Lesen. Eine Erfahrung entlang dreier Begriffe
Imagination – Krise – Wirklichkeit. Seit ich den Schwerpunkt für die neue Ausgabe von PS erfahren habe, drängt sich mir eine Frage auf. Nicht die Seite der Macherinnen 1 von Literatur, für die die obige Triade ein verständliches Anliegen sein wird, beschäftigt mich; sondern vielmehr diejenige der Leserinnen. Die Frage lautet: Welche Bedeutung können Imagination, Krise, Wirklichkeit beim Lesen erlangen? Spiegelt sich in dieser Begriffsabfolge nicht ein Prozess wider, der das Verhältnis von Lesenden zu ihrem Lesestoff bestimmt? An dieser Hypothese schlängeln sich die folgenden Ausführungen entlang. Ihren Ausgangspunkt bildet mein Verdacht, dass allen, die lesen, beim Lesen etwas widerfährt, das sich durch diese begriffliche Dreierkette verstehen lässt. Sie muss bei jeder Leseerfahrung am Werke sein, und ich möchte darlegen, warum. Dafür will ich jeden einzelnen der drei Begriffe näher betrachten.
Imagination
In welchem Verhältnis Literatur zu Imagination steht, lässt sich nur insofern treffend beantworten, als dass Texte faktisch nicht dasjenige sind, was in ihnen geschrieben steht und wovon sie handeln. Bereits im Wortursprung findet sich das Bildhafte angelegt, imago bedeutet im Lateinischen „Bild“. Ein Buch unterscheidet sich wesentlich von den in ihm vorkommenden Figuren mit ihren Handlungen, ihrem Ort und ihrer Zeit. Deshalb ist ein Reisebericht keine Reise, und ein Romanleben existiert jenseits des Romans nicht so, wie im Roman beschrieben. In ihm kann höchstens geschickter oder weniger geschickt eine Geschichte erzählt werden, bei der Leserinnen sich ihr Bild des Erzählten machen und darin „so tun, als ob“ sie selbst diese Geschichte erleben. Erfahrungen, Phantastereien, Ideen und andere Zeugnisse der Imagination von Schriftstellerinnen treffen im Medium des Textes auf die Imagination der Lesenden. Auch sie müssen Phantasie und Antizipation walten lassen, um sich mit dem Gelesenen zu konfrontieren, um auf das Erzählte zu reagieren und sich in die Welt des Textes bildhaft hineinzuversetzen. Wenn man sich auf das Kriterium der Imagination beim Schreiben und Lesen konzentriert, wird unwichtig, ob das Erzählte jenseits seiner Textform real existiert oder nicht. Geht man davon aus, dass ein Text ein Produkt von Imagination ist und nur durch Imagination beim Lesen zum Tragen kommt, verblassen zum Beispiel Genreunterschiede, so dass eine verbürgte Autobiografie näher an einen Fantasyroman heranrückt, als wenn man sich Texten etwa mit dem Kriterium der Authentizität nähern würde.
Krise
Wer liest, stelle ich fest, befindet sich also notwendig in einer Krise: Die imaginierte Welt des Textes prallt im Lesen auf die bekannte Welt der Leserin, diese beiden unterscheidet und bewertet sie aneinander. Gelesenes als Imaginiertes muss sich kritisch an der Wirklichkeit messen und sich darin behaupten. Kritik und Krise teilen nicht umsonst den gleichen Wortstamm – krínein, altgriechisch für trennen und unterscheiden, ist das Herkunftswort für beide. In der Krise wird eine kritische Beurteilung des Gegebenen fällig, ein Überdenken und Neubewerten. Etwas (das Neue, das Fremdartige, das Unbekannte) wird von etwas anderem (dem Alten, dem Eigenen, dem Bekannten) getrennt oder unterschieden und nach dieser Prüfung beurteilt. Was taugt es? Was verändert es? Das Neue ist der Text, in dem die Imagination der Schriftstellerin und die der Leserin einander im Akt des Lesens begegnen. Lesen birgt insofern einen kritischen Umschlagpunkt, als dass es eine Leserin dazu bringt, ihr gewohntes Altes mit dem unbekannten Neuen der Texte zu konfrontieren. Aus dieser ästhetischen Konfrontation folgt die Neuorientierung – wenn man sich ihr öffnet. Gelesenes kann daher nicht spurlos an Lesenden vorbeigehen, aber die Erfahrung mag oft schnell beiseitegelegt, dann ignoriert, verdrängt und vergessen werden. Nicht verwunderlich, dass viele behaupten, sich häufig an nichts in einem belletristischen Werk erinnern zu können und Schwierigkeiten zu empfinden, über den Leseeindruck zu sprechen. Der kritische Umschlagpunkt, geeignet, von der Imagination in die Wirklichkeit überzuleiten, birgt bisweilen vernachlässigte ästhetische Erfahrungsmomente. Im Vergleich zu Alltagsfragen von Lesenden – wie der Text gefällt, ob man ihn empfehlen kann und ähnliche – kommt die Frage Worauf hat mich der Text gestoßen? womöglich seltener vor. Ebenso: Vielleicht eine Erwartungshaltung, bevor das Lesen beginnt; warum greift der eine zu diesem Buch und die andere zu jenem? Will ich unterhalten werden, oder – wonach sehnen sich Menschen, die lesen wollen? Man hat Scheu vor der verpönten Innerlichkeitstendenz solcher Fragen, vermutet vielleicht sogar, hier würde die heilige Funktionslosigkeit des Lesens, zumal von sogenannter Belletristik, infrage gestellt. Kafka zum Beispiel schrieb jedoch im Jahr 1904 seinem Freund Oscar Pollak: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst?“ Lesevorgänge vollziehen sich nun mal im Inneren, die Erweckung durch Faustschlag oder das Glück sind intim. Selbst beim Vorlesen ist die Krise des Lesens, in der die Imaginationen von Schriftstellerin und Leserin zusammenfinden, eine innerliche. Sie löst Vorgänge aus, die von außen nicht sichtbar sind und erst durch Abstraktion und Reflexion anderen zugänglich gemacht werden können. Daher erfordert die Verbalisierung von Leseerfahrungen Übung. Es fällt nicht leicht, aus dem Inneren zur Realität zu finden, sich in die Wirklichkeit vorzutasten und darüber zu sprechen, was beim Lesen passiert.
Wirklichkeit
Nach dem Lesen zurück in die Wirklichkeit finden – keine leichte Aufgabe. Hat man sich auf das Neue eingelassen, ein Altes schwanken sehen, ein anderes Sein ausprobiert, in dem man ganz seltsame Entscheidungen getroffen hat, die sonst nie getroffen würden… wie weiterleben? Die Wirklichkeit hört beim Lesen nicht auf, sie bleibt heimliche Begleiterin, aus ihrem Anteil am Leseprozess entsteht erst die Krise. Könnte sie ausgeschaltet werden, würde einer der beiden Spannungspole fehlen, zwischen denen sich im Lesen das radikale Potential zur Veränderung entwickelt. Für das zwischen den Polen von Imagination und Wirklichkeit kritische Geschehnis fallen mir viele Varianten ein, nicht nur Konfrontation, sondern auch Ergänzung, Experiment, Ermutigung, Ratschlag – gerade dann, wenn es sich nicht um Ratgeberliteratur handelt. Anteiliges Anprobieren einzelner Charakterzüge: Wäre ich – meiner Wirklichkeit teils klebrig verhaftet – je so wagemutig wie Brigitte Reimanns Heldin Franziska Linkerhand, die sich entschließt, ganz allein in eine kleine, ferne und unbekannte Stadt zu ziehen, um dort als Architektin zu arbeiten? (Dagegen weiß ich bereits: Nie hätte ich an Linkerhands Stelle diesen furchtbaren Wolfgang Exß geheiratet!). Schwer fällt dabei, den Maßstab für die eigene, durchaus überhebliche Bewertung zu schätzen, denn die in Literatur erzählte Realität kann ganze Epochen weit weg liegen, einen ganz anderen Typus Mensch beschreiben, oder an Orten spielen, die es vielleicht nicht gibt. Was weiß man heute schon von den Zwängen und Freiheiten der anderen Menschen, damals? Allerdings denke ich, dass in gelungenen und glücklichen Leseerfahrungen eben diese Kluft zwischen Schreibenden und ihren Lesenden in der Krise des Lesens aufgehoben wird und mitunter verschwindet. Die Schwerfälligkeit der schieren Messung des Eigenen am Fremden entweicht, heraus schält sich Spielerisches, ein Experiment. Versuchsanordnung mit offenem Ausgang, Reise in ein Unbekanntes. Aus den zu Lesebeginn vergleichsweise simplen Reaktionen und spontanen Einschätzungen – ob die Figuren einer zu nah oder zu fern sind, ob sie zu manieristisch oder zu naiv beschrieben werden (und viele solcher Einschätzungen mehr) – werden Zufluchtsorte, in die man kurzzeitig entfliehen kann. Lässt man den vorübergehenden Umzug an einen solchen Ort zu, kann man darin jemand anderes sein, ohne sich völlig zu verlassen. Aus sich herauszutreten misslingt durch Wirklichkeitsverhaftung, dieses Misslingen tröstet aber zugleich: Ein manches Mal will ich gar nicht die sein, von der ich da lese; ziemlich häufig sogar. Mitunter liegt dies außer an der Empfänglichkeit der Lesenden durchaus an der Güte des Textes. Aber diese Pointe wäre ohne die Abfolge von Imagination, Krise und Wirklichkeit nicht denkbar.
Die Pointe. Ein kritischer Umschlagpunkt oder ein Wendepunkt, der jedes Experiment ein auf seine Weise geglücktes werden lässt, weil und insofern er eine überraschende Erkenntnis hervorbringt – und sei es die, dass eine Geschichte nicht überrascht, sondern langweilt. Viele derartige Überraschungen, die die Leseerfahrung als Experiment ausmachen. Und auf die man recht eigentlich nicht verzichten kann.
1 Ich entscheide mich in diesem Essay bei den allgemeinen Nennungen für die durchgehend weibliche Sprachform – gemeint sind gleichwohl alle Formen von Geschlecht/eridentitäten.
Verwendete Literatur und Inspirationen:
Brigitte Reimann (2013). Franziska Linkerhand. Aufbau Taschenbuch.
Franz Kafka (1958). Briefe 1902-1924. Fischer.
Alberto Manguel (2000). Eine Geschichte des Lesens. Rowohlt Taschenbuch.