Sterntalers hoher Lohn
Imagination
Mithilfe der Imagination kann man eine neue Nudelsoße erfinden, Verbrechen begehen, ein Gedicht schreiben. Sie muss nicht, aber kann dazu benutzt werden, etwas überindividuell „Wertvolles“ herzustellen. Schreibe ich, folge ich, ohne genau zu wissen, wie das Ergebnis einmal aussehen soll, meiner inneren Vorstellung von einem „guten Text“. Um etwas zu gestalten, das vor meinem eigenen kritischen Urteil bestehen, aber auch anderen etwas sagen kann oder könnte.1 Diese sich wandelnde Text-Imagination ist es, die mich als Autorin antreibt, mich immer wieder neue Schreibanfänge machen lässt (welche manchmal schwierig sind, bockig, sich sperren).
Und nicht nur, um mein Schriftstellerinnen-Ich2 weiterzuentwickeln, bedarf es der Imagination als Kraft zur Vorstellung erstrebbarer Ziele. An angeborene, im Kern unveränderbare Identitäten glaube ich nicht, bin mir stattdessen sicher: Ohne meine Imagination wäre ich nicht viel mehr als ein Treibgut, durch mein Leben gespült. Ich würde mich „(at) random“ verändern, geformt werden, nie aber selbst entscheiden, was ich sein wollte, wo ich hinwollte. Denn ich bin zuallererst ein „Geschöpf meiner Einbildung“3. Imagination als Kraft der bewussten Gestaltung. Die Arbeit an einem literarischen Text oder irgendeinem anderen Menschenwerk ist in meinen Augen genauso auf sie angewiesen, wie das überlegte, autonome Fällen von Lebensentscheidungen im Rahmen des Möglichen.
Das Märchen „Sterntaler“ entwirft eine Welt, in der die mutigsten, selbstlosesten Gestalter für ihre Taten reich belohnt werden. Die Heldin (ein verwaistes, armes Mädchen) hat darin eine radikale Vorstellung von sich als gutem Menschen. Sie macht sich, ihre Identität, ihren Körper, zum Werk ihrer Idee des „Guten“. Sie gibt ihr letztes Stück Brot und ihre Kleidung fort und steht am Ende nackt da. Einen Tag lang wird sie weniger, am Schluss denkt sie sich, sie läuft nachts in den Wald: Jetzt ist es auch egal… und verschenkt ihr allerletztes Hemd. Indem das Mädchen seine Idee von sich selbst ausformt, verliert es an Materie; seine ideelle Selbst-Aufwertung entspricht einer materiellen Entwertung. Dabei hat sein Verhalten auch exhibitionistische Züge: Um sich weiterzuentwickeln, muss Sterntaler sich entblößen, bis auf die Haut ausziehen, Schamgrenzen überschreiten.
Das Sterntaler-Märchen und mein literarisches Schreiben unter zeitgenössischen Bedingungen verstehen sich auf Anhieb. Sie sind auf einer Wellenlänge: Auch bei aktueller Literatur steht in den meisten Fällen der ideelle Wert des Werks in keinem günstigen Verhältnis zu seinem materiellen Wert. Und auch ein guter literarischer Text, wie ich ihn imaginiere, verlangt es, dass sich die Autorin, der Autor durchscheinend macht. Ich kann mich, wenn ich schreibe, als Mensch nicht hinter einem ästhetischen oder kritischen Anspruch verstecken, ich schreibe mich selbst in den Text hinein, als angreifbares Exempel, als körperlicher oder biografischer Fixpunkt der Sprache, der Gedanken, der Themen. Je unpersönlicher ich meinen Text anlege, desto stärker spüre ich meine hochrote Scham, meine Angst davor, die eigene Innerlichkeit mitsamt ihren Widersprüchen vor fremden Augen zu entfalten.4 Sterntaler könnte ein Text von mir sein. Bis zu jenem Punkt der Geschichte, an dem die Sterne blanke Taler werden.
Krise
Mit Anfang zwanzig hatte ich die fixe Idee, dass die „literarische Relevanz“ von Texten Grundlage für die Entlohnung der Verfasser sei. Ich ging davon aus, dass es so etwas wie eine objektive Einschätzung des künstlerischen Wertes von Literatur gäbe, aus dem heraus sich auch ihr Geldwert errechne. (Das war ein hemmender Gedanke, denn die Latte, von bereits kanonisierten Werken gesetzt, hing hoch. Ein Wahnsinn, Schriftstellerin werden zu wollen, dachte ich mir. Wie konnte ich sicher sein, dass meine Texte über jede Kritik erhaben und „ihr Geld wert“ sein würden?) In meinem Germanistikstudium wurde meine Annahme, dass literarische Relevanz objektiv feststellbar sei, noch untermauert durch den Chor des Lobes für bestimmte Schriftsteller, die meist mindestens 50 Jahre tot waren und deren Können und Wichtigkeit komplett außer Frage standen. Mit diesen Herren konnte ich mich nicht messen.
Erst spät wurden mir die Gründe dafür klar, dass die Germanistik nichts über Gegenwartsliteratur sagte. Dass der wissenschaftliche Apparat der Bewertung von Literatur nur eine fragile Konstruktion war, die es schaffte, durch zeitlichen Abstand eine halbwegs fundierte Einschätzung von Texten zu liefern. Ein Apparat, der Erkenntnisse über gesellschaftliche Hintergründe, Bewertungen der Literaturkritik, allgemeine kulturelle Einschätzungen, Wirkungsgeschichte etc. subsumierte.5 Über aktuelle Literatur war es nicht möglich, objektivierte Aussagen dieser Art zu machen. Man konnte etwas, was man noch nicht kannte, gar nicht wirklich bewerten. Vergleichen – ja, aber das führte nicht immer dazu, Neues klarer zu sehen. Mögen, ablehnen –ja, aber solch ein Urteil hatte nicht das Gewicht einer wissenschaftlichen Bewertung. Die Besonderheiten eines Textes waren, wie in einem Vexierbild, nur deutlich für die oder den, „der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war; unsichtbar für den, der gar nicht weiß, daß es da etwas zu suchen gilt.“6 Ich kam zu dem Schluss, dass man nur das verstehen und einordnen konnte, zu dem man sich bereits den Weg gebahnt hatte.7
Die „objektive“ Qualität eines Textes konnte es also nicht sein, die über dessen öffentliche Anerkennung bestimmte, es musste andere Faktoren geben. In einem Interview, das ich Ende 2015 für die Literaturzeitschrift „Poet“ führte, schlug mir die Tänzerin und Schriftstellerin Tabea Xenia Magyar folgende Kriterienliste für bleibenden literarischen Erfolg vor, in der die „Qualität“ den ihr gebührenden Platz als eine Größe unter vielen einnahm: Zufall, Moden, kontinuierliches Schaffen, Selbstvermarktung, Qualität, Geschlecht, soziale Klasse, Herkunft.8 Seitdem ergänze ich diese Liste im Kopf fortlaufend um neue außertextliche Faktoren. Um zu verstehen, wie schwer die Bewertung zeitgenössischer Literatur nachzuvollziehen ist, fehlte mir nur noch die Einsicht, dass viele Personen, deren Werke öffentliche künstlerische Anerkennung erhielten, mit ihrem Schreiben trotzdem zu wenig Geld zum Leben verdienten.9 Unter den Lyrikschreibenden sogar fast alle, bis auf wenige Ausnahmen, die, meist nach dem Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben“), regelmäßig hoch dotierte Preise etc. bekamen. Lyrik als Lebensform war und ist besonders prekär – „das amortisiert sich nicht“,10 dieses, durch die Red Bull-Augen der Zeitgenossinnen betrachtet, ziemlich irre, entblößende Dasein.
Die international etablierte Lyrikerin Friederike Mayröcker, die seit vielen Jahrzehnten veröffentlicht und inzwischen über 90 Jahre alt ist, erzählt zum Beispiel, wie sie nach langer Tätigkeit als Englischlehrerin, die sie am Schreiben stark hinderte, ihren „Brotberuf“ ablegte:
„Das heiszt ich bin ausgestiegen, ich habe den Abschied genommen vom Unterrichten, aber ohne Gehalt, also ohne Bezahlung. Auf die Dauer war das schwierig. Und mit dem Schreiben kann man nichts verdienen. Überhaupt nichts. Ich kann heute noch nicht von meinen Büchern leben. [auflachen] Das geht uns allen so.“11
Ein Trost oder eine Versöhnung mit der finanziellen Krise scheint für Mayröcker der hohe Wert des gestalterischen Daseins, des Lebens mit der Imagination, zu sein:
„Ich bin ja an und für sich ein glücklicher Mensch, weil ich schreiben kann. Und ich denke mir oft, Menschen, die das nicht machen können, die also nicht schöpferisch arbeiten können, haben es eigentlich schlechter im Leben.“12
Dass Gestalten oft glücklich macht, manchen Menschen regelrecht notwendig erscheint, wie Essen zum Beispiel, ist sicher richtig. Im Gespräch mit mir formulierte eine Kollegin vor kurzem: „Wenn ich nicht schreibe, dann habe ich das Gefühl, gar nicht richtig zu leben.“ Ich kann dieses Gefühl nachvollziehen. Auf Grund ihres unbrechbaren Rückgrats ist Mayröcker zum Vorbild vieler Schreibender geworden. Die bedrückenden Arbeitsverhältnisse, den Drang zur Produktion von „geldwerter“ Literatur – oder gar keiner Literatur – hat sie niemals sichtbar Teil ihres Werkes werden lassen; indessen hat sie immer noch mehr, noch „schwierigere“ Sachen geschrieben. Und trotzdem: Ihr Lob des „schöpferischen Daseins“ in dem Interview ist mir zu einseitig, wie reflexhaft. In meinem Kopf klingen vor allem die Relativierungen nach – „an und für sich …“, „eigentlich …“ Es garantiert ja zudem niemand, es ist sogar höchst unwahrscheinlich, dass die materielle Krise nicht auch zur Schreibkrise wird. Schließlich gibt es, wenn man beruflich schreibt, ganz unbestreitbar die wiederkehrende miese Laune des Nicht-Vorankommens, sich Wiederholens. Das ewig Halbprivate des literarischen Schreibens, das ätzend wird, wenn sich das Gefühl festsetzt, in der mühsam erkämpften Arbeitszeit nicht über sich selbst hinweg zu einem ästhetischen, kritischen, wie auch immer gearteten Mehrwert aufsteigen zu können. Und da zwingt mich auch schon mein knurrender Magen, wieder vom Schreibtisch aufzustehen.
Wirklichkeit
Je mühevoller errungen die Schreibzeit ist, desto leichter kippt die Stimmung. Weil – zum Beispiel – Elternschaft so innerlich ausfüllend und zeitintensiv ist, befürchte ich oft, keine gute Autorin sein zu können, weil ich Mutter bin. Dass es kein Zufall ist, dass die meisten meiner weiblichen literarischen Vorbilder, auch die zeitgenössischen, auch die jungen, kinderlos sind. Ist „ernsthaftes“ Schreiben nur etwas für Leute, die auf andere zeitlich, gedanklich und emotional einnehmende Lebensaspekte verzichten? Vieles ist per „freiwilliger Selbstausbeutung“ möglich (Prinzip „Jetzt-erst-recht“). Ich akzeptiere die drohende Entfremdung von einem freundschaftlichen und familiären Umfeld, das über mehr Geld verfügt als ich und dessen Lebensstil sich immer weiter von meinem entfernt.13 Ich mag meine „Brotarbeit“ an drei Tagen der Woche – obwohl sie sich schlecht auf mein Schreiben auswirkt, weil ich oft den Faden verliere und Ängste aufbaue, die Arbeit an meinen Texten nach Unterbrechungen wieder aufzunehmen. Ich bin froh über meine Familie. Unerträglich ist es, mein Schreiben, da es kein Kapital umsetzt, vor ihr wie ein zeitaufwändiges Hobby verteidigen zu müssen.
Gleichzeitig weiß ich, dass nicht nur Schreibende, sondern die meisten Menschen, die in der aktuellen Erscheinungsform des Kapitalismus für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen, „gestresst“ sind. Sehr viele leiden unter Depressionen. Verkorkster, d.h. nicht existenter „Work-Life-Balance“. Das Schriftstellerinnendasein ist nur ein krasses Beispiel für das Leben in einer Gesellschaft, in der allgemein und strukturell für fast alle etwas schiefläuft.14 Besonders vergleichbar mit der Lage der Schreibenden ist die Lage der Personen, die in anderen Künsten und in der Wissenschaft tätig sind. Auch sie werden ideell gehypt15 und materiell vernachlässigt. Im Blick auf sie dominiert die bequeme Erzählung von einem jungen Geistesmenschen (Autorin, Künstler, Wissenschaftlerin, …), der in aller Freiheit und Freiwilligkeit die eigene „Selbstverwirklichung“ verfolgt und dabei nicht nach finanzieller Entlohnung (sondern nach höheren Dingen) strebt: „Tell me that you want that kind of things, that money just can’t buy!“16 Ist seine Imagination aber groß genug, gut genug, dann wird sich (zwingend logisch) auch ein materieller Erfolg einstellen. Idealerweise, solange das Superbrain im reproduktionsfähigen Alter ist. Das kann „in seltenen Fällen“ knapp werden (v.a. wenn ein superkluger Uterus im Spiel ist)...
An Märchen muss man glauben wollen.
Und das verstehe ich. Dass man an etwas glauben will. Schließlich fühle ich mich zur märchenhaften Sterntalerfigur extrem hingezogen. Ich fühlte mich schon immer zu den „Waisenkindern“ hingezogen, zu den „Losern“, zu den „Slackern“, zu denen, die Erfolg und Geld irgendwie nicht erregend fanden. „Der ganze hustle um die Knete macht mich taub und stumm, für den halben Luxus leg ich mich nicht krumm. Nur der Scheich ist wirklich reich!“ – usw.17 (Und wenn er kommen sollte, der Erfolg, dann bitte so, dass es hingerotzt wirkt, dass man die Arbeit, die in ihm steckt, nicht merkt.) Aber es verzerrt das Bild, wenn Menschen, die ein Leben im Low-Budget-Außenseitertum führen, bloß bewundert, nicht auch in ihrem Leid gesehen werden. Das unterstellt, dass sie sich freiwillig zu ihrer entbehrungsreichen Existenz entschieden hätten; sie haben sich aber nicht frei entscheiden können, höchstens für das von ihnen als geringer empfundene Übel. Wenn ich (wie vermutlich viele vor mir) von Mayröckers „unbrechbarem Rückgrat“ schreibe – oder wenn Erbs „unkorrumpierbare poetische Haltung“ gelobt wird, die „Berührung, Engagement, Trost, Tiefe und Freiheit“18 vermittele, sollte man im Kopf behalten, wie fragil die Standpunkte sind, von denen aus gesprochen wird. Denn die positiv besetzte Idee der sympathischen Verliererin kommt letztlich von außen – und dem Bestehenden zugute. Faktoren wie Geld (Zensur, Vereinfachung, unaufrichtige Sinnsuche) können Texte und Lebenswege „korrumpieren“, aber nur, weil es an gerechter Entlohnung, gedanklicher Freiheit und Sinngebung mangelt. Und diesen Mangel wünscht sich niemand, er wird ertragen. So lange es geht. Der Wunsch nach einem „Geländer“19, nach etwas, woran man sich festhalten kann, ist in materieller Bedrängnis groß. Und daher, ich weiß das, ist meine Faszination für Sterntaler natürlich auch eine vormoderne Sehnsucht danach, dass es eine höhere Macht geben möge, die sich um mich kümmerte und mir Gerechtigkeit außerhalb der kapitalistischen Logik widerfahren ließe. Danach, einmal die Kontrolle abzugeben, mich fallen zu lassen, aufgefangen zu werden. Von einer Wolke. Ein wichtiges Bedürfnis, dem nachzufühlen ich als Teil meiner schriftstellerischen Arbeit begreife. Aber ganz klar nicht als Handlungsanweisung.
Voraussetzung für gemeinsame Anstrengungen zur Verbesserung der Lage wäre ein solidarisches Empfinden der Schreibenden füreinander. Und das ist leider schwach ausgeprägt. Die Einstellung „Wer auf Dauer nichts verdient, ist eben nicht genial genug“ ist auch unter ihnen verbreitet – obwohl es alle besser wissen müssten. Weil die wenigen, die von ihrer Literatur leben können, sich dafür nicht noch rechtfertigen wollen? Weil sie ihre Reputation aufs Spiel setzen würden, wenn sie zugäben, dass unzählige gleich gute Kolleginnen prekär lebten? Weil der Mehrheit der „brotlosen“ Schriftsteller sowieso niemand zuhört – oder weil sie nicht deutlich genug werden? Viele jedenfalls kreiden ihre Misere nicht explizit den allgemeinen Umständen an und wettern stattdessen auf die „angepassten“ Wenigen, die sich mit ihren Texten ein Einkommen und eine breitere Anerkennung erarbeiten konnten. Dabei heißt, dass es für die einen besonders schwer ist, ja nicht, dass es für die anderen leicht ist!20
Gibt es hier nicht einen deutlichen Widerspruch zwischen der mit so viel Ausdauer trainierten Fähigkeit Schreibender, zu gestalten, (noch) nicht Vorhandenes zu imaginieren – und ihrer Akzeptanz der Bedingungen, unter denen die meisten von ihnen leben? Es wäre besser, die raue Wirklichkeit, mit der sich Schriftstellerinnen herumschlagen müssen, nicht als gottgegeben, schicksalshaft oder naturwüchsig21 zu erleben. Die (Er-)Lösung daraus kann kein Goldregen, kein deus ex machina, kein königlicher Bote (nach dem Motto: „Wenn die Noooot am höööööchsten, ist die Ree-ttung am nää-hesten!“22) sein. Sondern das Resultat der eigenen Köpfe Arbeit, geformt mit einer radikalen Imagination von etwas „Gutem“.
1 Etwas mit dem Potenzial, fremde Wahrnehmungs- und Erkenntnisorgane in eine nach meinem Dafürhalten lohnenswerte Richtung zu lenken.
2 Mit den von mir uneinheitlich gewählten Genus-Endungen von Personenbezeichnungen sind in diesem Text in der Regel Menschen (aller Art) angesprochen.
3 So formuliert es Virginia Woolf in ihrem Essay „Ein eigenes Zimmer“, der die materiellen Bedingungen des Schreibens, vor allem für Frauen, so humorvoll und treffend verhandelt, dass es trotz des unerquicklichen Themas eine Lesefreude ist. Zu Einbildungskraft und Selbstvertrauen notiert sie: „Das Leben beider Geschlechter […] ist anstrengend, schwierig, ein unaufhörlicher Kampf. Es erfordert Riesenmut und Riesenkraft. Mehr als alles andere vielleicht, da wir nun einmal Geschöpfe unserer Einbildung sind, erfordert es Vertrauen in sich selbst. Ohne Selbstvertrauen sind wir wie Neugeborene in der Wiege.“ Virginia Woolf 2001: Ein eigenes Zimmer. Essay, S.37.
4 Persönliches Sprechen enthält die Freude an der Setzung der eigenen Perspektive als allgemeiner (oder allgemein relevanter) Perspektive. Besonders Frauen schrecken vor so einer Selbstpositionierung oft zurück – zu Recht, da der Verweis auf die Biografie der Autorin nur zu gerne benutzt wird, um den literarischen und intellektuellen Wert von Texten in Frage zu stellen (vgl. den Essay „Worte überm Abgrund“ in diesem Heft).
5 Damit möchte ich der Literaturwissenschaft keineswegs ihr Existenzrecht absprechen. Höchstens für eine – sicher schon stattfindende – Modernisierung und Hinterfragung des Kanons plädieren. Und für ein Selbstverständnis, das davon ausgeht, dass eine wissenschaftliche Bearbeitung von Texten auch dann eine Berechtigung hat, wenn sie sich nicht vollends dem Diktum der Objektivierbarkeit unterwirft, sondern einen offeneren intersubjektiven Ansatz verfolgt.
6 Franz Kafka, kritische Ausgabe, Tagebücher, Hg. Hans-Gerd Koch u.a. 1990, 30.9.1911, S. 47.
7 Die Lyrikerin Elke Erb fasst dieses Phänomen aus der Perspektive der Produktion von Literatur gut zusammen, wenn sie sich in Interviews weigert, die Standardfrage nach ihren literarischen Vorbildern zu beantworten. Das, woran sie als Schriftstellerin anknüpfen könne, sagt sie sinngemäß, sei immer nur das, was sie bereits „(selber schreiben) könne“. Sonst würde es ihr gar nichts bedeuten. Die anderen Autor*innen, die sie lese, könnten also bestenfalls Sachen bestätigen, die sie schon für sich selbst entwickelt habe. Bewusst ignoriert Erb hier Aspekte unbewusster Beeinflussung, um einen Punkt stark zu machen: Literatur kann niemals voraussetzungslos aufgenommen werden. Also auch nicht neutral bewertet.
8 Reihenfolge willkürlich.
9 Ebenso geht es vielen bildenden Künstlerinnen und freien Musikern. Vgl. dazu den Artikel „Brotlos glücklich“ im Wirtschaftsmagazin „brand eins“ vom Juni 2017, S. 110-117. Trotz seines perfiden Titels ist er interessant und liefert deutliche Zahlen zum Einkommen kreativ Tätiger.
10 Tristan Marquard 2013, das amortisiert sich nicht. gedichte, kookbooks.
11 Mayröcker im Interview mit Astrid Nischkauer, gepostet auf „fixpoetry.de“, 21.3.2017
12 Ebd.
13 Ich bin mir sicher, dass für mich, da ich mit 37 Jahren noch am Anfang meiner „literarischen Laufbahn“ stehe, solche Diskrepanzen besonders auffällig sind, habe aber den Eindruck, dass auch die meisten Menschen, die schon mit Anfang/Mitte 20 literarisch in Erscheinung treten, früher oder später vergleichbare Erfahrungen machen.
14 In der zum Beispiel die angestrebte Identifikation mit der Erwerbsarbeit deren Bedingungen zudeckt. Die Künste setzen hier nur in regelrecht „vorbildhafter“ Weise die Identifikation mit der Tätigkeit an die Stelle von Entlohnung und geregelter Arbeitszeit. Vgl. dazu: Luc Boltanski u. Eve Chiapello 2006: Der Neue Geist des Kapitalismus.
15 Was meine ich mit „ideell gehypt“? Fakt ist, dass zum Beispiel das Buch, das Lesen „an sich“, einen sehr guten Ruf haben. Angeblich sinkendes allgemeines literarisches Interesse wird als negativ wahrgenommen, das Lesen bei Kindern gefördert, ja fast schon medizinisch verordnet, die Krankenkassen weisen zum Beispiel auf die positiven Effekte des Vorlesens schon bei Kleinkindern hin. Es gibt eine bundesweite Stiftung, die „Stiftung Lesen“, die sich mit dem Slogan „Lesefreude wecken. Lesekompetenz stärken“ für die Literarisierung des Nachwuchses von früher Kindheit an einsetzt. Da geht es zunächst noch wenig um Inhalte, eher um das Lesen „an sich“. Aber es gibt durchaus eine sensible Einschätzung des Faktes, dass es wertvoll ist, zum Beispiel Geschichten zu erzählen, die einen Einblick in relevante (Sub-)Kulturen, in komplexere Thematiken gewähren, die neue Perspektiven eröffnen, vielleicht sogar Verständnis und Toleranz fördern. Auf der Ebene des Umgangs mit Sprache wird die Etablierung eines Schreibens anerkannt, das sich von manipulativen, konventionellen, überschnellen etc. Sprechweisen (aus Bereichen wie Werbung, Politik, Journalismus) abgrenzt und eine Kommunikationsart kultiviert, die – zu – einfache Mitteilungen weitgehend ausschließt. Die Wertschätzung von Literatur steht in keinem Verhältnis zu den Arbeitsbedingungen, unter denen sie entsteht.
16 The Beatles, Song „Can’t buy me love“, 1964. Eine vielschichtige Analyse der Existenzbedingungen in der Kultur- und der wissenschaftlichen Arbeit liefert Michael Hirschs Radiofeature „Das Unbehagen an der Kulturarbeit“ im „Nachtstudio“ vom 15. März 2016, Radio Bayern 2.
17 Anette Humpe (Band Ideal), Song „Blaue Augen“, 1980.
18 „Elke Erb“. Text + Kritik, Heft 214 hg. v. Steffen Popp, Klappentext.
19 Daniela Seel: das amortisiert sich nicht, in: was weißt du schon von prärie. gedichte, kookbooks 2015.
20 Glaube mir das oder gehe zurück zu Fußnote 3.
21 Meinem Verständnis nach korrespondieren die Begriffe der „Zweiten Natur“ (z.B. nach Marx, der damit die unumstößlich scheinenden, aber letztlich doch menschlich gemachten Lebensumstände im Kapitalismus beschreibt) und der neuerdings virulente des „Anthropozäns“ miteinander. Das Besondere am Anthropozän als kultureller Perspektive ist ja nichts anderes, als dass die Natur (seit der Industrialisierung) in erster Linie menschengemacht ist – und dass die Zukunft des Planeten von daher komplett vom Menschen abhängt. Der Gedanke der menschlichen Macht oder Handlungsfähigkeit in Bezug auf die Umgebung, in der sie leben, ist beiden Begriffen als Kern gemein.
22 Auch Brecht nahm diese Einstellung aufs Korn, was zeigt, wie verbreitet sie ist. Und kontinuierlich war. Zitat aus: Brecht/Weill, Der reitende Bote, Dreigroschenoper, 1928.
Zum Nachlesen, -hören:
Böhme, Johannes 2017: Brotlos glücklich, in: brand eins. Wirtschaftsmagazin, 6/17, S. 110-117.
Boltanski, Luc und Eve Chiapello 2006: Der Neue Geist des Kapitalismus.
Golde, Olivia und Carolin Krahl 2017: Worte über dem Abgrund. Versuch einer Korrektur des Melancholiebegriffs für das Schreiben, in dieser Ausgabe, S. xx-xx.
Hirsch, Michael 2016: Das Unbehagen an der Kulturarbeit, in: Nachtstudio, Radio Bayern 2, 15. März 2016. (s. http://cdn-storage.br.de/iLCpbHJGNL9zu6i6NL97bmWH_-by/_-ZS/9-Nd5yvp/160315_2003_Nachtstudio_Das-Unbehagen-an-der-Kulturarbeit.mp3)
Kafka, Franz 1990 (1911): Kritische Ausgabe, Tagebücher, hg. v. Hans-Gerd Koch u.a.
Kow, Anna 2015: Existenzbedingungen des Schreibens. Zur Ideologie der Unbedingtheit, in: PS: Politisch Schreiben. Anmerkungen zum Literaturbetrieb 1, S. 37-42.
Magyar, Tabea Xenia 2016: Die Frage ist, ob man, um Geld zu bekommen, nicht automatisch eine Kunst machen muss, die auf bestimmte Weise geformt ist. Interview, in: Poet 20, S. 188-197.
Mayröcker, Friederike 2017: Interview mit Astrid Nischkauer, gepostet auf „fixpoetry.de“, 21.3.2017. (s. https://www.fixpoetry.com/feuilleton/interviews/friederike-mayroecker/astrid-nischkauer/friederike-mayroecker-im-interview-mit-astrid-nischkauer)
Seel, Daniela 2015: was weißt du schon von prärie. gedichte, kookbooks.
Woolf, Virginia 2001 (1929): Ein eigenes Zimmer. Essay (A Room of One’s Own).