Fisch und Vogel
Am Morgen hatte ich eine Postkarte von Juna erhalten:
„Ich wurde zum Fliegen geboren, und jetzt fliege ich. Ich glaube fest, Du kannst es auch, wenn auch mit anderen Winden. Ich wünsche Dir alles, alles Gute für Deinen weiteren Lebensweg und werde Dich nie vergessen. Juna“
Ich verstand es einfach nicht.
Es war kein spontaner Sinneswandel gewesen, der sie dort, in der neuen Umgebung, ereilt hatte. Laut Poststempel war die Karte am Tag nach ihrer Ankunft in Rio De Janeiro vor drei Wochen eingeworfen worden. Dabei war alles so gut gewesen. Am Flughafen hatten wir uns weinend voneinander verabschiedet. Ich hatte es als Zeichen ihrer Liebe gedeutet. Wahrscheinlich hatte sie schon gewusst, dass wir uns nicht wiedersehen würden.
Die Sonne ging unter und färbte ihre Umgebung pink und violett. Ich saß auf der kleinen Landzunge, wo ich so oft mit Juna gesessen hatte. Saß auf dem weichen, von Wurzeln durchzogenen Boden nah der Wasserkante und lehnte mich an einen Baum. Die Kühle, die vom Wasser herauf zog, erfrischte mich. Es war ein langer Fußmarsch hierher gewesen.
Ich zog die Karte hervor. Juna hatte sich befreit und flog. Ich hatte geglaubt, sie sei schon immer geflogen. Sie war der Vogel. Ich war der Fisch.
Das erste Mal war das Thema aufgekommen, als wir etwa vier Monate zusammen waren. Es war Sommer gewesen und ähnlich heiß wie heute, aber am Abend hatte es ein Gewitter gegeben.
Wir waren auf dem Weg vom Flohmarkt nach Hause vom Regen überrascht worden. Bei Juna zu Hause hatten wir uns gegenseitig die nassen Kleider von der Haut geschält und waren anschließend unter der Dusche und dann im Bett verschwunden. Später hatten wir schweigend nebeneinander in der Dämmerung ihres Zimmers gelegen.
„Woran denkst Du?“, fragte Juna, drängte sich an mich und legte ihre Stirn und Nase an meine Wange. Ich wandte mich ihr zu, spürte ihren warmen Atem auf meinem Mund und rückte ein Stück von ihr ab, um sie zu betrachten. „Ich denke an …“, sagte ich und wusste es im selben Augenblick nicht mehr. „Vielleicht habe ich an nichts gedacht.“
„Ach Quatsch“, sagte Juna, drehte sich auf den Bauch und stützte sich auf ihre Unterarme, sodass mir ihr Haar ins Gesicht fiel. „Man kann gar nicht nichts denken.“ Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie eine Schnute zog.
„Meine Gedanken sind wie kleine, glitschige Fische“, sagte ich. „Wenn ich versuche, sie zu greifen, sehe ich nur noch ein Aufblitzen, dann sind sie weg.“
„DU bist wie ein Fisch“, sagte sie. „Dauernd tauchst Du ab.“
„Ach komm“, sagte ich neckend. „Das Geheimnisvolle ist doch genau das, worauf Du stehst!“
„Und was bin ich?“, fragte sie.
„Also, Du bist …“, ich zog die Worte in die Länge, um besser nachdenken zu können. „Du bist ein Huhn. So wie Du immer mit den Flügeln schlägst und ein großes Trara machst, sobald Du ein Würmchen gefunden hast ‘Oh my good, this is so cool!’ Wie heute, als … “
Weiter kam ich nicht, weil Juna sich auf mich stürzte und mich in Hals und Schultern zwickte. Eine Weile rangen wir wortlos miteinander.
„Wenn ich schon mit den Flügeln schlage“, sagte Juna, als wir wieder nebeneinander lagen, „will ich ein Vogel sein. Die können wenigstens fliegen.“
„Okay“, sagte ich und küsste sie. „Dann sei ein Vogel. Für ein Huhn willst Du ohnehin zu hoch hinaus.“ Und ich küsste sie wieder. „Fisch und Vogel“, sagte Juna zwischen meinen Lippen. Dann sagten wir lange nichts mehr, und in dieser Nacht hatte ich das Gefühl, einem anderen Menschen noch nie so nahe gewesen zu sein.
Zu all ihren Geburtstagen hatte ich ihr kleine Comic-Sequenzen gezeichnet, in denen Fisch und Vogel sich am Berührungspunkt ihrer Elemente trafen und gemeinsam Abenteuer erlebten oder einander von ihren Welten erzählten. Der Vogel saß auf einem Pfosten im Meer oder flog dicht über der Wasseroberfläche, und der Fisch reckte seinen Kopf aus dem Wasser und sah zu ihm auf. Am Ende ihrer Treffen schwang sich der Vogel wieder in die weiten Lüfte, und der Fisch tauchte ab in sein Wasserreich, in dem sich bunte Farbspiele und tiefe Schatten mischten. So war es mit uns gewesen. Ich machte meine Musik, malte meine Bilder, kämpfte mich durch mein Design-Studium und verlor mich, überfordert von der Tiefe und Verschlungenheit meiner Welt. Sie ging ihrem Medien-Studium nach, ihrer Karriere, machte tausend Sachen, traf tausend Leute und nutzte den Auftrieb ihres sozialen Umfelds und einnehmenden Charakters. Dazwischen trafen wir uns. Es war mir neu, dass Juna sich gefühlt hatte wie ein Vogel im Käfig.
Genau vor mir landeten drei Enten mit lautem Schnattern im See, und ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Durch den Zusammenstoß von Körpern und Wasser hatten sich kleine Wellen gebildet, die bis zu meinen Füßen schwappten. Jetzt fiel mir auf, dass alle Vögel verstummt waren. Ich lauschte in die Dunkelheit hinaus, horchte auf das Knacken, Rascheln und Plätschern und stellte fest, dass ich keinerlei menschliche Geräusche hörte.
Juna hatte geschrieben, dass auch ich fliegen könnte. „Versuch es“, stand auf der Postkarte. Mir war nicht klar, warum ein Fisch versuchen sollte zu fliegen. Oder riet Juna mir, mein Fisch-Sein aufzugeben? Dieser Gedanke versetzte mir einen tiefen Stich. Juna hatte immer gesagt, wie inspirierend und bereichernd unsere Beziehung für sie sei. Wie sehr sie meine Kreativität und meinen Eigensinn bewundere. Wie sexy sie mein ruhiges Auftreten finde. Wie sehr sie mich dafür liebe, dass ich nicht so sei wie die anderen Leute in ihrem Leben.
Junas Eltern, dachte ich. Sie waren nie gut damit zurechtgekommen, dass sie bei ihren zahlreichen Partys und Empfängen an der Seite ihrer vogelartigen Tochter keinen dynamischen jungen Mann mit weiten Schwingen präsentieren konnten, sondern nur mich. Wenn schon eine Freundin, dann hätten sie sich wohl ein vorzeigbareres Exemplar gewünscht. Eines, mit dem sie das Beste aus der Situation machen konnten: Gleichzeitig ihre liberale Einstellung zur Schau stellen und sich schmücken. Mit mir ging nur ersteres, und das war ihnen zu wenig. Juna und ich hatten uns oft darüber lustig gemacht, wenn wir allein waren. Wenn wir allein waren, aber nie vor ihren Eltern. Immerhin hatte Juna von Anfang an darauf bestanden, dass ich als ihre Freundin vorgestellt wurde, nicht als eine Freundin.
Junas Eltern hatten mich nie direkt kritisiert. Es war die Art gewesen, wie sie mich ansahen, wenn ich zu einer Party im Hosenanzug erschien statt im Cocktailkleid. Wie sich ihre Gesichtszüge angespannt hatten, wenn ich auf einem Empfang mit ihren Gästen plauderte und dabei den plattdeutschen Einschlag nicht ganz aus meiner Stimme verbannte. Wie sie all ihre Gäste einander mit Beruf und, bei den jungen Leuten, dem Beruf der Eltern vorstellten, aber bei mir nur den Namen nannten. Dabei kam ich aus einem akademischen Elternhaus. Aber die Veterinärin für Großtiere und der Landwirt mussten ihnen stets als die Proletarier unter den Studierten vorgekommen sein.
Es war vor etwa fünf Monaten gewesen, bei einer kleinen Vernissage im Haus von Junas Eltern, dem letzten Empfang, dem ich beigewohnt hatte. Ich hatte Juna angesehen in der Erwartung, dass sie die fehlenden Informationen über mich herausgeben und das Versäumnis ihrer Eltern wettmachen würde, aber Juna hatte auf ein Ölgemälde an der Wand gestarrt und dann in ihr Glas. Als ich sie später darauf ansprach, reagierte sie gereizt:
„Was hätte ich denn sagen sollen?“ Sie sah an mir vorbei. „Dass Du gerade Dein zweites Urlaubssemester einlegst, weil Du … Ja, warum eigentlich?“
„Juna“, sagte ich. „Ich habe es Dir doch erklärt. Ich kann das gerade nicht, diese Prüfungen, das ist mir gerade zu viel.“ Ich brach ab, irritiert von ihrem abgewandten Blick, versuchte ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, aber es gelang mir nicht.
„Was?“, fragte ich.
„Du … “ Sie zögerte.
„Was? Was, Juna? Was ist es, was Du nicht verstehst?“ Ich war beim Sprechen lauter geworden und ein paar Leute, die in unserer Nähe ihren Sekt tranken, sahen uns an. Juna nickte ihnen lächelnd zu, dann zog sie mich auf die Terrasse hinaus und hinter eine Ligusterhecke.
„Lola“, sagte sie. „Ich weiß, es ist gerade viel mit den Prüfungen und der Musik und … Deinen Stimmungen, aber manchmal glaube ich, Du … Manchmal glaube ich einfach, Du gibst Dir keine Mühe. Du willst es nicht schaffen. Meine Mutter sagt … Ach verdammt, Lola!“ Jetzt sah sie mich direkt an und ich musste mich zusammennehmen, um nicht wegzusehen.
„Ich kann’s Dir nicht besser erklären“, sagte ich und fühlte mich sehr müde. „Es läuft nicht so gut. Das laugt mich alles so aus. Ich … Ich bin nicht wie Du, Juna. Ich … Ich schaffe nicht fünfhundert Sachen auf einmal. Für mich sind Uni-Prüfungen keine spannenden Herausforderungen, an denen ich mich emporschwinge. Ich flattere nicht den ganzen Tag herum und sitze abends auf einem Wipfel und singe der Welt meine Lieder.“
„Nein“, sagte Juna. „Du tauchst ab.“
„Dafür mochtest du mich doch immer! Du mochtest doch meine Songs und meine Bilder und … “
„Ja“, sagte Juna. „Tu ich immer noch.“
„Also?“
„Manchmal … Ach, manchmal wünschte ich, Du wolltest höher hinaus!“
„Wohin denn, Juna? Meinst Du, ich will meine Bilder an den Wänden reicher Leute sehen?“
Ihre Augen blitzten auf, dann sah sie weg.
„Ich bin doch der Fisch, Juna“, sagte ich versöhnlich und berührte ihren Arm. Aber Juna blieb ernst.
„Ja“, sagte sie, und ihre Stimme klang wie am Grabe eines geliebten Menschen. „Du bist der Fisch.“ Dann drehte sie sich um und ging über den Rasen zurück zum Haus, wo ihre Mutter mit ein paar Gästen auf der Terrasse stand und ihr entgegen sah.
Ich starrte in die Dunkelheit. Nicht nur Junas Eltern hatten sich einen Vogel an der Seite ihrer Tochter gewünscht. Ihre Postkarte teilte mir mit, wonach sie sich schon lange gesehnt hatte. Eine Weile hatte sie gehofft, aus einem Fisch einen Vogel zu machen und mich mitzunehmen. Doch ich hatte nie ein Vogel sein wollen. Und mir wurde klar, dass ich viel zu lange den Kopf aus dem Wasser gereckt hatte, um Juna in ihrer Welt zu treffen.
Es war kühl geworden. Um mich etwas aufzuwärmen stand ich auf und lief am See entlang. Nach längerem Gehen erreichte ich eine Badestelle, die mir nicht bekannt vorkam. In einem Baum nah am Wasser hing ein großes Badehandtuch, das wohl jemand zum Trocknen aufgehängt und vergessen hatte. An dieser Stelle war der Boden sandig und stieg vom Ufer weg leicht an. Ich stapfte ein paar Meter den Hang hinauf und legte mich unter dem Gerippe einer kleinen Kiefer in den Sand. Ihre abgestorbenen Äste über meinem Kopf waren ein schwarzer Scherenschnitt vor dem weiten Himmel, an dem jetzt ein angeschnittener Mond aufging. Ich rollte mich in das Handtuch ein und betrachtete den Himmel, den Mond, den Wald am gegenüberliegenden Ufer, das Wasser, dessen teerige Schwärze glänzte. Eine Welt aus Schwarz und Silber und dem, was dazwischen lag.
Als ich aufwachte, sangen die Vögel. Dunstschwaden zogen über den See. Ich setzte mich auf, mein Körper war steif vor Kälte. Mit unsicheren Schritten stieg ich den Hang hinab zum Wasser, stand lange still am Ufer und genoss den frühen Morgen. Streifte dann, einem jähen Impuls folgend, meine Kleider ab und lief in den See hinaus. Das Wasser war warm auf meiner Haut. Ich schwamm einige Runden, ließ mich treiben und betrachtete die kleinen Wolken über mir, die langsam gelbgold und dann weiß wurden. Als sich die Sonne über den Baumwipfeln des gegenüber liegenden Ufers erhob, setzte ich mich auf einen Ast, der über das Wasser hing und ließ mich trocknen. Machte mich schließlich auf den Heimweg durch den Wald, durchquerte Licht- und Schattenschranken, die Sonne und Bäume in die Luft über dem Waldweg warfen. In den Ästen zwitscherten Vögel.