Küchenlatein
Der Edelstahl blinkt matt, wohin man sieht. Ich betrachte meine aufgequollenen Hände, die von Stahlwolle zerkratzten Nägel. Weiß gekachelte Wände, drüben am Pass schaltet der Koch die Wärmelampen ein, wir warten.
Es vergeht eine Stunde, in der nichts geschieht, in der mal der eine und mal der andere eine Zigarette rauchen geht, etwas trinkt. Ich studiere die mir längst bekannten Zettel an der Pinnwand im Gang. Dienstpläne, enthusiastische Communiqués der Hotelkettenleitung, Rechnungen.
Es ist nicht so, als würden uns die Küchen verbinden. Es ist nicht so, als würden mich Rührung und Zusammengehörigkeitsgefühl packen, wenn ich Essen rieche, Dinge schneide, spüle, abwische, meine rissigen Hände nach der Schicht eincreme. Nostalgie? Nein. Weswegen denn? Süßliche Geschlechtersolidarität? Familienkitsch, Generationengeschnörkel über dampfende Kochtöpfe hinweg? Verflucht, nein.
Das hier ist meine Arbeit und ich liebe sie: Die Systematik der aufgetürmten weißen Porzellanteller, die Spülstraße, der immer gleiche Bewegungsablauf. Der schmerzende Rücken, die angestrengten Beine, die schweren Sicherheitsschuhe, der noch schwerere Schritt darin. Meine schnörkellose, schleifchenlose, femininitätsbefreite Arbeitskleidung. Jeans und T-Shirt und bis zur Unkenntlichkeit verstaute Haare, Schwitzen, Fluchen, Rennen. Sich anspannende Muskeln, schwere Gewichte, schnelle Reaktionen. Denken im Handeln. Hier kann ich so groß und kräftig, so effizient sein, wie ich wirklich bin. Statt ungeschlacht bin ich hier einfach praktisch. Ich weiß nicht, ob es lächerlicher wäre, wenn ich auf Entgegenkommen für meine Weiblichkeit bestünde (“oh, ich bin eine Frau, trag du das, du weißt doch, wie wir sind…” – hier oder woanders, eher würde ich mir die Zunge abbeißen) oder von meinen Kollegen, es mir im Gegenzug anzubieten. Ich bin froh, dass beides hier so deplatziert wäre, dass ich es nicht zu fürchten brauche.
Polierter Edelstahl, keimfrei und praktisch. Ich glänze den Koch an und im selben Moment rattert der Bondrucker los. Zwei Teller anrichten, Salatgarnitur, Standard. Aye.
Mitten im Arbeiten möchte ich einen Schritt zur Seite machen – hinüber zu den Leben, aus denen meines herausfaserte. Auf das Dorf im Nirgendwo hin, irgendwo am Rhein, mit den Straßen, die bis weit nach dem zweiten Weltkrieg noch nicht alle befestigt waren; mit seinen Ehen, geschlossen in schwarzem Samt und Sonntagsanzug, mit seiner Kirche und seinem Friedhof, dem roten Sandstein, dem platten Land. Keiner weiß davon, keiner, den ich nicht hierhin mitnehme und ich nehme fast nie jemanden mit. Alle paar Jahre vielleicht einen, dem ich diesen Teil meiner selbst zeigen möchte. Abstrakte Erzählungen über Menschen wie diese hier pflastern meine Universitätsausbildung und die Debatten der Radikalen, meiner schwarzgekleideten oder studentisch schick zerlumpten Gruppen. Klassen, Generationen, Kriegstraumata, Schweigen, Moral, ihr Aufbrechen, neunzehnhundertfünfzig sechzig achtzig dreißig. Wir haben nichts gewusst wie konntet ihr nur das Schweigen der Väter gegen bürgerliche Moral nach Auschwitz kann kein Gedicht wer zweimal mit derselben Kannst du denn noch beten Kind du musst studieren Schweinesystem ich muss weg aus der Provinz aber wir lieben dich doch Bourgeoisie und Privileg was soll aus dir werden – hinter weißen Vorhängen vor stillen Straßen.
Meine Großmutter war die erste Frau des Dorfes, die einen Beruf hatte. Sie war Hauswirtschaftslehrerin, gab Kurse an der Volkshochschule, bildete Lehrlinge aus, leitete die Küche einer Entzugseinrichtung für Rauschgiftsüchtige in den Achtzigern. Ihre Ordner, reihenweise Rezepte, getippt, ausgeschnitten und gesammelt. Ihre steile, eckige Schönschrift, niemand schreibt mehr so.
Ich weiß nicht, warum ich kochen kann. Ich habe es eingeatmet wie meine Mutter – Diplom-VWL, Feministin, Journalistin, Gastgeberin ihrer und meiner Freunde – es wäre unmöglich gewesen, mit solchen Frauen aufzuwachsen und nicht kochen zu lernen. Geld gab es genug in der Familie meiner Großmutter, sie hatten Land, das sie verpachteten, eine Kiesgrube. Eines der drei Autos im Dorf gehörte ihrer Familie, aber leben konnte meine Großmutter nicht.
Sie war zum Arbeiten da, wie eigentlich jeder dort. Geliebt, ja, und auch darben musste keiner. Die Familie war eine der reichsten im Ort, es war für alles gesorgt, für jeden. Aber alle ihre Erzählungen handeln von Arbeit – in der Backstube (nachts die Eimer voll heißer Holzasche hinaustragen, aber geliebt hat sie die Bäckerei), im Haus, mit ihren jüngeren Geschwistern, für ihre älteren Brüder.
Als einer der Brüder meiner Großmutter schwer und chronisch krank wurde, waren die Elemente ihrer Kindheit endgültig vorbei. Sie war seine Schwester: Sich kümmern, ihn betreuen, immer da sein. Als Backfisch mit ihm auf Kur geschickt werden, vor Heimweh fast sterben, weinen. Sie hatte das Dorf vorher noch nie verlassen.
Ihre Lieblingsschwester starb früh, sie war kaum vierzig Jahre alt und ließ einen Mann zurück, auch Bäcker, sowie zwei halbwüchsige Mädchen. Sie hat es bis heute nicht verwunden.
Immer ist sie stur gewesen, mit starkem Willen, mit Haaren auf den Zähnen. Sie regierte ihre Kinder mit eisernem Griff. Sie litt für alle sichtbar, also zeigte niemand etwas, was sie leiden lässt. Bis heute ist es so – jeder verbirgt sein Leben.
Ich habe immer lernen wollen, sagte sie mir. Ich habe Abitur machen wollen. Meine Brüder durften, ich durfte nicht.
Warum, fragte ich.
Sie waren Jungen. Mein Vater hat mich nicht aufs Gymnasium schicken wollen, wozu denn.
Immer habe ich gedacht, sagte sie ein andermal, du musst doch einmal für jedes Buch, das du liest, eines schreiben.
Jedes ihrer vier Kinder war auf der Universität.
Das Dorf ist katholisch. Katholischer findest du keines. Mit dreizehn habe ich mich in der Dorfkirche taufen lassen. Katholisch. Meine Tanten waren meine Taufpatinnen, weil man es so macht.
Nach dem Wunsch meines Vaters habe ich selbst entscheiden sollen: die Kinder werden nicht als Kinder getauft. Ich habe entschieden. Ich wollte so sehr dazugehören.
Sie weiß bis heute nicht, dass mich nur noch wenig mit dem Glauben von damals verbindet. Kannst du denn noch beten, fragte sie mich einmal besorgt.
Ja, sagte ich, und sagte nicht, zu wem und worum.
Man ruft mich auf der Arbeit bei einem Namen, auf den ich nur höre, wenn ich Offizielles erledige oder zuhause bin. So wenige sprechen mich so an, dass ich mich fühle, als hätte ich bei der Vorstellung gelogen. Ich reagiere immer etwas zu langsam.
Es ist seltsam, dich mit diesem Namen anzusprechen, sagte mein Freund, als wir meine Familie besuchten. Niemand nenne mich so. Er habe Angst, dass ihm mein anderer Name hier rausrutsche.
Seit ich sechzehn Jahre alt bin, nenne ich mich bei einem Namen, den meine Familie bis heute nicht kennt. Sie weiß auch nicht, dass er existiert – er gehört mir und mir allein. Der Name kam ausgerechnet in der Küche meiner Großmutter zu mir und verließ mich nicht mehr. Ihr Haus ist das Standhafteste, was ich habe und der Gedanke, dass sie einmal sterben und es aufgelöst wird, macht mich unruhiger als meine immer wiederkehrenden Träume von Erschießungskommandos. Eine Konstante, die bleiben muss – wer bin ich ohne sie.
Dass ich Frauen mag, erzählte ich meiner Mutter versehentlich bei einem Telefongespräch, weil es für mich inzwischen schon so normal war, dass ich vergessen hatte, dass sie es nicht wusste. Sie war kurz erstaunt, dann sprachen wir wie vorher weiter.
Theorien sind seltsam, sie sind flach und blutleer, obwohl sie doch von Menschen bevölkert sind, denke ich immer wieder. Ich denke an meinen Mitbewohner, der von seinen Eltern nach einem Satz wie meinem aus dem Haus geworfen wurde und seitdem obdachlos war.
Es ist Teil der drückenden Stille in diesem Haus, dass jeder sich zurückhält. Ich bin sicher, dass meine Großmutter bis heute nichts von dem weiß, was ich meiner Mutter sagte. Warum auch? Es würde sie wütend machen – und schlimmer noch, sie hätte Angst um mich, sie hätte Angst, ich sei vom Weg abgekommen.
Auch von meiner Zeit in der Psychiatrie weiß sie vermutlich nichts. Ich zumindest habe nichts gesagt.
Nach Jahren des Erstickens am immer greifbaren Schweigen all ihrer Kinder erfuhr ich von meiner Mutter, dass jedes ihrer vier Kinder einen Kampf bis ins Innerste mit ihr durchstehen musste; dass sie lernten, zu schweigen und ihrer Mutter zu geben, was sie akzeptieren konnte und was sie verlangte.
„Woher nimmt sie die Überzeugung, zu wissen, wie die ganze Welt ihr Leben zu führen hat? Sie hat ihr Dorf nie verlassen und urteilt über alle und jeden.“
Zum ersten Mal hörte ich hinter den Worten ihre Narbe, zäh in der Stille. Eine Frau, die zu wenig sprach und so viel herumträgt, dass ich vor Scham und Respekt im Boden versinken will. Ist das eine Linie, in der ich stehen kann? Erst, nachdem ich wegging und Jahre wegblieb – eine Bewegung, als würde ich mich selbst knapp über dem Erdboden abschneiden – kann ich wieder an vielleicht Gemeinsames denken. Erst, seit ich mich ausriss und meine Wurzellosigkeit genieße, bin ich ich. Erst, seit ich ich bin, kann ich gefahrlos darüber nachdenken, wie es kam, dass ich war. Erst jetzt löse ich mich nicht mehr in den Wünschen anderer auf, wenn ich darüber nachdenke, was ihnen fehlen könnte.
Bourgeoise, Akademikertochter. Ich schäme mich nicht mehr.
Ich sehe, wie wenig und wie viel zwischen mir und der Frau steht, die als Mädchen heiße Asche trug – und wie wenig und wie viel zwischen mir und den Korbflechtern, die in der Manufaktur in den Nebengebäuden arbeiteten. Bis in die vierziger Jahre. Ich gehe über denselben Boden. Nichts trennt uns – und all das.
Ich lerne als Halbwüchsige an ihrem Küchentisch den Rosenkranz beten. Ich frage sie auch hier der Reihe wegen, der Kette wegen. Und auch ein bisschen, um sie glücklich zu machen.
Das ist sie. Sie erzählt, erklärt. Ich lerne. Ich lasse die Perlen durch die Finger gleiten und sehe unsere Hände in derselben Haltung. Ich sehe uns von außen: Ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren. Eine ältere Frau, die das Mädchen etwas lehrt. So soll es sein.
Meine Großmutter heiratete in Schwarz, weil sie musste. Das Kleid hängt heute noch in ihrem Schrank, sie ließ es kürzen und umarbeiten, ging darin auf den Bällen des Gesangsvereins tanzen. Ihre Mutter hätte sie niemals in Weiß heiraten lassen – was bildest du dir ein, schwanger bist du, als ob dir das zusteht.
Hättest du ihn trotzdem gewollt, frage ich sie mit dreiundzwanzig, wenn du nicht gemusst hättest.
Ja, sagt sie, er war ein guter Mann, er hat keine fürs Bett gesucht, er wollte eine fürs Leben.
Ich habe sie noch nie so offen reden hören.
Jahre vergehen. Sie ist zäh, doch nicht zäh genug, um dieselbe zu bleiben. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, wird sie kleiner und blasser, doch hier, bei ihr, ist weder für sie noch für mich auch nur ein Tag vergangen.