist autobiographisch. Wenn Valmira erzählt, sind das Erfahrungen, die meine Freundinnen tatsächlich so erlebt haben. Das war mir wichtig, denn ich weiß ja nicht, was es bedeutet, eine Frau zu sein.

PS: Wir auch nicht.

Varatharajah lacht

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