das lied vom wunderofen

wir sind jene, die durch das Raster fallen, sagte Mikael.
es war etwas von den Dingen, die er zwischendurch so von sich gab, wenn in seinem Kopf ganz kurz alles ganz klar wurde, wenn sein Himmel sich überraschend entwölkte, fern und durchscheinend, und die Silhouette eines sonderbaren Bewusstseins sichtbar wurde, ein rundes, bläuliches Weiß, dass es tatsächlich sehr schwer gewesen wäre, ihn aufzufangen.

ich habe Mikael letztes Jahr in einem Computerladen in Schönefeld kennengelernt, in einem engen, vollgeräumten Kellerraum. ich nahm gerade meinen PC wieder in Empfang. der Ladeninhaber, ein Theaterwissenschaftler im soundsovielten Semester, verlangte nicht einmal Geld; unter Protest ließ er mich aber einen Zehner in die Kaffeekasse stecken.
Mikael betrat in diesem Moment den Laden. er war großgewachsen, trug Blue-Jeans und ein Sweat-Shirt mit Aufdruck (die Zahl 69 und ein amerikanisches Auto, das ihm sozusagen aus der Brust fuhr). am Saum war es an zwei Stellen zerrissen. in Mikaels Gesicht stand ein breites, strahlendes Lächeln, darüber eine markante Nase als Kühlerfigur.
direkt hinter ihm ging sein Betreuer.

Mikael verhielt sich wie ein Mensch, dem an diesem Ort keine eigentliche Aufgabe zufiel und der aus diesen Grund auf alles achten konnte, was um ihn herum geschah. während ich also meinen Rucksack schulterte und schnaufend den Computer nahm, so ein altmodisches Ding, das man früher Tower genannt und es mit diesem Namen gut gemeint hatte, beobachtete Mikael in meinem Rücken jede meiner Bewegungen, rückte Stück für Stück an mich heran, als wäre ich ein Versuchsobjekt, und als ich mich umwandte, stand er direkt vor mir, so nah, dass ich fast die toten Fliegen auf seiner Motorhaube sehen konnte. ich lächelte ausweichend, vorbei kam ich dadurch nicht. ich wollte gehen, er machte mir zwei Mal Platz, ich versuchte es zwei Mal in dieselbe Richtung. erst dann war der Weg frei. er entschuldigte sich, ich mich auch; dann lachten wir und ich stieg die Stufen zur Tür hinauf. da stand ich dann, vollgepackt, und kam mir ein wenig ungeschickt vor. die Tür öffnete nach innen.
hinter der Theke blinkte eine Lichterkette abwechselnd blau und orange.
ob mir schon mal aufgefallen sei, fragte Mikael von unten zu mir herauf, dass es manchmal vorkomme, dass Passanten auf der Straße zur selben Seite hin ausweichen würden. und dass dies dann zwei, drei Mal geschehe, bis man sich direkt gegenüber stehe. dann lächele man. nicht jedoch aus Verlegenheit; in Wirklichkeit sei der Mensch nämlich gar nicht zum Passanten gemacht, sagte er, sondern für die Begegnung. darum sehe man in Fußgängerzonen auch so selten jemanden lächeln.
ob ich außerdem wüsste, dass ich einen Doppelgänger hätte?

erst jetzt kam mir sein Betreuer bei der Tür zu Hilfe, vermutlich, da er im Dienst war; doch vor der Tür war es so eng, dass auch er nicht recht wusste, wie. also entschieden wir uns, die Treppe wieder hinabzusteigen und dann, bei geöffneter Tür, einen zweiten Anlauf zu starten. ob ich Bautzen kennen würde, fragte Mikael unvermittelt, ob ich wüsste, was das sei, ob ich schon mal davon gehört habe. ja, sagte ich, natürlich wüsste ich davon, stellte den Rechner kurz ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. und er fragte, ob ich wüsste, dass Bautzen ein Schloss habe, und ob ich wüsste, dass die Niederlande das einzige Land der Welt ohne kommunistische Partei seien. dass man die ruhenden Körperstellungen im Yoga Asana nenne. und dass es stündlich eine Zugverbindung nach Bautzen gebe, von Dresden aus.

vermutlich hätte ich gelacht, wenn es nicht zugleich auch befremdlich gewesen wäre; dieser Mann, der einige Jahre älter war als ich und an dem ich unter anderen Umständen achtlos vorbeigegangen wäre, der sich selbst glich, dabei aber auf eine unbeschreibliche Art hin und her wechselte, manchmal mitten im Satz, als wäre er sich nur ähnlich. ich träfe ihn wochenends in der City, sagte er noch und deutete mit Hand und Zigarette auf seinen Gitarrenkoffer. und während der Theaterwissenschaftler mit der Zunge schnalzte und kopfschüttelnd auf das Feuerzeug und die fast brennende Zigarette schaute, nickte ich und lächelte und ging und lächelte auf dem Heimweg noch zwei, drei Mal, ein wenig gequälter jedoch. der Tower drückte unangenehm in meine Hüfte.

das zweite Mal traf ich Mikael neben dem Jahrhundertschritt. es sei alles ruhig geblieben, heute, das erste, was er sagte. erkannte er mich tatsächlich wieder? oder sprach er in diesem Tonfall mit allen Menschen? im offenen Gitarrenkoffer sah ich ein paar Münzen. ob er allein sei, wollte ich wissen, und er erklärte mir, dass er seinen Betreuer nur noch an zwei Tagen in der Woche sehen müsse; er lebe ansonsten autark (er benutzte genau dieses Wort, was mir damals auffiel), und berichtete dann in kurzen allgemeinen Worten zunächst, dass er in einem Hausprojekt in Lindenau wohne, wie die Tagesabläufe und die Regeln dort seien; dann wurde er seltsam konkret und beschrieb die zerschlissene Matratze und die leeren Flaschen und Dosen und den Aschenbecher, ein noch halb gefülltes Glas Marmelade im Gemeinschaftsraum, mit den Kippen auf einem weichen Kissen, und das Kissen war in Wirklichkeit Schimmel… und er beschrieb die Wände seines Zimmers, die sich gelblich im Abendrot färbten und rötlich bei Nacht, wegen der Dönerbude gegenüber, sagte er. hinter der Theke stehe dort jeden Abend Bekir.
Bekir stamme aus Kars – ich würde die Stadt möglicherweise aus dem Roman Schnee von Orhan Pamuk kennen. sie liege nahe der armenischen Grenze. bis vor einigen Jahren überragt von einem Menschlichkeitsdenkmal, einer dreißig Meter hohen Skulptur, die einen in der Mitte gespaltenen Menschen gezeigt habe. die habe Erdoğan abreißen lassen. das neue Denkmal solle nun ein Stück Käse zeigen – und Honig.
wie das denn gehen solle, fragte Mikael, skulpturaler Honig. der könne ja nicht wegfließen mit den Jahren, sich nicht verändern, der sei ja nicht viskos (das Wort benutzte Mikael nicht, er sagte ein anderes Wort, eines, das ich nicht kannte und das möglicherweise nur für ihn existierte und nur für diesen einen Satz in diesem Moment; ich vergaß leider, es zu notieren), und dann sagte er noch: das ginge doch gar nicht, ein Feuer, das man nicht löschen könne, Flammen, die kristallisierten, sobald sie ein Bewusstsein entwickelten und darum aufhörten, auszuschlagen. es sei das genaue Gegenteil: als würden sich im Honig Schneeflocken bilden, so sähe das aus, Kristalle, die langsam von innen nach außen wüchsen und dabei Familien bildeten, zusammengehörige Formen, irgendein grobschlächtiger Gewinn. so ein Käse!

auf meinen Vorschlag, irgendwo in ein Café zu gehen, um in Ruhe zu reden, sagte er nur: ach, bleiben wir doch hier.

staatsfeindl. Hetze und Aufnahme von Kontakt zu ausländ. Missionen zur Vorbereitung der Republikflucht – wenn man ihn so sah, wenn er rauchte und sich manchmal eine Rauchfahne aus dem Gesicht verscheuchte, als wäre da ein störendes Insekt, war es kaum vorstellbar. auch wenn die 80er schon lange zurücklagen. in der Fußgängerzone trug er meist ein kariertes Hemd. die Ärmel hochgekrempelt. mir fielen seine langen, etwas knochigen Finger auf. seine Augen zitterten, die Pupillen waren leicht geweitet. er trat die Kippe mit zerschlissenen Docs aus. unter einer Bank ging eine fette Taube, die mit einem Bein hinkte.
Liedermacher sei er gewesen, Anarchosyndikalist. von 85 bis 87 saß er in Bautzen, der Lieder wegen. heute war sein Repertoire weniger gefährlich: Bruce Springsteen, Greenday, Fools Garden. es spräche für eine gewisse Gerechtigkeit in der Welt, in der Gleiches mit Gleichem vergolten werde, sagte er achselzuckend.

die 80er waren eine seltsame Zeit. ich erinnere mich nur vage daran und wenn, dann verbunden mit einer diffusen Angst. aufgewachsen mit einem immer von neuem wachgerufenen Gefühl von Gefahr, präsentiert von starr-gesichtigen Menschen vor einem Tagesschau-Logo, die über Tschernobyl sprachen und von verseuchtem Wasser, ohne jedwede Empathie. es starb der Wald, man entdeckte den Klimawandel und der Alarm in der Bevölkerung war nicht weniger groß, als er es heute ist, wenn wir Anthropozän sagen und die Gänsehaut meinen, die man spürt, kurz bevor das Raubtier zuschlägt; jede Generation erfährt ja auf ihre Art die eigene Verantwortung für den Weltuntergang. und wir erfuhren es durch Dagmar Berghoff und Joachim Brauner. sie zeigten uns die Militärparaden des Gegners, die in krassem Gegensatz zu unseren Sorgen standen. die wiederum zeigten uns die Atomwaffen, die sie gebaut hatten. und es war irgendein Geburtstag irgendeines Staatsgründers. viele fühlten sich aufgerieben wie zwischen streitenden Eltern. wir, die letzten Kinder von Schewenborn. wir hörten den Wind wehen. irgendwo zwischen Kühen und Weizenfeldern in der niedersächsischen Provinz.
ich erinnere mich an nicht enden-wollende Kolonnen fahrender Jeeps auf der Hauptstraße. an die Tiefflieger, die mehrmals täglich über unser Elternhaus donnerten, teilweise so tief und so laut, dass ich aus meinem Versteck herausstürmte und aus Heidenangst zu ihnen in den Himmel hinaufschrie. und dass da plötzlich Panzer auf dem Feldweg standen oder im Wald, unbeweglich. nie waren da Menschen oder Soldaten. immer nur diese finsteren Kettenklötze, wie zurückgelassene Relikte einer fremdartigen Zivilisation. und nie sah ich sie kommen oder gehen. sie waren einfach eines Abends da. sie waren einfach eines Morgens fort. nur in den Asphalt hatten sie helle, gleichmäßige Kratzer wie als Beweis ihrer Existenz eingeritzt. in der Grundschule habe ich bei der Aufgabe Porzellanmalerei einen Panzer gemalt. und mittags beim Essen erzählte ich Mutter von den anderen Kindern, die mich in der Schule herumgestoßen hatten, und sie sagte nur: der Klügere gibt nach, was zugleich Handlungsanweisung und Folge einer Unterlassung von Handlung war, ohne dass meiner Mutter bewusst wurde, dass Niederlagen aussagenlogisch Klugheit weder bewiesen noch hervorbrachten und darum auch ihre Ehe nicht besser wurde durch ihren Ratschlag. die 80er waren immer politisch, aber selten reflektiert. so missraten ein System auch ist, in dem man sich befindet, so ist es doch niemals ratsam, sich außerhalb eines Systems zu positionieren.

mit Mikael in der Stadt zu sitzen, neben dem offenen Koffer, ihm zuzusehen, wie er rauchte, vor uns die Beine der Passanten, war eine ungewöhnliche Erfahrung, die mich an die Gefühle erinnerte, die ich einst in der Schule hatte. jemand beugte sich zu uns und warf etwas in den Koffer wie in einen defekten Automaten. der Wert des Eingeworfenen war im gleichen Moment unkenntlich, da es sich mit dem übrigen Münzgeld vermischte. mit fünfzehn war er zwei Monate in der Psychiatrie. damals hatte er schon auf der Straße gelebt, hatte Marihuana geraucht. die Psychiatrie sollte der letzte Zugriff seiner Eltern auf sein Leben sein. jedoch einer, sagte er, der von Dauer war.
die Unruhe, so der Name der Station; nach der Wende waren die Leiter der Anstalt völlig distanzlos gegenüber westlichen Medien, manche sagten: unerfahren, weil ihre Erfahrung besagte, dass Journalisten es mit den Mächtigen im Staat niemals schlecht meinten, und mächtig waren die Männer in den weißen Kitteln ja gewesen. sie kamen aus einer Parallelwelt, auf die niemand geschaut hatte. und so zeigte man alles: man wartete selbst auf Zuwendungen, wie man keine Zuwendungen gab, erwartete Lob für etwas, das in ihren Augen reibungslos funktioniert hatte. du Vogel! hatten sie zu Mikael gesagt und zu jedem Essen ihre Körner gegeben, weiße oder blaue Pillen, von denen er sich später nur noch an die ersten erinnern konnte. seiner Akte war zu entnehmen: Krankheitsbild – Interessenlosigkeit dem Tag gegenüber. Therapie: ein Schlafsaal, eine Fensterbank, Gitter vorm Fenster.
nächtelang habe er an diesen Fenstern gesessen. stündlich habe sich die Tür geöffnet. die Schwester habe ihm gedroht, es sei Schlafenszeit, er müsse schlafen, sonst würde es Zwangsmaßnahmen geben, aber etwas, für das er keine Worte fand, trieb ihn nachts immer wieder vor diese Scheibe. auf dem Flur hörte er manchmal Schritte, ein Schlurfen, dessen Bedeutung er niemals herausfand. er hörte ein Tuscheln, negative Stimmen, die für sich selbst sprachen. Türen öffneten und schlossen sich. manchmal konnte er hinter der Anstaltsmauer die Lichter von Automobilen sehen.
und danach? fragte ich ihn. da wirkte er wie ein Mann, der nie harte Arbeit kennengelernt hatte und der nun, da man von ihm Schweres verlangte, daran zu zerbrechen drohte. und ich fragte nicht weiter.

es sei nicht so, dass er sich schäme vor den Leuten, sagte er einmal. vielmehr sei es so, dass ich das Schlimmste einfach noch nicht wüsste. es komme ja erst nach und nach alles raus: die Dreistigkeit der Täter, die Lebenslügen der Mitläufer, das sinnlose Geschwätz der Unbeteiligten, die von nichts etwas wussten, und die es dennoch stets mit den Profiteuren hielten, nie mit den Opfern. er sagte das, als versuchte er die Bewegungen der Passanten nachzubuchstabieren. manche davon mochten früher Nachbarn oder Freunde gewesen sein. was es denn bedeute, dass er jahrelang im Gefängnis gesessen habe? man könne einen Menschen nicht vor sich selbst wegsperren, das merke er, seit er wieder frei sei. in Bautzen sagten die Wärter zu ihm: wir haben hier keine Geheimnisse, vor niemandem. und wenn er das veröffentlichen wolle, dann könne er das veröffentlichen, was sollten sie dagegen sagen? obwohl das lange her sei, könne er seine Gedanken nicht einfach fortschieben. das ginge für Stunden, für Tage. dann aber komme die Strafe, die wie eine unendliche Strafe sei, unweigerlich, wie eine Flut zu ihm zurück, ausgesprochen und erneuert, als wäre er wieder umgeben von den alten Spitzeln, den alten Wärtern, den alten Genossen, die ihm auf Schritt und Tritt folgten.
die Schritte waren sehr präsent, während wir dort am Boden saßen. ich schaute hoch, immer andere Menschen, immer die gleichen Schritte. und ich dachte: vielleicht ist nicht alles falsch. vielleicht ist alles nur auf unterschiedliche Art richtig. wer den Grund nicht versteht, für den er bestraft wird, der kann seine Strafe niemals absitzen.

er erinnerte sich, seine Eltern hatten da einen Laden. den machte nach der Wende die Schwester noch ein paar Jahre, als die Mutter nicht mehr laufen konnte. seit 93 ist der dann aber auch dicht. und 2001 starb die Mutter. sie war immer die gute Seele des Dorfes gewesen, doch auch, weil man sie bemitleidet hatte. das kann jeder sagen. bei so einem Nachwuchs. und es hätte ihm ja auch leidgetan, wie die Eltern so dastanden, dass man begann, ihnen schlecht nachzureden. seine Mutter aber habe gesagt: mach dir keine Sorgen, wir senken die Preise, dann kommen sie schon wieder, und sie hatte ja auch recht. man müsse nur mal schauen, wie viele Leute hier in den Geschäften alles anprobierten, dann aber nach Hause gingen, um ein paar Euro in einem Internetshop zu sparen. es seien noch immer die gleichen Profiteure, das System habe sich geändert, aber sie ertrügen weiterhin alles, weil sie dachten, es denen da oben mit diesen kleinen Betrügereien schon zu zeigen. dann fühlten sie sich bessergestellt als die Nachbarn, die nicht so kluge Betrüger waren wie sie.
und irgendwann, da wollte er grad nach Hause, da hielt ihn jemand an einer Straßenecke auf, griff nach seinem Arm, er habe sich so erschreckt, halt! warten Sie mal! da stand dann einer von den Stillen von früher, so ganz scharfe Augen hat der gehabt. wie so viele damals in dieser ranzigen DDR, von denen gebe es noch manche auf den Straßen, die könne er sehen, wenn er hier stehe und spiele, auch in neuen Kleidern. spiel uns das Lied vom Wunderofen, habe der Mann geflüstert und vielsagend gelächelt. und Mikael reißt sich los, und der Fremde? der dreht sich einfach um und geht; und Mikael kann sich längst nicht mehr an das Gesicht erinnern, es ist untergetaucht, augenblicklich, zwischen den Passanten, da hat er längst schon wieder an seinem Platz gestanden und wonderwall gespielt und nur den Refrain hat er vielleicht lauter gesungen als sonst. maybe you’re gonna be the one that saves me

ich beobachtete Mikael oft von weitem, wenn wir uns verabschiedet hatten. er trat die Zigarette aus, trat auf seine Bühne, hängte seine Gitarre um, hängte auch wieder seine Stimme in den akustischen Raum zwischen Rathaus und Passage, spielte seine Lieder. ich schaute ihm ein Stück weit zu. es blieben kaum Passanten stehen, wenige bemerkten ihn. nein, besser: die meisten ignorierten ihn. nur Kinder schauten.

dann war Mikael verschwunden. zwei Wochenenden war er schon nicht an seinem Platz, da begann ich, täglich in die Fußgängerzone zu gehen und Ausschau zu halten nach ihm. ich ging die Hauptstraße ab, doch konnte ihn nicht finden. ich lächelte die Menschen an, die aus den Geschäften kamen. ich hörte den Straßenmusikern zu. ich gab einer Roma-Frau, die mir an einer Straßenecke einen Coffee-to-go-Becher entgegenstreckte, einen Euro. kurze Zeit später saß ich selbst auf der Straße, neben dem zeitgeschichtlichen Museum, mit Notizbuch und Stift, als könnte ich Mikael auf diese Weise herbeirufen.
sogleich änderte sich die Perspektive. ich konnte unter die Sitzbänke sehen. Schritte führten ganz nah an mir vorbei. Pastell-Töne miteinander an den Händen verwachsener Eheleute füllten meine Augen. ein Flüchtling mit grauem Mantel und grauem Schal. eine Japanerin in einer Art Schuluniform. Eltern, die Kinder mit sich zogen, Kinder, die als einzige mich anschauten. einmal auch das Zurücklächeln eines mit zwei Plastiktüten in den Händen gehenden Mädchens, das glücklich wirkte. dann wieder die Roma-Frau: nun schaute sie mich im Vorübergehen lange an. ich notierte: war dies ein ihr reservierter Ort? nahm ich, schreibend, einen Aufmerksamkeitsbereich in jenem Horizont der City ein, der den Bettelnden vorbehalten war? raubte ich Menschen wie ihr den letzten Raum, der ihnen in unserer Gesellschaft noch zustand, wenn ich, auf Augenhöhe mit den Tauben, schrieb: die Mauer war aus großer Höhe betrachtet etwas, das nicht erfahren werden konnte, ganz wie das Meer.
oder wenn ich notierte, dass mir hier am zeitgeschichtlichen Forum der Tag des 10. November 1989 in den Sinn kam, an dem meine Mutter mich früh weckte, früher als üblich, und an dem morgens im Wohnzimmer schon der Fernseher lief, was ungewöhnlich war (ich erinnere mich, dass es später, im Januar 91, bei der Operation Desert Storm wieder geschah, erinnere die grün eingefärbten Fernsehbilder, auf denen der Tod sehr schön blitzte usw.), habe nun aber die dunklen Bilder vor Augen, in denen Menschen nachts auf graue Mauern klettern und aus niedrigen farblosen Autos heraus in Kameras winken; alles ganz verwahrlost in diesem seltsamen, unfassbar unästhetischen 80er-Jahre-Stil; habe unseren Französisch-Lehrer vor Augen, der in der ersten Stunde aufgestützt auf seinen Schreibtisch einen Luftsprung machte, dass ihm fast ein Knopf von seinem mintgrünen Sakko platzte; und denke als nächstes bereits das Wort Begrüßungsgeld und an die 100 D-Mark, die DDR-Bürger erhielten, um es gleich darauf auf dem Ku’damm für irgendwas auszugeben, wie man Spielsüchtigen im Casino ein paar Gratis-Chips in die Hand drückt für die Tische und Automaten.
oder wenn ich notierte, was um mich herum zu hören war: natürlich sagen wir einander, dass es nicht wichtig ist, dass alles okay ist; im Grunde wird es dadurch tatsächlich begreifbar und eine Sache, die so, aber auch ganz anders sein könnte; in jeder Innenstadt sieht es ja gleich aus, überall die gleichen Franchise-Filialen; wenn wir uns jedoch Vorwürfe machen, dass einer gezwungen ist, Dinge wieder geradezurücken, wiedergutzumachen, wir hätten allein dadurch schon eine Beziehung, die unzureichend wäre und nicht zu ertragen, weil ein Machtgefälle entstünde; es sollte ja alles neu aufgebaut werden und am Ende sollte der Kommunismus stehen, das war doch etwas Gutes, warum sollte man dagegen Widerstand leisten?

in diesen Wochen sah ich so viele Menschen. sie gingen in Geschäfte und kamen aus Geschäften. sie verschwammen vor meinen Augen, wurden zu einer gesichtslosen, anonymen Masse. ich bemerkte, dass mir bald nur noch ihre Kleidung auffiel, wobei ich mich zusehends fragte, warum sie die Sachen, die sie kauften, nicht auch trugen bzw. warum sie keine schönen Sachen kauften? in Berlin klappt das doch auch. vielleicht haben die Leipziger kein Interesse am Schön-Sein. und ich wurde trauriger, je länger ich in der Stadt am Boden saß, obwohl doch gar nichts Trauriges geschah.

in Lindenau gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Dönerbuden. dennoch war ich mir nicht sicher, ob ich die Richtige gefunden hatte. Bekir war heute nicht da, sondern Ahmed, der mir lächelnd mein Essen an den Platz brachte; ich hatte mich auf einem unbequemen hohen Stuhl ans Fenster gesetzt, und während ich aß, konnte ich das gegenüberliegende Haus beobachten. die Fassade war heruntergekommen, doch die Fenster schienen neu zu sein. ich hatte die Falafel kaum halb gegessen, da öffnete sich gegenüber die Tür, ein Mann trat heraus, blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Mikael war es nicht, aber nach einem kurzen Zögern sprang ich zur Tür und lief über die Straße.
– hallo, hast du kurz Zeit? ist Mikael zufällig da?
– meinst du Micha?! der wohnt hier nicht mehr.
– ach, seit wann denn das?
– seit vier Wochen vielleicht.
– weißt du, wo ich ihn finden kann?
– bist du ein Freund?
– eine Freundin.
– nein, keine Ahnung. hab ihn nicht mehr gesehen.
– warum ist er denn ausgezogen?
– das hat das Plenum so beschlossen.
– kannst du mir irgendwas über Micha erzählen? kanntest du ihn genauer?
– ich dachte ihr seid Freunde.
– jemand anderes vielleicht?
– ne, glaub ich nicht. der war hier mit niemandem wirklich dicke.
– ich dachte nur, vielleicht irgendwas, wie ich ihn finden kann?
– du, ich muss jetzt leider los.

noch Wochen nach der Wende saßen die politischen Gefangenen in Bautzen ein, während die Wärter davon sprachen, sich dann und dort ihr Begrüßungsgeld abgeholt zu haben. zum fünften oder sechsten Mal. vor dem großen Tor gaben sie Interviews, da wurde hinter den Mauern bereits gestreikt. und dass alles scheiterte, so sagte man, daran waren die Katholiken schuld, die sind republikflüchtig rüber in den Westen und haben von dort aus dann alles destabilisiert. man mochte in einen Zustand zurück, der einem Sicherheit bot, auch wenn es nur die Sicherheit der Anpassung war. doch plötzlich fehlte einem alles, wurde einem alles genommen, sogar das Vermissen dieser vierzig Jahre wurde einem genommen.
dann wurde man als Roter beschimpft.
wie sich doch alles verkehrt habe! eingesperrt in einer fensterlosen Zelle; statt zu erzählen, wie schlecht es einem ging, sollte man lieber davon berichten, was man angestellt hat, um überhaupt in den Knast zu kommen. die schädliche Distanz zu allem. außerdem sei Bautzen eine wunderschöne Stadt.

der Text, um den es damals in der Hauptsache ging, trug den Titel Das Lied vom Wunderofen. doch ich kenne nur den Titel, nicht mehr. gerne hätte ich Mikael danach gefragt, doch es hat sich nicht mehr ergeben, und ich weiß nur das Wenige, das ich hier aufschreibe, obwohl ich lange nach Informationen gesucht habe. ich gebe zu bedenken: die 80er Jahre waren das letzte Jahrzehnt vor dem Internet; alles was damals geschah, geschah in einer heute verlorenen Welt, geschah in Clubs oder Kreisen, man organisierte sich in Mailinglisten, geschrieben wurde auf richtigem Papier, kopiert wurde von richtigem Papier auf richtiges Papier (oder halt auf dünnem Ormig-Papier in der DDR), und per Post verschickt wurden Briefe, Mixtapes – und Pamphlete, die an der linken oberen Ecke eine Heftklammer trugen. die Geschichte von damals ist nur eine offizielle Geschichte, eng verschnürt in Büchern, Zeitungen oder Photographien. einmal haben wir in der Grundschule Westpakete gepackt, ich glaube, ich wusste damals gar nicht, was das war.
das Internet kam erst in den 90ern auf. ich kam 1995 zum ersten Mal damit in Kontakt, als ich an die Uni kam. im gleichen Jahr erschien auch Wonderwall von Oasis. obwohl es ein Liebeslied ist, hat Noel Gallagher den Song nicht für eine Frau, sondern für einen imaginären Freund komponiert. die Wunderwand stammt aus einem gleichnamigen Film; es ist eine Mauer, die für einen Wissenschaftler durchsichtig wird, dass er teilhaben kann an dem Leben der Nachbarin, sie bei einem Suizidversuch nach einer Trennung rettet. die Mauer ist also ein Sinnbild für Empathie, ebenso die Hoffnung, dass in den dunkelsten Stunden jemand da ist, der über einen wacht und der für einen da ist.
die Kataloge an der Universität waren damals noch in Zettelkästen organisiert.

aus einem fensterlosen Bus Marke Barkas B 1000 heraus trat man direkt in einen leeren Raum, in dem die Schritte der Stiefel der Wächter von den Wänden widerhallten. durch eine schmale Tür kam man in einen Umkleideraum, in dem man sich nackt ausziehen musste. was dann kam, war nicht der brutale Terror der Sowjets; es war viel subtiler. gleich wächst du weniger körperlich, dafür dein Sinn für Gerechtigkeit, wirst schon sehen. das sei der Unterschied der Systeme: in dem einen kann man Unmenschliches fordern und geht dabei straffrei aus; in dem anderen konnte die berechtige Forderung nach Menschlichkeit in den Knast führen. das Schafott – der Wink von oben. und wichtig dabei diese blöden DDR-Oberflächen, die man nicht anfassen will. Kargheit, oder eher: Strenge und schlechter Geschmack mehr noch als Kargheit.
ich glaube, die Unterdrückung der Künstler in der DDR geschah vor allem durch diesen allgegenwärtigen schlechten Geschmack.

von einem Tag auf den anderen war Mikael wieder da. er machte keine Angabe zu den Gründen seiner Abwesenheit. er wirkte verändert auf mich, doch jeder Versuch, herauszufinden, wo er gewesen war, perlte an ihm ab, während er ganz in seiner Routine den Gitarrenkoffer öffnete. das ist bis heute nicht besser geworden, war alles, was er sagte, und schaute auf seine zitternde Hand. die Musik gebe ihm einen Halt. es sei mehr als seine Arbeit, es sei ein Ort, an dem er sich zurechtfinde, wenn die Welt ihm wieder querschieße. er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck Anarchie ist die Mutter der Ordnung. mir aber wurde er sehr fremd dadurch.
es sei ein ausgeschlossenes Leben, das er ertrage. Straßenmusiker, da wird man schon mal angespuckt, durch diese unsichtbare Mauer hindurch, die man aufbaue, doch das sei leicht durchzustehen, denn diese Mauer kenne er von früher, nach seiner Entlassung, das ausgeschlossene Leben zurück in der Freiheit, denn niemand ließe einen wieder frei, wenn man aus Bautzen komme. frei sei für ihn hier, in dieser Musik. andere wissen immer mehr über einen zu erzählen als man selbst. andere interessieren sich für das Böse, das sei nun mal die Faszination. es brauche neue Parolen, gewiss, aber es geschehe wenig auf theoretischem Gebiet. gerade auf dem Gebiet der Freiheit, also was liberale Gesellschaft bedeuten könne und müsse.
im Gefängnis müsse man immer vor den Türen stehen bleiben und warten, dann erst komme der Wärter, hole einen Schlüssel aus einer Tasche oder von hinten mit einem Band oder einem Kettchen am Gürtel hängend und schließe das Schloss auf. man gehe dann durch die Tür und auf der anderen Seite müsse man wieder warten, bis der Wärter nachgekommen sei, einen Schlüssel ins Schloss gesteckt habe und die Tür wieder abgeschlossen habe. und so gehe das mit jeder Tür, den ganzen Tag, bis man einfach nur noch seine Ruhe haben will von dem ganzen Geklimper.

Mikael schnippte die Kippe weg. aber hätte man ihnen damals gleich das Handwerk gelegt, so richtig druffgeschlagen, ganz anders hätte man dagestanden, wenn man einmal nur sich durchgesetzt hätte.
im Sommer war’s ja gut. aber winters? er habe ja nur eine Decke gehabt und das Auto, in dem fror man erbärmlich, wenn der Wind darüber lang pfiff. sogar, wenn man fuhr, so flott konnte man gar nicht fahren. Arzt hätte man sein müssen. oder einen Hof haben auf dem Land, dass nur interessiert, wie viele Ferkel durchkommen – aber Liebe zur Musik, das war für niemanden genug. es seien die Zeiten gewesen, sagte Mikael, die Umstände, die aus vielen Menschen, die sonst gute Kerle geworden wären, diese Hetzer machte, denen keine Ideologie zu haben einfach nicht genügte. die hatten ja Angst, dass es ihnen ans Leder ging, wenn sie nicht mitmachten. da kamen die Uniformierten und haben sich als die dicksten Freunde aufgespielt, und es gab jene, die man nicht erkennen konnte, die aussahen wie die Freunde, die Nachbarn. Neider gebe es unter allen Menschen. nur, weil man einmal im Suff etwas gesagt hat.
nach drei Monaten habe Mikael den ganzen Rücken aufgekratzt gehabt, weil da etwas in den Matratzen gewesen sei, ganz wund der Rücken, und Schlafen konnte man nicht mehr. dann habe er versucht sich die Lieder aufzusagen, gesummt habe er, Nacht für Nacht, gegen die kalten Fliesen mit dem Rücken gelehnt. manchmal weit unter null. und wenn er zu laut gesungen habe, wären da die Rufe gewesen, sein Name, das sei irgendwann wie ein Schock gewesen, seinen Namen zu hören. und der Name, der begegnet einem doch, der steht doch an deiner Tür, da ist ja deine Klingel, das Briefkastenschildchen, damit sprechen sie dich ja an auf der Arbeit. das Leben ist teuer. man braucht ja Arbeit. aber dann hört man ständig seinen Namen, der doch der eigene Name nicht mehr ist, den man ja hat ablegen wollen, dort in der Zelle, wie man aus seiner eigenen Haut wollte, gekratzt hat man, sogar noch, wenn man schlief. aber es ging nicht hinaus, weder aus der Haut, noch raus, hinter die Mauer.

neulich sagte Mikael: manchmal scheint einem die Sonne ins Gesicht und wärmt die Stirn und die Haut, dann ist da kurz die Geborgenheit, die einem fehlte.

eigentlich würde man in der Fußgängerzone nur in fünfzig Prozent der Fälle in dieselbe Richtung ausweichen, sagte er. dann jedoch würden in der Regel beide Passanten gleichzeitig bemerken, dass sie auf Kollisionskurs seien und dementsprechend auch gleichzeitig wieder in dieselbe Richtung ausweichen. da nun beide wieder auf Kollisionskurs seien, versuchten beide, ihren vermeintlichen Ausweichfehler erneut zu korrigieren usw.
Mikael lächelte mich an. eine einfache Möglichkeit, dies zu vermeiden, sei, ganz bewusst nicht ein zweites Mal auszuweichen.
dann nahm er seine Gitarre und trat auf seine Bühne.

Prosa#3PS