Salz im Ohr

 

Wenn es nach mir ginge, dann müsste es dieses Weihnachtsfest nicht geben.

Seit einer halben Stunde sitzt Patrick in seinem Auto und brummelt vor sich hin. Brummeln findet er besser als Herzrasen. Das Auto seines Bruders und das seiner Eltern, beide, hat er schon vorbeifahren sehen. Als er die Scheinwerfer kommen sah, hat er sich unters Lenkrad geduckt und gewartet, bis die Motoren verstummten und die Stimmen im Haus verschwanden.

Scheiß drauf.
Patrick dreht den Autoschlüssel um und schaltet den Getriebeknauf auf drive. Er wendet und fährt aus der Einfamilienhaussiedlung raus, zurück auf die Hauptstraße.
Tzt. Schisser, du!
Mit einem festen Tritt auf die Bremse bringt er das Auto zum Stehen. Er dreht um und parkt wieder ein. Nun ist er bereit auszusteigen, doch daran hindern ihn seine Gedanken. Sie legen sich wie der Sicherheitsgurt um ihn und blockieren seine Bewegung.
Sie werden mich zerhäckseln, in Stücke teilen, aufspießen und fressen.
Die Gedanken bilden ein immer dichter werdendes Netz um ihn, sodass das Haus vor seinen Augen erst verschwimmt und dann verschwindet.

„Au!“
Patricks Finger sind blassrosa, blau gefleckt und stechen vor Kälte. Mit Atemluft versucht er sie zu wärmen, dabei fällt sein Blick auf die beschlagene Frontscheibe. Eiskristalle und Dunst haben sich ausgebreitet. Er wischt sich ein Sichtfenster frei, um das Geschehen im Wohnzimmer beobachten zu können.
Eins, zwei, drei, vier, fünf… sechs!
Sein Atem stockt.
Sechs. Sie sind alle da. Aber – was, wenn es wird wie zum Abiball? Ey, Mann. Warum bin ich nur hergekommen?
Die Antwort ist einfach. Seine Mutter hatte ihn gebeten.
Nein! Eine Bitte war es nicht. Es war eher eine Anklage.
Sie hatte gesagt: „Sabine, wenigstens dieses Jahr! Und du weißt doch, Oma und Opa, die fragen schon, ob sie dich nochmal sehen.“
Ja. Oma und Opa.
Und dieses Sabine!
Er hatte es genau gehört. Es war, wie wenn man Salz anstelle von Zucker isst. Pures Salz – das merkt man einfach. Und es hinterlässt einen Geschmack, den man nur gequält runterschlucken kann.

Er hatte seiner Mutter gesagt, er müsse in seinem Terminplaner nachsehen. Doch stattdessen hatte er Annika angerufen, um schon 30 Minuten später auf ihrem Küchensofa im Zigarettendunst zu sitzen. Ohne etwas zu sagen, hatte er das kühle Bier bis zum letzten Schluck der zweiten Flasche seine Kehle hinunterlaufen lassen. Erst danach war er soweit.
„Die akzeptieren mich und meine Entscheidung doch nicht, wenn sie immer noch Sabine sagen. Ja klar, sie brauchen Zeit. Aber! Sie wissen es seit über einem Jahr. Und, stell dir vor, was, wenn meine Großeltern sagen, sie seien zu alt für so’n Schmarrn? “ Er ließ seine wild gestikulierende Hand aufs Sofa knallen, um daraufhin das nächste Bier zu öffnen. Annika drehte sich zum Kühlschrank und holte den Anisschnaps heraus. „Mhm? Heut is das das Richtige, oder?“ Er nickte und sie begannen, abwechselnd aus der Flasche zu trinken. Der letzte Schluck endete mit einem lauten Rülpser von Annika. Sie guckten sich mit ihren rot gewordenen Gesichtern an und prusteten vor Lachen. Immer wieder musste einer loslachen, wenn gerade Ruhe einkehrte und das wiederum steckte den anderen an. Ihr Gelächter hielt so lange an, bis ihre Bäuche schmerzten und sie langsam atmend versuchten, zur Ruhe zu kommen.
Patrick blickte sie an. „Das war gut. … Aber weißt du, ich will se’ nich verliern! Erst recht nich jetz, jetz, wo es mir so sauu gut geht.“ Mit einem Kopfschütteln hatte Annika ihn zu sich herangezogen. „So’n Quatsch! Hab doch keene Angst. Is doch Familiiee, Mänsch. Die lieben dich. Und außerdem musst du da irgendwann hin. Oder willst du niieee mehr nach Hause?“

Jetzt komm!
Patrick steht auf und schließt die Tür hinter sich zu. Über das Dach des Autos blickend sieht er den mit Tannen bewachsenen Hügel und muss grinsen. Beim Schlittenfahren hatte Papa immer Angst, gegen die Bäume zu prallen. Trotzdem ist er mitgekommen. Ich musste nur traurig gucken.
Stöße, die von innen gegen seine Kopfwand pochen, reißen ihn aus den Gedanken. Sie senden Wellen aus Hitze, Schweiß und Kälte durch seinen Körper.
An was Schönes denken! Vater. Schnee. Annika. … Ritter!
Er greift in seine Hosentasche und spürt das kleine Plastik-Schwert.

„Hiiiieeer ! Nimm mit! Als Ärrinnerung. Und denk dran: So ist alles rischtisch. Und du! Du bist auch rischtisch!“ Daraufhin hatte Annika ihm kichernd einen Playmobilritter in den BH gesteckt und ihn nach Hause geschickt.
Rischtisch!
Mit dem Ritter in der Hand läuft er auf die Hausnummer 47 zu. „Herzlich willkommen bei Schuhmanns“, die beiden mit einem Herz umrandeten Tontauben stechen in sein Auge.
Tzt. Meine Eltern und ihre Tauben.
Er hört die Stimme seines Freundes Thorsten, der ihn damals auf der Rückfahrt von seinen Eltern mitten in der Nacht anrief und schluchzend erzählte, wie sie auf sein Outing reagierten hatte.
Da ist es wieder, das Pochen in seinen Schläfen. Um sich abzulenken, krallt Patrick seine Finger fest um den Ritter, bis sich das Plastik in seine Haut bohrt.
Du musst keene Angst haben. Das hatte Annika gesagt, als er noch im Türrahmen stand. „Und, was hilft mir das jetzt?“
Wie sie wohl reagiert haben, als Mutter es ihnen erzählt hat?
Hätt´ ich’s doch nur selbst gesagt!

„Ooooh! Hab dich ja gar nicht kommen gehört.“
Patrick zuckt zusammen und bleibt steif wie ein Stift stehen. Ein Stift, der kein Atmen mehr kennt und dessen Augen starr auf die Tür gerichtet sind. Ein Stift, für den es nur noch einen kleinen Aufprall braucht, bis sein Inneres bricht.
„Schön dass du da bist, mein Schatz.“ Der Stift wird wieder beweglich, zumindest ein wenig. Seine Mutter läuft auf ihn zu, umarmt ihn und platziert einen dicken Kuss auf seiner Wange.
Es ist soweit. Der Angeklagte muss den Gerichtssaal betreten und sich den Richtern und Staatsanwälten stellen.

„Alle anderen sind schon da und haben nach dir gefragt. Hört ihr, Sabine ist da!“, in Patrick steigt Hitze auf und treibt ihm Tränen in die Augen. Da ist es wieder: Salz im Ohr.
Während seine Mutter ihm die Jacke abnimmt, nickt sie anerkennend. „Schicker Anzug. Richtig schnieke. Siehst aus wie n’ flotter, junger Mann.“ Er wischt sich die Augen und versucht zu grinsen.
„Wo bleibt ihr denn?“, brummt die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer.
Mit einem: „Jaja, wir kommen schon“, schiebt ihn seine Mutter in den Flur. Patrick sieht das fahle Kerzenlicht aus der Wohnzimmertür scheinen. Es sind fünf Meter bis zur Tür. Los. Weg nach Hause! Doch Patrick läuft und ihr Reden wird lauter. Seine Schläfen pochen. Er muss an seine Freund*innen denken, an Joe und Leon und das Toilettenverbot in der Schule. Die Wände rücken auf ihn zu. Er denkt an Emma auf der Akutstation für Männer. Die Decke drückt auf seinen Kopf. Und da ist John, der keinen neuen Perso bekommt. Alles verschwimmt vor seinen Augen und wird zu einem Brei aus dunkler Masse.
„Du musst keene Angst haben. Sie lieben dich.“
Er läuft weiter, bis seine Hand an Holz stößt. Es ist das Holz des Türrahmens. Und nun steht er im Licht.
Vom Wohnzimmertisch aus drehen sich fünf Köpfe in seine Richtung. Schlagartig kehrt Ruhe ein. Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Sie mustern ihn. Sie reißen die Augen auf, sehen seinen Bart und die Kanten in seinem Gesicht. Sie recken ihre Hälse, sehen die Muskeln auf seinen Schultern und die Haare auf seinem Arm. Sie rutschen auf ihren Stühlen hin und her, blicken nach links und nach rechts und sehen seine Brust. Seine Oma flüstert Opa ins Ohr. Zeitgleich räuspert sich Monika und schielt zu Martin. Er nickt ihr zu. Mama und Papa halten das Lächeln.
Patrick steht immer noch in der Tür. Seine Fingernägel bohren sich in die Silikonfuge des Türrahmens.
Glotzt nur! Kommt ran und fasst an! Heute hier auf der Präsentierfläche: nicht der kleinwüchsige Clown oder das zweiköpfige Pferd, sondern Patrick-Sabine. Nur heute für Sie!
Patrick will explodieren und ein Feuer entfachen. Stattdessen durchbricht seine Oma die Stille. „Na, endlich sieht man dich mal wieder. Lass dich drücken!“ Fast mechanisch geht er zu ihr und lässt sich umarmen. Sie reicht ihn weiter zu Opa, Papa und zu seinem Bruder, sie alle drücken ihn fest an sich. Zuletzt landet er bei seiner Schwester, die wuschelt durch sein Haar, fast so wie früher. „Darf ich mal anfassen?“, doch ehe er antworten, nicken oder den Kopf schütteln kann, fährt sie mit ihrer Hand über seinen Bart. „Hoh! Das sind ja richtig harte Stoppeln so wie bei dir“, ruft sie quer über den Tisch zu seinem Bruder. Mit wütendem Blick stößt Patrick ihre Hand weg. „Was denn?“, zischt sie. „Muss man doch mal anfassen dürfen.“ „Lass mich.“, sagt Patrick und dreht sich weg.
„Und, wie war die Fahrt?“, lenkt sein Vater ein. Patrick schluckt, er soll jetzt also reden. „Mhm, ja, war ganz gut. Bin gut durchgekommen.“ Während er spricht, hört Martin auf zu essen und schaut ihn mit offenem Mund an. Auch die anderen legen ihre Kekse zurück auf die Teller und starren. „Ähm, äh, ja, war kein Stau. War alles frei.“
„Ja Mensch! Die Stimme. Wahnsinn! Hätt ich nicht wieder erkannt“, sprudelt es aus seinem Opa heraus. „Klingt wie bei einem Mann, wie bei seinem Bruder“, fügt seine Oma hinzu. Patrick durchströmt Hitze. Sie steigt in seinen Kopf und treibt ihm Röte ins Gesicht. Er spürt Funken in seinen Augen. Es sind Funken aus Tränen und Feuer.
Wie bei einem Mann.
Während er versucht, die Tränen zu unterdrücken, stimmt seine Schwester den anderen zu: „Ein richtiger Bass. Der vibriert sogar bis hier.“ „Komm, sag noch mal was“, fordert ihn sein Bruder auf. Schweiß bildet sich auf seiner Stirn. „Ähm… Was soll ich denn sagen?“
Erst nach einer Weile beendet sein Opa die Stille: „Ja, erzähl doch mal, was du die letzten zwei Jahre so getrieben hast.“ Wie eine Ohrfeige trifft ihn die Stimme. „Äh… Ja, äh, gleich. Muss kurz aufs Klo“, eilig steht Patrick auf und verschwindet in den Flur, dorthin wo ihn niemand mehr sehen kann. Er atmet durch. Wieder etwas erholt, kramt er den Ritter aus seiner Tasche und betrachtet ihn mit seinem blauen Helm und dem silbernen Schwert.
Was soll ich sagen? Soll ich ihnen sagen, wie es war?
Soll ich ihnen erzählen von meinen Gedanken auf Achterbahnfahrt? Davon, wie sie im Eiltempo immer hin und her gerast sind zwischen Mann und Frau. Und ich? Ich war immer mittendrin und ohne Pause. Kotzübel war mir von all dem. – Wie sollen sie das verstehen?!
Und verstehen sie etwas von dem leuchtend-blauen Licht, das immer oben am Ende der Achterbahn zu sehen war? Das, wohin ich wollte, und da wo ich jetzt bin. Verstehen sie dieses endlich-wieder-atmen-Können und das Ankommen auf festem Boden? Und was, wenn sie Löcher in diesen Boden unter meinen Füßen graben?
Nichts sag ich!
Aber sie sollen es doch verstehen.
Er lässt den Ritter durch seine Finger gleiten. Schon einige Gefechte hat er gewonnen, aber es warten noch weitere.
Er steckt ihn wieder ein und geht zurück ins Wohnzimmer. Dort reden sie inzwischen über Rindenmulch für Gartenrosen. Glück gehabt! Doch sein Opa hat es nicht vergessen. „Und, was war nun die letzten zwei Jahre wichtiger als wir?“
„Naja. Also. Ähm. Ich hatte auf Arbeit ganz schön viel zu tun.“ Er hält den Ritter fest. „Und die Sache hier, mit all dem, das war auch nicht gerade ne’ Spazierfahrt.“
Geschafft!
„War ja auch deine Entscheidung, das hier“, kommentiert sein Bruder und wedelt mit den Fingern in Richtung seines Bartes. Patrick spürt das Loch unter seinen Füßen. „Er wird schon wissen, was er macht. Nich’, mein Großer?“ sagt seine Mutter und streichelt Patrick über den Rücken. Doch der spürt nur, wie er fällt. Seine Mutter spricht weiter. „Hauptsache, wir können heute zusammen feiern und jetzt das feine Essen genießen. Guten Appetit euch!“ Sie nimmt sich den Servierlöffel, um den Lachs aufzutun, das Gemüse und den Reis. Die anderen folgen ihrem Aufruf und schaufeln beladene Gabeln in ihre Münder. Nur Patrick stochert in seinem Essen.
Arschloch!
Während er stochert, frönen die anderen ihrer Tischgesellschaft und dem Essen. Schon bald ist von Oma zu hören: „Oh, ist das lecker. Also, der Lachs mit den Kräutern. Ist das Rosmarin oder Thymian?“ Seine Mutter bestätigt, dass es Rosmarin sei und sein Opa ergänzt, dass sie den auch im Garten anbauen. Der Garten ist für seinen Bruder das Stichwort: „Gibt’s dort noch die Nachbarsschafe? Wisst ihr, die vor denen Moni immer weggerannt ist?“ Zu seiner Schwester gedreht sagt er: „Weißt du noch, wie du dabei aussahst?!“
Er blickt sie an wie ein wildgewordenes Frettchen und quietscht und schreit. Alle müssen lachen, sogar Patrick ein bisschen. Nur seine Schwester ist wenig amüsiert: „Haha, witzig. Und wer war das nochmal mit der Wespe am Schniedelwutz? Du hast so laut geschrieen, dass sogar der Nachbar von unten kam.“ Es kommt eins zum anderen. Sie kramen in ihren Erinnerungen und lachen über das gemeinsam Erlebte. Währenddessen schwindet der Lachs, selbst Patricks Teller leert sich.
Mit einem: „Puh, jetzt bin ich aber voll“, lehnt sich sein Bruder zurück und tupft sich die Soßenreste vom Mund. „Du, Patrick, aber eins muss ich noch fragen: Auf welches Klo gehst du jetzt eigentlich? Und wie machst du das? Also, ich mein, kannst du im Stehen?“ Patrick bleibt das letzte Reiskorn wie ein Balken quer in der Kehle stecken. Mit hochrotem Kopf beginnt er zu husten. Sein Bruder wartet auf eine Antwort. Und mittlerweile wartet nicht nur er – alle warten auf ihn.
Wixer! Soll ich dich fragen, wie du es mit deiner Freundin treibst?
Patrick will ihm den Teller ins Gesicht schmeißen und die restlichen Erbsen in die Ohren stopfen. Er will sich selbst ins Bett werfen und unter der Zudecke verkriechen.
Patrick räuspert sich. „Naja – es gibt da so Hilfsmittel, mit denen geht das, oder man lässt sich halt operieren.“
„Aber nein, das machst du nicht! Du willst doch nicht an dir rumschnippeln lassen, oder!“, sagt seine Oma. „Nicht, dass du’s später wieder anders willst“, unterstützt sie Opa. „Muss er doch selbst wissen!“, entgegnet seine Mutter. „Naja, aber ist doch gefährlich“, kontert Monika. Bestimmend sagt sein Vater: „Das muss er selbst entscheiden und nicht ihr.“ Beklemmt gucken sie auf den Boden. „Und, wie ist es?“, fragt seine Schwester. „Was machst du?“
„Werd ich schon sehen, was ich mach!“, zischt Patrick und schnappt sich seine Zigarettenschachtel. Raus!
Während er geht, hört er noch, wie seine Mutter die anderen ermahnt: „Das ist doch seine Sache, und außerdem, so was fragt man nicht am Tisch.“ „Wollt’s halt wissen“, entgegnet sein Bruder.
Patrick schließt die Balkontür hinter sich, und endlich hört er nichts mehr außer gedämpftem Straßenlärm. Er genießt das kalte Prickeln der frischen Luft auf seiner Haut. Zur Ablenkung kramt er sein Handy hervor und sieht eine Nachricht von Annika: „Wie geht’s dir? Lebst du noch? Sind sie nett? Wenn was is, ruf an.“
Er lächelt und schreibt: „Läuft ganz gut.“

 

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