PS im Gespräch mit Ulrike Draesner

“Ich empfinde Schreiben prinzipiell als krisenhaft.”

 

PS1: Weil vorhin die Frage nach dem Literaturbetrieb aufkam. Eben auf der einen Seite der Literaturbetrieb, was ist das für eine politische Dimension, was sind da die Ebenen? Was sind die Dynamiken, die darin verlaufen? Wie sind die Produktionsbedingungen? Alles was darin schon verflochten ist an Politischem, auf der anderen Seite politisch Schreiben: Was bedeutet das? Was kann das sein? Wo wir mit PS ja eine Antwort darauf suchen. Die erste Ausgabe hatte den Überbegriff „Konkurrenz und Kanon“, die zweite „Genie wider Kollektiv“, und jetzt die dritte hat als Überthema „Imagination, Krise, Wirklichkeit“.

Draesner: Schön, gefällt mir gut.

PS2: Wir dachten uns auch… Also, einer – darf ich dich …

PS1: Ja, klar.

PS2: – der Gründe dafür… darf ich dich unterbrechen … ich unterbreche dich eh gar nicht. Wir dachten uns eben auch, dass dieses Thema dir wahrscheinlich entgegen kommt. In deinem Vortrag heute hast du auch schon Authentizität angesprochen. Und ich dachte mir, daran können wir anschließen, indem wir die Frage von ‚Imagination, Krise, Wirklichkeit‘ zuerst auf den literarischen Schaffensprozess, auf deinen persönlichen…

Draesner: Okay…

PS2: Weil das ist das, was uns interessiert…legen und dann im zweiten Anlauf vielleicht deine Reflexionen in Bezug auf dieses Themengebiet im Hinblick auf den Literaturbetrieb selbst …

Draesner: Können wir so machen. Find ich gut.

PS2: Ok, dann fangen wir mit dem großen Überthema an. Josh hat sich noch Unterfragen dazu überlegt, aber vielleicht magst du einfach mal erzählen und wir haken dann immer wieder so nach.

Draesner: Imagination, Krise, Wirklichkeit. Imagination immer. Krise immer. Wirklichkeit immer. Und nun? Ich fange mit der Antwort mal von hinten an, bei der schönen Wirklichkeit und einer Schreiberfahrung, die ich vor eineinhalb Jahren gemacht habe. Matthias Jügler fragte an, ob ich einen Beitrag für eine Anthologie zur sogenannten Flüchtlingskrise schreiben wollte. Es musste rasch sein, alles andere war freigestellt. Wie fiktiv wollte man werden? Wie „real“ bleiben? Eigentlich habe ich mir zur Grundregel gemacht, mein Privatleben, vor allem meine Familie, nicht in meine Literatur zu verwandeln. Doch ich merkte…

PS2: Darf ich da kurz nachfragen: Wie?

Draesner: Ziemlich konkret. Die Regel ist natürlich Fiktion, weil persönliche Erfahrungen immer ins Schreiben einfließen, aber ich versuche, meine Tochter nicht zu einer wie auch immer gearteten literarischen Figur des UD-Kosmos zu machen, sei das auf meinen Social-Media- oder meinen fiktiven Seiten. Eben darum aber ging es. Ich merkte, dass ich, eingebettet in den Sommer und Herbst 2015 und als Zeitgenossin, die eine politische Situation in ihrer Krisenhaftigkeit miterlebte, eben darüber nicht fiktiv schreiben konnte oder wollte. Ich hatte das Gefühl, mir sitzt diese Wirklichkeit viel zu nahe am Körper, akut und schmerzlich. Also brach ich die Regel und fing an, über die diversen Grenzübergänge zu schreiben, die ich mit meiner Tochter in den letzten zwei Jahren erlebt habe. Wir lebten in England, aber fuhren in den Ferien regelmäßig nach Berlin, so dass wir immer wieder innereuropäische Grenzen überquerten. Da meine Tochter eine andere Hautfarbe hat als ich, fallen wir an jeder Grenze auf. Ich fing an zu erzählen, wie sich diese Reisen zwischen 2009 und dem Winter 2015 veränderten, und entdeckte eine Möglichkeit, der dominanten Wirklichkeit mit einer Substrategie zu begegnen: Ich griff auf etwas aus dem wirklichen Erfahrungsbereich zurück, Datum um Datum. Aber natürlich ist die Erzählung, die am Ende daraus wurde, literarisch geformt und enthält auch fiktive Elemente.

PS2: Was ist denn jetzt konkret die Krise in diesem literarischen Schaffensprozess?

Draesner: Der direkte Weg in die Fiktion war versperrt. In mir klafften mit einem Mal zwei Personen auseinander: die Zeitgenossin, die Bürgerin, auch die private Person, die sich zu dem Thema äußern wollte, und die Autorenfigur, die unter dieser Wirklichkeitsmächtigkeit fast erdrückt wurde. Ich war froh, als sich durch die Themenkonstellation ein Weg öffnete, einen hybriden Text zu schreiben. Ich wüsste nicht, wo ich ihn ansiedeln sollte. Biographischer Essay, essayistische Erzählung mit Gedanken…

PS2: Das heißt, entschuldige Josh, falls dir was auf der Zunge liegt … weil ich red die ganze, ok. Das heißt in deinem sonstigen Schaffensprozess, wo liegt denn dann die Krise oder ist das ein fließender Übergang zwischen Imagination und Wirklichkeit?

Draesner: Ich empfinde Schreiben prinzipiell als krisenhaft. Zwar möchte ich es immer tun, wenn ich es nicht tue, aber bin ich dann dabei, das fängt beim Erfinden, ersten Notieren an und hört beim finalen Überarbeiten nicht auf, erzeugt es eine derartige innere Spannung, ein inneres Getriebensein und Unzufriedensein und immer weiter Suchen und Aufgeben, und immer wieder Loslassen und Bohren und Nachdenken … dass es nicht mehr weggeht. Und sehr anstrengend ist. Nicht nur Kopfkino, eher Ganzmenschkino. Lebenstechnisch sozusagen ist das nicht schön. Und am schlimmsten war es, oder am intensivsten scheint es mir bei den „Sieben Sprüngen“ gewesen zu sein. Was aber auch daran liegen kann, dass es einfach das letzte Werk ist und vielleicht erinnert man sich an den letzten Schmerz oder die letzte Krise am intensivsten.
Die Schreibkrise besteht also nicht darin, dass nichts aufs Papier kommt, sondern ist eher wie die Krise in einer Krankheit, eine Kulmination, übergroße Dichte, Intensität überall, noch im letzten Traum. Natürlich gehört auch das „nichts – auf – den – Bildschirm – Bekommen“ dazu, aber aus dieser Dichte heraus: ich finde den Ton nicht, finde die Sprache für eine Figur oder eine Lebensszene, eine Innenwelt nicht. Die Übersetzung aus dem Bereich, von dem ich glaube, dass die Figuren sich in ihm bewegen oder bewegen können, hinein in das, was ich als Szene schreiben kann, was sich in Dingen manifestiert, in Handlungsfäden oder kleinen Elementen, ist die Krise – als Transit, als Umkipppunkt. Die Strategien damit umzugehen sind begrenzt: im Wesentlichen aushalten, nicht nachlassen. Die innere Kraft aufbringen, dranzubleiben. Irgendwann, hoffentlich, löst sich etwas. Manchmal dadurch, dass ich zehn Seiten zurückgehe, oder zwanzig. Lösche. Wenn dann eine Art neuer Stabilität entsteht, dann lege ich den Text zur Seite – das kann nach eineinhalb Jahren des Schreibens sein oder nach drei Monaten – und lasse ihn im Dunkeln der Festplatte mit sich selbst allein. Nach einer Pause, meist sind das erneut Monate, in denen ich an etwas anderem arbeite, in einem anderen literarischen Genre, gehe ich zurück, als Leserin. Man hat ein Bild davon, was man geschrieben hat. Er erweist sich beim Wiederansehen immer als falsch oder ungenau, mal auf angenehme Weise, die Ausnahme, und meist so, dass die Arbeit wieder beginnt. Denn das Ziel ist ja eigentlich, in die Krise zu geraten, mit der Vorstellung, dass ich durch dieses Nicht-Nachlassen, in dem ich mich immer tiefer treib in ein etwas mir Unbekanntes, an den Kern kommen könnte, der mich überhaupt in die Fänge des Themas oder der Figuren trieb. Mit der Hoffnung also, dass sich diese Gnadenlosigkeit lohnt, weil sie mich in Bereiche führt, die ich, wenn ich nur planerisch dächte, ohne das Krisengefühl, nicht erreiche.

PS1: Bist du denn auch vor Krisen zurückgeschreckt?

Draesner: Jedes Mal. Und manchmal so erfolgreich, dass das Projekt abstarb. Am Ende gibt es mehr Ungeschriebenes als Geschriebenes, selbstverständlich, und aus verschiedensten Gründen. Manchmal, weil man zu schwach ist. Oder weil etwas warten muss, sich entwickeln. Und dann gibt es noch die spezifische Form… das ist auch eine sehr schöne Krise, finde ich … der Überkorrektur.

PS2: Ja.

Draesner: Das ist eine schöne Krise. Wirklich so richtig enttäuschend. Zum Glück hat es nachgelassen. Ich behaupte, das meiner Schreiberfahrung zu verdanken. Man muss schließlich auch Vorteile des Alterns finden! Dinge tot zu korrigieren, gehört zu den eher unproduktiven Krisen. Es gibt keine Unschuld der Korrektur. Man hat korrigiert, man ist einen bestimmten Weg gegangen, manchmal kann man noch erkennen, wo …

PS2: Vorbei ist vorbei. Ist auch ein wenig so wie das Ende einer Liebesbeziehung …

Draesner: Beyond repair…

PS2: Genau…

Draesner: Ja, schmeiß das Ding weg und vergiss es. Aber man vergisst es ja nicht. Eine Krise, eine aktive, die andauert, die hat Leben, auch Sprengkraft. Ich für mich würde sagen: war da keine Krise, dann misstraue dem Text.

PS2: Ich wollt noch zu einem anderen Thema. Bevor wir nämlich zum Literaturbetrieb übergehen, wollte ich fragen, ob Mehrsprachigkeit, in der du dich ja ständig befindest, eine Krise in dein Schreiben mitbringt? Ich stell mir das so vor, weil ich auch mehrsprachig aufgewachsen bin und viel woanders gelebt habe, und ich find’s total schwer, auf Deutsch zu schreiben, wenn ich irgendwo anders bin, weil ich automatisch die Sprache und Grammatik meiner Umgebung absorbiere und das sich automatisch auf mein Schreiben auf Deutsch auswirkt. Und da du ja vorher gesagt hast, du lebst in England …

Draesner: Genau, daher kenne ich die Konstellation …

PS2: Kannst du ein bisschen was dazu sagen?

Draesner: Ich glaube, bei mir ist der Weg anders herum verlaufen. Sprich: was passiert, wenn ich mich dem englischsprachigen Kontext als Schriftstellerin wieder aussetze. Ich bin, was Sprachen angeht, seltsam osmotisch. Was ich höre, sickert in meine Gedanken und mein Inneres ein. Exakt deswegen wollte ich, nach zwei Jahren während des Studiums in den 80ern, nochmal nach England gehen. Die Bewegung induziert eine gesteuerte Krise. Gesprochenes Deutsch verschwindet, Englisch erscheint, ich verliere meine Schreibroutinen.

PS2: Ok.

Draesner: Mir ist es wichtig, nicht zu erstarren, und ich glaube eben nicht, dass die Form des einen Projektes und der Ton des einen Projektes für das nächste gut sind. Jeder Roman, jeder Text, jedes Gedicht muss für sich, und von neuem, erfunden werden. Das englische Umfeld macht vieles unselbstverständlich. Und es eröffnet neue Thematiken und die Suche nach einem neuen Ton. Mit dem Ergebnis, dass ich jetzt einen längeren Text auf Englisch schreibe und ihn dann selbst auf Deutsch übersetze.

PS2: Ah, interessant. Hört sich aber gar nicht nach Krise an.

Draesner: Vielleicht nicht. Vielleicht doch. Man wird sehen. Der Wechsel hat bestimmte Effekte, auf die ich gehofft habe, andere, die mich überraschen, die aber ein neues Schreiben, eine andere Ebene öffnen. Die echte Krise bricht natürlich in dem Moment aus, in dem ich stolz auf mein Englisch bin und von meiner elfjährigen Tochter des Akzents beschuldigt und korrigiert werde.

PS2: Die hatten meine Eltern auch.

Draesner: Ja, das freut mich.

PS2: Das ist eine harte Krise.

Draesner: Mein Beileid. An deine Eltern.

PS2: Ich werd’s meiner Mutter ausrichten.

PS1: Vielleicht, um den Teil abzuschließen, die anderen zwei Wörter unseres Themas: „Imagination“ und „Wirklichkeit“.

Draesner: Na ja, zu „Wirklichkeit“ hab ich ja einiges gesagt am Anfang, oder?

PS1: Aber ich hab die „Wirklichkeit“ jetzt dazu genommen, weil ich bei dir auch oft auf die Worte ‘Fiktion’ und ‘Wirklichkeit’ und deren Spannungsverhältnis gestoßen bin und deswegen fragen wollte. Eben diese Rückkopplung von Fiktion und Wirklichkeit oder Fiktion und Wissenschaft auch.

Draesner: Ja?

PS1: Eben genau deren Umlegung auf Imagination und Wirklichkeit. Was heißt das für dich?

Draesner: Mich treibt um, was dieses komische Ding ‘Sprache’, das so offensichtlich kein Ding ist, oder dieses Instrument oder wie soll ich es jetzt nennen, überhaupt sein mag. Was essentiell mit der Frage danach verbunden ist, was wir Wirklichkeit nennen. Wobei diese Wirklichkeit bereits sprachlich ist? Oder überhaupt sprachlich? Und doch als „das Andere“ von Sprache definiert wird? Was ist Außenreferenz, was ist „Materie“, die Physik zeigt uns, dass sie aus Löchern besteht, eher aus „nichts“ als „etwas“. Also auch: Fiktion? Ein Etwas, als Äußeres, das „eingefangen“ wird – oder erst geschaffen, mit Sprache? So kommt man also aus der Sprachbewegung nicht heraus und stößt zudem innerhalb des Sprachbereichs auf Momente, in denen nochmal verschiedene Arten von Wirklichkeitsbezüglichkeit unterschieden werden.
Das finde ich spannend für das eigene Schreiben. Was passiert, wenn ich, schreibend, nochmal darüber nachdenke, wie ich solche verschiedenen Arten von konstruierter Wirklichkeitsbezüglichkeit – das sind ja auch Absprachen von konstruierter Relevanz – in fiktive Texte aufnehme und genau damit spiele. Daraus speist sich auch mein Interesse an sogenanntem Life-Writing: was für Konventionen gelten hier, was wird als Wirklichkeit, als erlebte Wirklichkeit oder gegründete Wirklichkeit, als körperliche Wirklichkeit verkauft, und wie funktioniert dieses Spiel? Es funktioniert auch noch einmal andersherum: Unsere Konzepte von Körperlichkeit, von Körpergrenzen und Körperbestandteilen verändern sich. Angesichts neuerer Körpertechniken ist es entscheidend, darüber nachzudenken – gesellschaftlich, politisch, sozial, kulturell. Was ist die Wirklichkeit einer Zelle, was ist physische Wirklichkeit, und wie wird sie wiederum transportiert, eingepackt oder hergerichtet? Zugerichtet.

PS2: Das ist spannend.

Draesner: Wo hört man dann auf, also, wenn man die diversen Plastikteile usw….

PS2: Genau, aber es ist auch ein guter Übergang.

Draesner: Zum Betrieb…

PS2: … zu einer Realität …

Draesner: Zur echten Plastikwelt …

PS2: Zu einer echten Plastikwelt, genau. Deine Position in so einem Betrieb ist ja jetzt, würde ich behaupten … du kannst mir auch gerne widersprechen … nicht die einfachste: als Frau im Literaturbetrieb, jetzt auch nicht mehr in den Zwanzigern, wo man vielleicht noch so raufgehypt werden kann, sondern eher in einer Phase, wo man darum kämpfen muss, sich zu halten.

Draesner: Danke für die Widerspruchserlaubnis. Morgens sehe ich wie 40 aus und abends wie 70.

PS2: Eben.

Draesner: Das wird ja immer besser.

PS2: Wie siehst du da diese Triade aus ‘Imagination, Krise, Wirklichkeit’ reflektiert?

Draesner: Ich würde mir an einigen Stellen mehr Imagination wünschen. Zum Beispiel von Menschen, die Literatur und Institutionen fördern. Dazu brauchen wir aber jetzt erst mal die Wirklichkeit. Nicht gerade die einfachste Position. Etwa was Ungleichgewichtigkeiten in der Rezeption von männlicher und weiblicher Literatur angeht. Oder ist das schon falsch gesagt? Ich glaube, ja. Also besser so: Ungleichgewichtigkeiten in der Rezeption des Auftretens von Autorinnen und Autoren. Ein gesamtgesellschaftliches Problem, der Literaturbetrieb ist in keiner Weise sonderlich auffällig. Er ist durchschnittlich auffällig. Was klingt, wie falsch gesagt, es aber nicht ist. Eher: ein klares Feld, zumindest auf den zweiten Blick, in dem sich etwas ändern muss. Was es von allein nicht tun wird. Konkret: ich erziehe ein Kind, allein. Das verschärft die Lage aufs Schönste, und hier setzt mein Imaginationswunsch als Erstes an: Ich wünsche mir, dass so etwas wie das Konzept des berühmten Aufenthaltsstipendiums überdacht wird. Es geht von einem Autor aus, gleich welchen Geschlechtes, der familienfrei durch die Welt tingelt und daher glücklich ist, ein Zimmer angeboten zu bekommen. Wirklich familienkompatibel ist das nicht. Neue Frage?

PS1: Zum Literaturbetrieb …

Draesner: Krise, ach so, Krise … Der Literaturbetrieb befindet sich in einer konstanten Krise. Das ist mal klar. Es liegt zum einen daran, dass er der Literaturbetrieb ist …

PS2: Freie Marktwirtschaft pur …

Draesner: …dass er sich über Krise definiert. Schon 1995, als ich den Literaturbetrieb kennenlernte, wurde alles schlechter. Ich bin nicht der Typ Mensch, der Dinge prinzipiell so sieht. Zudem konnte es 1995 nicht wahr sein, weil meine Schreibgeneration doch eben die Bühne betrat. Es hat sich dann ja auch einiges bewegt, siehe Poesie usw. Verändert haben sich die Möglichkeiten, mit literarischem Schreiben Geld zu verdienen. Das Manko oder ungelöste Problem des sogenannten Literaturbetriebes ist, dass er als Schnittstelle zwischen Kunst, nennen wir es mal so, und Ökonomie fungieren muss. Ich beneide Autoren wie etwa Flaubert, die sich dank ihres familiären Hintergrundes schlicht dem Schreiben widmen konnten. In einer Schreibkrise, oder einfach auch, um sich zu erholen, fährt Flaubert für Monate nach Ägypten und lädt zur besseren Unterhaltung noch einen Freund mit ein. Zu Hause putzt die Putzfrau jeden Tag die goldene Feder, die neben dem Schreibpapier liegt und auf ihn wartet. Andererseits: als ich mit 30 meine Arbeit an der Universität kündigte, um freie Autorin zu werden, falls man das werden kann, ging ich davon aus, von meinem Schreiben sicher nicht leben zu können. Dank des Literaturbetriebes erfuhr ich etwas anderes, ich habe viele Jahre vor allem von Lesungen gelebt.

PS1: Das ist gerade spannend, dass vorher beim Schreiben Krise noch sehr förderlich war … jetzt beim Betrieb kommen wir wieder darauf …

Draesner: Es gibt unterschiedliche Arten von Krisen, und ich glaube, dass das Wesentliche an einer Krise die Haltung ist, mit der man ihr begegnet. Ökonomische Krisen werden in unserer Gesellschaft vor allen Dingen als systemische Krisen gehandelt. Das heißt, es ist nie jemand schuld. Man spricht mit einem Vertreter von Verlag X, und er kann und mit allem Recht darauf hinweisen, dass das wirtschaftliche Gesetz von der Konzernleitung in Y als Gesetz etabliert wurde, womit die Konzernleitung aber nur globale Wettbewerbsregeln weitergibt, Regeln, die man mindestens partiell immer wieder auch als Krisenstrukturen der abwürgenden Art interpretieren kann. Der systemische Ansatzpunkt ist dabei, glaube ich, nützlich, weil er tatsächlich das Fehlen oder die Leerstelle, die Unfähigkeit eines bestimmten, etwa rein marktwirtschaftlich organisierten Systems aufdeckt, Strukturen vielfältiger Distribution und Produktion zu schaffen, auch für Güter, die sich dem Brötchenverkauf eben doch entziehen. Eine andere Weise, mit Krise umzugehen, wäre, über Wertsetzung (??) durch Literatur, ihre sozialen und ethischen Funktionen, sowie über die narrativen Kompetenzen, die in so etwas Spezifischem wie der Produktion eines Gedichtes stecken, neu nachzudenken. In diesem Zusammenhang finde ich sowohl Modelle, die von einem Grundeinkommen ausgehen, absolut erwägenswert, als auch jeden Ansatz, über die Prinzipien und Formen staatlicher bzw. anders institutionalisierter Förderung neu nachzudenken. In den 90er Jahren begegnete ich einem Wiener Kulturfunktionär, der einer Runde deutscher Funktionäre die Kulturförderung in Österreich erklärte. Er hatte einen riesigen, schönen Bauch, und sprach ständig von „Traoanschen“, die verteilt würden. Ich sah sofort große, dicke Tortenstücke vor mir, und meine noch immer, dass man darüber nachdenken könnte: Vierjahresstipendien, ohne Aufenthalte, Förderung nicht nach Arbeitsmonaten, sondern für einen gesamten Roman, so lange man eben für ihn braucht, Vertrauensvorschuss und – die Möglichkeit, sich zu irren, etwas auszuprobieren. Etwas, was der Markt eben nicht hergäbe. Darin läge für mich der Sinn staatlicher Förderung. Im Vergleich zu manch anderem Kunstbereich, von den Wissenschaften, allemal der Naturwissenschaft ganz zu schweigen, handelt es sich um geringste Summen.

PS1: Kommt man nicht in spezielle Kanonisierung von eh schon …

Draesner: Richtig, das ist eine Größe, mit der man rechnen muss. Und die man aussteuern müsste. Kanonisierung findet immer statt und ist an und für sich nichts Schlechtes. Ein Ordnungsprinzip. Schlecht wird es nur, wenn es das Einzige ist, das wirksam bleibt. Auch hier könnte mehr Imagination Bewegung schaffen. Das Wichtigste ist, nochmal grundsätzlich nachzudenken über das Bild vom Autor oder von der Autorin, das unsere Gesellschaft pflegt. Da herrscht zum einen noch immer die Sehnsucht nach dem Genie. Aber mächtiger scheint mir noch Spitzwegs Bild vom armen Poeten.

PS2: Ja.

Draesner: ‘Krise’, ‘Imagination’, ‘Wirklichkeit’. Jetzt sind wir mittendrin. Anspruch und Wirklichkeit des Poeten klaffen weit auseinander. Parnass oder doch lieber das Papier in den Ofen werfen, damit die Zähne nicht so klappern? Das ist ironisch, bitter, und wenig beruhigend, ganz nach dem romantischen Klischee: wer dichtet, muss leiden. Das Bild verquickt Erleben und Schreiben, und darin scheint es mir manchmal erschreckend zeitgenössisch. Als Gemälde aber ist es klüger, mir hat immer gefallen, wie viele Formen von Bedeckung Spitzweg aufgenommen hat. Überall stehen Kästchen und Schachteln, deren Inneres man nicht sieht, und der Poet selbst versteckt sich unter einer Decke, einer Schlafmütze, einem Regenschirm und einem Dach. Er ist ein Wesen in vielen Lagen von Stoff, also Text. Mitgemalt ist der Voyeurismus des Betrachters, das Eindringen des Blickes in etwas wie „Produktion“, die sich aber nicht zeigt bzw. nur als ihr eigenes Klischee zu erscheinen vermag.

PS2: Ich würde sagen, mit dem Erscheinen des Nicht-Autors-Autors im Bett können wir aufhören.

PS1: Wenn du keine Fragen mehr hast, dann würde ich ein ganz großes Danke von uns sagen.

Draesner: Ah, ihr seid aber schnell mit dem Umdrehen der Rollen. Jetzt klingt es, als hätte ich die ganze Zeit Fragen gestellt. Ist vielleicht auch so.

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