Kollektivität oder Lyrik als Radical Diversity
Am 2. und 3. Februar trafen sich Autor*innen aus Deutschland, Österreich, Belgien und den Niederlanden in den Räumlichkeiten des Verlags perdu für einen gemeinsamen Workshop. Die folgenden Denkfragmente befassen sich mit der konzeptuellen und inhaltlichen Verbindung zwischen kollektiver Arbeit, dem Projekt babelsprech und der Notwendigkeit internationaler Kooperation von Lyriker*innen in Europa.
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Wettbewerbe, kuratierte Lesereihen und Internetportale sind Orte, wo Schreibende erstmals in Erscheinung treten können. Das Problem, welches mich im Folgenden beschäftigen wird, liegt in der Struktur dieser Aufmerksamkeitsökonomie: Der Betrieb hat Türsteher*innen. Von diesen Türsteher*innen wiederum hängt die soziale und finanzielle Anerkennung als Lyriker*in ab, wie sie sich z.B. in Einladungen zu Festivals und Lesungen, der Bewilligung von Stipendien und Fördermitteln oder im Interesse von Verlagen niederschlägt.
Es steht zu vermuten, dass dieser Prozess nicht ohne Rückkopplung auf das Schreiben derjenigen bleibt, die den ‚Betrieb‘ oder die ‚Szene‘ um Eintritt ersuchen. Insofern es dabei auch um das Selbstbild als Lyriker*in geht, glaube ich, dass die Frage nach den Türsteher*innen vor allem als ein Problem der Anerkennung diskutiert werden sollte. Wenn ich diesem Gedanken folge, dann muss eine kritische Arbeit alternative Anerkennungsstrukturen identifizieren oder erzeugen – und das Potential dieser Alternativen auch über das Feld der Lyrik hinaus beschreiben. Ich denke, dass Kollektivität einen solchen alternativen Modus der Anerkennung bereitstellen kann.
Dabei beziehe ich mich zunächst auf die Erfahrung, die ich mit dem Lyrikkollektiv G13 seit dem Jahr 2009 gemacht habe. Als meine persönliche Chiffre für Kollektivität steht G13 für zweierlei: die Erzeugung eines Diskussionsraumes, in dem wir uns ohne den gewöhnlichen Antiintellektualismus mit Lyrik befassen konnten, und eine Annäherung an Lyrik innerhalb eines selbst gewählten und stabilisierten Anerkennungsraumes. G13 hatte insofern einen wesentlichen Anteil an meiner lyrischen Sozialisation, als ich ohne die notwendige Bestätigung durch jene Türsteher zu einer Idee von mir als Lyriker gelangen konnte.
Formen der Kollektivität bieten meiner Meinung nach das Potential, in relativer Unabhängigkeit von etablierten Strukturen eine eigene lyrische Stimme entwickeln zu können. Die Selbstorganisation von Autor*innen dient dabei im besten Fall der Rückführung auf den zentralen Aspekt der Begegnung: eine fortlaufende Diskussion unterschiedlicher poetischer Positionen, die gemeinsame Entwicklung von Ideen an den Grenzen dessen, was uns einfällt, wenn wir den Stift in die Hand nehmen. Dazu braucht es keine Türsteher*innen.
Eine Hoffnung, die ich mit der Kollektivität folglich verbinde, ist, dass der Prozess lyrischen Schreibens in seiner Offenheit so lange wie möglich erhalten bleibt. Denn im Kollektiv ist im besten Fall beides gegeben, ein Raum der gegenseitigen Wertschätzung und eine Offenheit für das Schreiben Anderer. Beides bedarf immer neuer Verhandlung. Dagegen steht die Gefahr einer normativen Stratifizierung dessen, was als gute Lyrik verstanden wird. Es mag wohl stimmen, dass es technisch anspruchsvollere Arbeiten und weniger anspruchsvolle, versierte oder weniger versierte gibt; aber diese Einschätzung orientiert sich sinnvollerweise am Text selbst.
Der gegenwärtig verbreiteten institutionellen Organisation von Lyrik nach dem Vorbild des Spitzensports würde ich ein Verständnis von Lyrik gegenüberstellen, dessen zentraler Maßstab die Wertschätzung von Diversität durch Anerkennung einer Vielzahl von lyrischen Zugängen ist. Gerade vor diesem Hintergrund scheint es mir sinnvoll, die (voreilige) Bewertung bestimmter Poetiken zugunsten der Anerkennung ihrer (vorläufigen) Fremdheit zurückzustellen. Was der/die Andere meint, ist mir im Zweifelsfall erst einmal nicht klar. Kompetenz der Kompetenzlosigkeit!
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Je mehr sich mir in den folgenden Jahren das Feld deutscher Gegenwartslyrik erschloss, desto mehr vermittelte sich mir der Eindruck, dass die Umsetzung dieser Vorstellung von Vielfalt eigentlich auch spezifischer Organisationsformen bedarf. Das war ein Grund, weshalb ich 2013 gemeinsam mit der Literaturwerkstatt Berlin und dem Literaturhaus Wien sowie den Autoren Michael Fehr und Robert Prosser babelsprech als Forum für junge deutschsprachige Lyrik initiierte. Dabei ging es uns um zweierlei: die Ermöglichung von Begegnungen außerhalb literarischer Wettbewerbe und die Reflektion der eigenen poetologischen Rezeptionshaltung.
Die Nähe zu Literaturbetrieb und Förderung eines so großen Projektes wie babelsprech führt (natürlich) in einen performativen Widerspruch. Es ist sicher richtig, dass ein jedes Sich-Einlassen über kurz oder lang dazu führt, dass man ein Teil jenes Betriebes wird, zu dem man eine Alternative schaffen wollte. Dagegen bleibt anzumerken, welche Absicht wir ursprünglich mit babelsprech verfolgt haben: Es ging und geht uns darum, einen national strukturierten Referenzraum zu überwinden und zugleich eine Alternative zu Wettbewerben und Festivals zu bieten, in deren Rahmen sonst Begegnungen zwischen internationalen Autor*innen stattfinden.
Während der Laufzeit des Projektes organisierten wir zwei Treffen, eines zu Beginn im Oktober 2013 in Lana, eines gegen Ende im April 2015 in Bern. Diese Treffen, wie auch die kleineren, halbjährlich stattfindenden Lesungen wirkten in zwei Richtungen. Indem wir einer Öffentlichkeit die Gegenwartslyrik als eine per se deutschsprachige vorstellten, verschafften wir ihr nicht nur eine Plattform, sondern behaupteten implizit auch die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen als bereits bestehende Realität. Der Effekt dieser performativen Behauptung war dabei ein doppelter, denn auch uns Autor*innen wurde der deutschsprachige Raum zunehmend zu einem Bezugsrahmen.
Der Titel babelsprech hat in diesem Zusammenhang immer wieder für Verwirrung gesorgt. Uns ging es bei dem Titel primär darum, herauszustellen, dass wir trotz einer gemeinsamen Sprache auf unterschiedliche Traditionen zurückgreifen, die uns die jeweils andere Lyrik unter Umständen fremd, schlecht oder einfach nur unverständlich erscheinen lässt. Babel eben. Das Projekt forderte also eine grundlegende Offenheit für eine Vielfalt von Poetiken, die in digitalen und physischen Gesprächen zwischen den Autor*innen ausgelotet wurde.
Zum Abschluss der ersten zwei Jahre babelsprech erschien die Anthologie Lyrik von Jetzt 3, Babelsprech im Wallstein-Verlag, herausgegeben von Michael Fehr, Robert Prosser und mir. Insofern das Buch eine Auswahl von 84 lyrischen Stimmen der Kohorte babelsprech war, waren wir selbst zu Türstehern geworden. Zugleich wollten wir damit unterstreichen, dass diese Kohorte dabei ist, den eigenen Bezugsraum organisatorisch und künstlerisch auf den gesamten deutschsprachigen Raum zu erweitern. Als weiterer Beleg dafür kann die Initiative „Unabhängige Lesereihen“ (http://lesereihen.org/) oder auch die Gründung transnationaler Lyrikkreise in Österreich und Deutschland angeführt werden.
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Es ist wichtig zu unterstreichen, dass wir mit babelsprech Impulse aufnahmen, die bereits vorhanden waren und die sich unabhängig davon weiterentwickelten. Um diese Entwicklungen zu diskutieren, trafen sich am 14. Januar 2016 elf Lyriker*innen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich für eine Kurztagung im Lyrikkabinett München. Thema war die Zukunft der deutschsprachigen Lyrik aus der Perspektive einiger ihrer Akteur*innen. Tristan Marquardt und ich fertigten dazu eine Übersicht an; für die folgende Darstellung greife ich auf unsere Notizen zurück:
1. VERNETZUNG/EMPOWERMENT. Es vollzieht sich ein Wandel im Literaturbegriff. Weg von elitären, auf Selektion angelegten Strukturen, in denen es darum geht, die Exzellenz eines Werkes zu beweisen, das nach bestandener Prüfung in den Kanon hoher Literatur aufgenommen werden kann – hin zu einem auf Gegenwart konzentrierten Literaturbegriff, der Literatur als soziale Praxis erkennt, die an Gesellschaft partizipiert, sie reflektiert, und die Lyriker*innen in diesem Feld als Handelnde sieht.
2. PLURALISIERUNG. Wider den Kampf der Poetiken. Die aktuelle Heterogenität in der Lyrik ist bewahrenswert, einzig Diversität kann die Antwort des literarischen Feldes auf die aktuellen Gesellschaftsentwicklungen sein. Diskussionen um die Legitimation einzelner Poetiken sind wichtig, aber nicht durch normative Setzungen zu klären. Avantgarde und Konvention haben beide ihre Berechtigung, nicht aber in ihrer Behauptung, damit das einzig Richtige zu tun. Zentral ist stattdessen die Anerkennung von (poetologischer) Differenz als einer wertvollen und grundlegenden Eigenschaft von Lyrik.
3. PRODUKTIVITÄT VS. AUFMERKSAMKEIT. Die wachsende Produktivität der Lyrikszene steht im Widerspruch zur öffentlichen Rezeption. Eine gegenwärtig erhöhte mediale Aufmerksamkeit ist ein gutes Anzeichen, aber längst nicht ausreichend. Jüngstes Beispiel ist die Debatte um den Stand der Lyrikkritik, angestoßen durch einen Artikel von Tristan Marquardt, und eine Kritik von Konstantin Ames zu Lyrik von Jetzt 3, Babelsprech (eine Übersicht unter https://lyrikzeitung.com/2016/03/28/debatte-2/). Darüber hinaus sind Lyriker*innen schon länger nicht nur als Schreibende, sondern auch als Vermittelnde aktiv. Diese Doppelfunktion gilt es zu beachten, zu erhalten und zu fördern.
4. TRANSDISZIPLINARITÄT/KOLLEKTIVITÄT. Welche Form ein Gedicht als Text und in der Präsentation findet, wird aktuell wieder zunehmend Gegenstand der literarischen Produktion. Im Zentrum dieser Aufmerksamkeit für die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Lyrik stehen dabei die Interaktion mit anderen Künsten, kollektive Arbeitsweisen sowie Textverfahren. Das Ergebnis kann außerhalb des konventionellen Vortrags („Glas-Wasser-Lesung“) liegen, muss es aber nicht. Es wäre wünschenswert, wenn Institutionen auf diese veränderte Realität reagieren würden (z.B. Preisstrukturen für kollektiv verfasste Texte oder Leseräume mit einer besseren technischen Ausstattung).
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Seit einer Weile diskutiere ich mit wechselnden Gesprächspartner*innen über die Frage, was eigentlich eine angemessene Reaktion von uns Lyriker*innen auf die Eskalation der gegenwärtigen politischen Situation in Europa sein kann (Rechtsruck)? Manche machen es sich einfach, indem sie sagen, dass es nicht die Aufgabe von Lyrik sei, auf eine wie auch immer definierte gesellschaftliche Aktualität zu reagieren. Ich würde mich eher auf die Seite jener schlagen, die die Frage nach einer lyrischen Bezugnahme auf gesellschaftliche Aktualität nicht nur für legitim, sondern für zentral halten. Damit rückt auch die Frage nach dem Selbstbild der Lyriker*innen (wieder) in das Zentrum der Aufmerksamkeit.
Nun glaube ich aber auch, dass diese Frage nicht primär inhaltlich beantwortet werden sollte. Vielmehr scheint sie mir in den Organisationsstrukturen selbst zu liegen. Und derzeit sehe ich keine andere (kritische) Organisationsform, die so effektiv im Überschreiten von Länder- und Sprachgrenzen ist, wie die der eingangs beschriebenen und in babelsprech erweiterten Kollektivität. Mit der Veröffentlichung der Anthologie Lyrik von Jetzt 3, Babelsprech stellte sich bereits die Frage, wie es weiter gehen sollte. Die knappe Antwort darauf lautet: mit der Ausweitung des Einzugsbereichs auf den europäischen Rahmen (und zwar über die variierenden Grenzen der politischen Einheit EU hinaus). Für eine Begründung hole ich noch einmal ein wenig aus.
Ich glaube, dass eine Arbeit über nationale und sprachliche Grenzen hinaus vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Renationalisierung und Reethnisierung Europas einen direkten politischen Effekt hat. Als Beispiel beziehe ich mich auf ein erstes babelsprech.international Treffen, welches Ende Januar in Amsterdam stattfand. Neben Autor*innen aus Deutschland und Österreich nahmen Autor*innen aus den Niederlanden und Belgien teil. Partner*in vor Ort war perdu, selbst in den 1980er Jahren als Kollektiv gegründet und heute ein wichtiges Zentrum neuer niederländischer Lyrik.
Leitthema war die Frage, wie eine Zusammenarbeit über die Sprach- und Verstehensgrenzen hinaus eigentlich möglich ist. Weder ganz Mehrheiten-, noch ganz Minderheitensprache, schälte sich in der abschließenden Performance eine Art babylonisches Sprachgetümmel heraus, das sich durch eine relative Intelligibilität auszeichnete. Was an diesem Abend meiner Meinung nach gelang, war eine Abbildung der Diversität europäischer Sprachräume durch die Erweiterung gesprochener Amtssprachen (EU) um hebräische, türkische und chinesische Sprachfragmente.
Treffen wie jenes in Amsterdam setzen einer rechtspopulistischen/politisch rechten Haltung die Überschreitung nationaler Grenzen entgegen und sind zugleich ihr praktischer Vollzug. Ganz im Sinne der oben beschriebenen performativen Strategie von babelsprech wird die Präsenz dieser transnationalen Literatur erklärt und in ihrer Erklärung zugleich vollzogen. Lyrik wird so zum Denk-, Reflektions- und Erkundungsmodus dessen, was im Feld sozialer Arbeit als Radical Diversity bezeichnet werden kann. Diese Arbeit an der konkreten Utopie des Radical Diversity ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit eines Weiterbestehens Europas als post-nationale Idee (was es vielleicht nur selten war, aber immer schon gewesen sein sollte!).
Was ist eine Antwort auf die Eskalation der politischen Situation in Europa? Anstatt auf die nationalen Rechten einzugehen, sollte es darum gehen, Gegenallianzen zu formen! Die konkreten Allianzen zwischen Autor*innen spielen dabei eine zentrale Rolle. Denn die Frage unserer jeweiligen Identifikationen wird letztlich darüber entscheiden, was wir Europa nennen/nennen sollten/und – vielleicht auch – genannt haben werden.
Einen Dank an Corinne Kaszner für das Lektorat und die kritische Begleitung sowie an Tristan Marquardt dafür, dass ich Teile seines Protokolls vom Münchner Babelsprech-Treffen verwenden durfte.