ROSA/BLAU Ein Besuch im Amt für Differenzverwaltung

 

Theater Kormoran ist ein seit 2006 bestehendes Künstlerinnenkollektiv, das Theaterstücke für Kinder und Erwachsene entwickelt. Die Stücke entstehen im Probenprozess und befinden sich an der Schnittstelle von Theater, Musik, Performance und Bildender Kunst. Das Arbeiten im Kollektiv, in dem jede die eigenen Ideen und Fertigkeiten einbringt, ist für uns Grundvoraussetzung für unseren künstlerischen Prozess.
Die Begegnung mit dem Publikum sehen wir als essentiellen Bestandteil unserer Theaterarbeit: So hat THEATER KORMORAN in der Vergangenheit mit Raumkonzepten und Modellen der Partizipation experimentiert, die Zuschauende zur aktiven Beteiligung ermutigen, ohne sie dabei ins Rampenlicht zu zwingen. Zu unserem Stückerepertoire gehört zum Beispiel das 2014 produzierte Klassenzimmerstück DER GEIST DER SCHLACHT. Wir nahmen das 150jährige Jubiläum der Schlacht um Düppel im preußisch-dänischen Krieg zum Anlass, uns kollektiv damit zu beschäftigen, wie Grenzen festgelegt werden, was Krieg mit Menschen macht, wie unterschiedlich Geschichte wahrgenommen wird, erzählt wird – und zur Bildung nationaler Identitäten herangezogen werden kann.

 

Zur Entstehung des Theatertextes ROSA/BLAU

In Abkehr von der Tradition, den literarischen Dramentext als Ausgangspunkt von Theaterinszenierungen zu nehmen, gewann seit den 1980er Jahren eine Theaterpraxis an Bedeutung, die als postdramatisch bezeichnet wird. Die Hegemoniestellung des Textes wird grundlegend hinterfragt. Postdramatisches Theater lässt verschiedene Theatermittel neben- und miteinander wirken. Inszenierungen können ihren Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit einem Ort, einer körperlichen Bewegungsaufgabe, einer musikalischen Dramaturgie, einem Ereignis oder einem Thema haben. „ROSA/BLAU. Ein Besuch im Amt für Differenzverwaltung“ ist eine Solo-Lecture-Performance, für die wir den Geschlechterverhältnissen und den damit einhergehenden Einschränkungen in dieser Gesellschaft nachgespürt haben. Aufgrund der überbetonten Trennung zwischen der Mädchen- und der Jungenwelt im Bereich Spielzeug, Kleidung und Medien für Kinder, die mit einer extremen Stereotypisierung der Geschlechter einhergeht, entwickelten wir ein Stück über die Gemachtheit von Geschlechterrollen. Neben der intensiven Literaturrecherche untersuchten wir Spielwarengeschäfte, sprachen mit Menschen auf der Straße, sammelten Bilder, erarbeiteten einen Fragebogen, führten biografische Interviews und arbeiteten mit Jugendlichen in theaterpädgogischen Workshops zu der Frage, wie sie Geschlechterdifferenzen und -rollen wahrnehmen. Dieses Material bildete die Grundlage der szenischen Arbeit. Den vorliegenden Text haben wir als Ergebnis des theatralen Arbeitsprozesses im Nachhinein verfasst. Die Verschriftlichung sehen wir als Experiment: Inwiefern kann eine postdramatische Stückentwicklung auf einen Theatertext heruntergebrochen werden und danach als Vorlage für andere Inszenierungen funktionieren?


Personen

Sachbearbeiterin Wolff

Der Chef des Amtes für Differenzverwaltung, Herr Müller

 

Orte

Ein Büroraum – Arbeitsplatz der Sachbearbeiterin Wolff

Vor dem Büro

 

Ausstattung

Bürotisch, Bürostuhl, Leinwand

 

 1. SZENE. VOR DEM BÜRO

 

Sachbearbeiterin Wolff:
Guten Tag. Ich bitte Sie alle einzeln, der Reihe nach, ordentlich bei mir einzutreten.

 

Ja, Sie gehören eindeutig auf die rechte Seite. Sie nehmen bitte auf der linken Seite Platz. Sie setzen sich bitte nach rechts, Sie auch. Ah, sehr schönes Tuch haben Sie da um, bitte auf der rechten Seite Platz nehmen. Sie gehören eindeutig auf die linke Seite. Interessant … Wie heißen sie? […] Ah ja, bitte setzen Sie sich auf die rechte Seite. Prächtiger Bartwuchs … auf die linke Seite. Sie haben aber einen sehr schönen Pullover an – bitte ebenfalls links. Hübsche Frisur, nach rechts. Oh. Einen Moment … Ja, Sie gehören auf die rechte Seite. Mit dem Jackett … auf die linke Seite, bitte.

 

 2. SZENE. IM BÜRO

 

Sachbearbeiterin Wolff:
Ich heiße Sie alle recht herzlich willkommen im Amt für Differenzverwaltung. Mein Name ist Wolff, W O L F F. Ich bin hier die zuständige Sachbearbeiterin. Wir haben in Deutschland nach momentanen Zählungen 80.523.746 Ämter für Differenzverwaltung[1]. Sie wundern sich vielleicht, warum Sie noch nie von uns gehört haben? Nun, das Amt ist in keinem Gebäude zu finden und doch existiert es! Jeder und jede von Ihnen hat dieses Amt in seinem oder ihrem Gehirn. 10 Zentimeter hinter der Stirn und 3 cm über dem Ohr ist dieses Amt auch in Ihrem Kopf zu finden.

Was genau wird in diesem Amt gemacht? Zu differenzieren heißt zu unterscheiden. Das Amt für Differenzverwaltung verwaltet den Unterschied zwischen männlich und weiblich. Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Ja, stellen Sie sich einmal vor, sie wüssten nicht, ob Sie einen Nachbarn oder eine Nachbarin neben sich sitzen haben. Würden Sie dann Er oder Sie sagen? Oder wenn Sie selbst nicht wüssten welches Geschlecht Sie haben – auf welche Toilette würden Sie dann gehen? Woher sollten Ihre Eltern wissen, ob sie Sie zum Reiten oder aufs Fußballfeld schicken sollten? Und woher sollte Ihr Chef dann noch wissen, woran er ihr Gehalt messen soll? Es geht einfach darum, Ordnung in die Welt zu bringen.

Angenommen, das hier ist unser Gehirn. Wir erleben tagtäglich unzählige Dinge. Das heißt: Unser Gehirn wird mit einer Unmenge an Informationen überflutet. Um da noch irgendwie durchblicken zu können, müssen diese Informationen sortiert werden. Zum Glück gibt es in unserem Gehirn dafür sehr viele Schubladen. Mal sehen …

 

Freundlich

Scharf, also: Gefährlich

Rosa

Blau

Schwarz

Weiß …

 

Stellen Sie sich vor, es kommt Ihnen auf der Straße etwas entgegen. Es hat vier Beine, einen Kopf und einen Schwanz. Also ein Tier. Was passiert aber, wenn Sie dieses Tier nicht genau bestimmen können? Wenn Sie sich nicht sicher sind, ob es sich um einen Hund … oder vielleicht doch um einen Wolf handelt? In welche Schublade gehört es? Freundlich oder gefährlich?

 

Solange wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben, wissen wir auch nicht, wie wir uns verhalten sollen. Nun gut. Wilden Tieren begegnen wir heutzutage nicht allzu oft – aber Menschen begegnen wir täglich. Und auch zu ihnen müssen wir uns verhalten. Wenn wir nicht wissen, ob jemand männlich oder weiblich ist, sind wir irritiert. Verwirrt. Daher ordnet das Amt ausnahmslos jeden Menschen entweder der rosafarbenen oder der blauen Schublade zu. Ich habe hierfür zwei vorbildliche Beispiele, Christian und Anna.

 

Auf der Leinwand erscheint Christian.

 

Christian ist 8 Jahre alt. Wir sehen ihn hier mit seinem Spielzeug. Er ist umgeben von wilden Tieren. Der Dinosaurier weist auf besonders gefährliche Tiere hin. Christian hat eine ganze Flotte an Autos, er ist also technikbegeistert und hat eine Vorliebe für schnelles Fahren. In seinem Rücken steht eine ganze Armee an Playmobil-Figuren. Schauen wir jetzt, wie Christian steht: Stabiler Stand, beide Hände fest um sein Schwert. Der Blick: entschlossen, zielgerichtet in die Ferne. Christian sieht den Feind am Horizont. Doch er ist bereit. Der Feind naht. Christian setzt an zum Schlag. Der erste geht knapp vorbei. Doch der zweite durchschlitzt dem Feind den Bauch und dann mitten in die Brust – Siiiieeeeg! Ein Junge wie aus dem Bilderbuch. Kommen wir nun zu Anna.

 

Auf der Leinwand erscheint Anna.

 

Anna ist 7 Jahre alt, ein typisches Mädchen. Anna liebt die Musik. Und sie ist vielfache Puppenmutter. Sie schiebt ihre Puppen gern im Kinderwagen herum und bekocht sie. Oder trinkt mit ihnen Tee. Reiten übt Anna auf ihren Steckenpferden. Im Übrigen dreht sich Annas Welt wohl eher um das Häusliche. Anna steht aufrecht, sie hat eine hübsche Schleife im Haar und sie lächelt freundlich. Ein perfekt mädchenhaftes Mädchen.

 

Christian und Anna sind musterhafte, vorbildliche Beispiele. Mit ihnen macht das Einsortieren Spaß. Rosane Schublade, blaue Schublade. Aber das Zuordnen ist nicht immer so leicht. Bei uns landen täglich eine Menge Akten von Menschen auf dem Schreibtisch, die wir erst genauestens überprüfen müssen, bevor wir sie nach Männlich und Weiblich in die Schubladen einsortieren können. Schauen wir uns doch einmal an, was wir heute zu bearbeiten haben. Der erste Fall.


Auf der Leinwand erscheint der Kopf eines Babys.

 

Ach. Ein Baby … Ohne den Körper zu sehen, sind Babys schwierige Fälle. Ich meine … sehen Sie selbst: Blaue Augen, ein paar Zähne, ein paar Haare. Aber ist das ein Junge oder ein Mädchen? Zum Glück gibt es im Alltag einige Hilfsmittel, die uns das Zuordnen erleichtern.

 

Wolff greift nach zwei Strampelanzügen, einer ist rosa, einer blau, geht zur Leinwand und hält abwechselnd die Strampler unter den Babykopf.

 

Jetzt ist es ein Junge. Jetzt ein Mädchen. Junge. Mädchen. Dank Form und Farbe von Kleidung können wir meistens auf einen Blick erkennen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Wie ist es denn bei Ihnen? Wer mag und trägt diese Farbe? Bitte einmal melden. (…) Und wer mag und trägt diese Farbe? (…) Nun…. Wenn man älter wird, scheint diese Farbzuordnung nicht mehr hundertprozentig zu passen. Aber trotzdem zeigen Kleider und Farben doch meist sehr schnell, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Wir können das ja mal testen!

 

Wolff lässt folgende Bilder nacheinander auf der Leinwand erscheinen:

  • Ein Werbebild einer weiblichen Person oder des Models Andrej Pejic.

  • Ein Männer-Modebild

  • Eine alte Famlienfotografie

  • Ein Gemälde eines mittelalterlichen Kardinals in seinem traditionellen Gewand (in tiefem Rosarot)

  • Ein Kinderbild vom Ende des 19. Jahrhunderts – eine Zeit, zu der auch Jungen als Kleinkinder lange Haare und Blumenkleider trugen.

  • Eine Reproduktion des Gemäldes von Königin Victoria mit Prinz Arthur

  • Bild von Napoléon mit rotem Umhang

  • Bild von der heiligen Jungfrau Maria mit blauem Kleid

 

Als Erstes haben wir ein Werbebild. Eindeutig eine …? Frau! Zu erkennen an dem roten Kleid mit tiefem Ausschnitt, den langen Haaren, dem sinnlichen Mund!

 

Als nächstes – eine Modefotografie. Zu erkennen sind ein Bart, ein Anzug mit Einstecktuch und Krawatte, große Hände sowie große Füße. Hierbei handelt es sich eindeutig um einen …? – Mann!

 

Ah, ein historisches Bild. Auf dieser Fotografie sind deshalb keine Farben zu erkennen. Aber trotzdem, schon damals: im Anzug mit Bart, mit Fliege statt Krawatte, eindeutig der Mann. Und hier im hochgeschlossenen Kleid die Frau, genauso wie ihr kleines Mädchen in hochgeschlossenem Kleid …

 

Als Nächstes haben wir ein historisches Gemälde – wieder ein wunderschönes Kleid … äh … nee …

 

Sehen Sie hier! Was für ein niedliches Mädchen. Mit schönen langen Haaren und Blumen auf dem Kleid. Das muss bereits eine sehr alte Fotografie sein. Schauen wir doch mal, von wann dieses Foto ist … 1893! Und die Kleine heißt – Heinrich Winkler. Heinrich?

 

Aber hier: Was für ein sinnlicher Moment! Eine Mutter mit ihrem Baby, in Weiß mit rosa Schleife – also eindeutig ein Mädchen!


Sie dreht das Bild um zum Beweis und liest vor:

 

Königin Victoria mit Prinz Arthur??? Einen Moment bitte.


Wolff wählt eine Nummer. Ins Telefon:


Herr Müller? Hier Wolff! Abteilung 723. Ich will Sie gar nicht lange stören. Es ist nur – ich bin da gerade auf ein paar … problematische Fälle gestoßen. Heinrich Winkler, und auch Prinz Arthur … sind mir … also, sind schwierig einzordnen … Ach – natürlich! Ja, nein, dann ist das klar. Danke. Selbstverständlich. Wiederhören! Ja … Ein sehr interessantes Phänomen, auf das wir hier gerade gestoßen sind.

 

Bild von Napoléon im roten Umhang erscheint auf der Leinwand.

 

Wie mir mein Chef soeben nochmal ins Gedächtnis rief, war Rot lange Zeit die Farbe der Männer, weil sie mit Blut, Kampf und Leidenschaft verbunden wurde. Rosa galt als das kleine Rot und wurde deshalb von den Jungen getragen …

 

Bild von Maria im blauen Kleid erscheint auf der Leinwand.

 

Blau hingegen war von jeher die Farbe der Heiligen Jungfrau Maria und stand für Reinheit. Hellblau wurde daher von den Mädchen getragen. Das heißt: Früher war das mit Rosa und Blau einfach genau andersherum … Nun ja. Auch wenn auf die Farben nicht immer Verlass zu sein scheint, so gibt es doch zum Glück körperliche Merkmale, anhand derer wir unterscheiden können.

 

Wolff zieht feierlich ein Modell des Uterus hervor, hält ihn demonstrativ vor ihren eigenen Körper und erklärt:

 

Die Frau hat einen Uterus, Eileiter, Eierstöcke und eine Vagina. In der Pubertät kommen die Brüste dazu. Beim Mann … Halten Sie mal bitte kurz –

 

Wolff schnallt sich ein Modell der männlichen Geschlechtsteile um die Hüften.

 

Beim Mann sind es Penis, Hoden und Nebenhoden. Später in der Pubertät kommen noch Bartwuchs und Adamsapfel dazu. Das, meine Damen und Herren, ist das biologische Geschlecht. Aber es gibt noch mehr Merkmale. Sogar unsere Eigenschaften und Verhaltensweisen können wir den beiden Schubladen zuordnen. Und das, meine Damen und Herren, nennen wir das soziale Geschlecht. Da hab ich was für Sie.

 

Audioeinspielung:
[ wie sind Jungs? puh, wie Jungs sind … / wild / laut / Jungs sind anders / draufgängerisch / als wenn sie aus der Höhle kommen / an sich cool / da ist immer dieses Wettkampfgetue / wie sind Mädchen? die haben anderes Spielzeug / meistens vorsichtiger, meist zurückhaltender, abwartender / unsportlich / geschickter, offener / hilfsbereit / die müssen immer zeigen, dass sie halt die stärkeren sind / … wie Jungs sind … / total verliebt in Autos und Fußball / ganz tolle Burschen / Rabauken / die wollen sich beweisen, auf jeden Fall // ich glaub, die wissen eher was sie wollen / das sind ganz hübsche / Mädchen sind kompliziert / die sind cool, die sind in Ordnung / Mädchen sind anstrengend, zickig, anspruchsvoll / Diven / wollen alles selber reparieren / wie sind Jungs? / nicht so wild / mal nett, mal unmöglich / schminken sich oft / sensibel und schön / wie sind Mädchen? / sehr auf Äußeres bedacht / cool / langhaarig / Jungs sind meistens blöd / Multitasking / wollen sich beweisen, auf jeden Fall / müssen immer gut aussehen / ich glaub die wissen eher, was sie wollen / abenteuerlustig / tragen gerne High Heels / unternehmungslustig / begehrenswert / vielleicht ein bisschen sachlicher? / joa, sind einfach brav / den meisten ist auf jeden Fall ihr Stolz wichtig, ihre Ehre / langweilig / unordentlich / besserwisserisch / knackig, frisch … und lieblich]

 

Sachbearbeiterin Wolff:
Es gibt also das soziale Geschlecht und das biologische … Wo ist eigentlich mein Uterus? Danke. Wissen Sie, genau das macht unsere Arbeit so kompliziert. Das soziale und das biologische Geschlecht müssen zusammenpassen, damit wir eine Person eindeutig einer der beiden Schubladen zuordnen können! Schauen wir uns den nächsten Fall einmal an …

 

Die Akte enthält folgendes Material:

  • eine muskulöse, kurzhaarige Leichtathletin beim Speerwurf

  • ebendiese in Großaufnahme beim Siegeslauf in Sportkleidung

  • ebendiese im Abendkleid bei einer Preisverleihung

 

Speerwerferin erscheint auf der Leinwand.

 

Profisportler. Genauer: Speerwerfer … Ausgeprägte Oberarmmuskulatur. Stark ausgeprägt auch die Gesäß- und Oberschenkelmuskeln. Und was für eine Körperspannung! Oberg…, den Namen kann man leider nicht genau lesen!

 

Sportlerin im Siegestaumel erscheint auf der Leinwand.

 

Aber hier: Obergföll. Wirklich beeindruckende Oberarme. Oh! Ein Ohrring! Vielleicht handelt es sich auch um eine Profisportlerin … die gibt es auch … Die biologischen Geschlechtsmerkmale sind unter der Kleidung aber nicht deutlich erkennbar. Ich meine – ist das jetzt ein Brustansatz oder ein Brustmuskelansatz? Wenn das eine Frau ist, dann ist sie ja stärker als die meisten Männer! Da krieg ich Probleme mit meinem Chef, wenn ich sie in die rosa Schublade stecke.

 

Sportlerin bei der Preisverleihung erscheint auf der Leinwand.

 

Ah! Hier gefällt sie mir schon viel besser! Obergföll tut aktiv etwas dafür, um als Frau erkannt zu werden: Sie trägt Schmuck, sie schminkt sich und sie lächelt freundlich. Damit ist das soziale Geschlecht eindeutig weiblich und sie gehört in die die rosa Schublade! Haben Sie das verstanden? Das mit dem biologischen und dem sozialen Geschlecht? Wissen Sie – mir selbst war der Unterschied lange Zeit etwas unklar, aber eines Sonntag Morgen beim Frühstück hab ich es plötzlich verstanden.

In der Welt der Brötchen gibt es weiße Brötchen und es gibt Körnerbrötchen. Einige weiße Brötchen sind rund, andere oval. Manche Körnerbrötchen haben viele verschiedene Körner und manche wenige kleine – aber immer ist klar zu unterscheiden: weiße Brötchen, Körnerbrötchen. So wie bei den Menschen: Mädchenkörper, Jungenkörper. Das biologische Geschlecht. Wenn die Brötchen aus dem Ofen kommen, beginnen wir sie zu belegen. Körnerbrötchen werden in der Regel herzhaft belegt. Ich lege erst einmal eine Scheibe Salami drauf – das fördert den Muskelaufbau! Dann noch etwas Senf für den kräftigen Geschmack. Weiße Brötchen werden in der Regel mit süßen Sachen bestrichen! Erdbeermarmelade ist hervorragend geeignet. Am Anfang gibt es also einfach zwei verschiedene Arten von Brötchen: weiße Brötchen und Körnerbrötchen. Weibliche Körper und männliche Körper. Unser biologisches Geschlecht. Dann aber fangen wir an, diese Brötchen zu belegen. Das eine wird süß, das andere kräftig. Und das, dieser Belag, das ist das soziale Geschlecht.

Denn genau so ist es bei den Menschen. Wenn man mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren wird – Sie erinnern sich, der Uterus?! – dann erwarten alle von einer, dass man freundlich, lieb und nett ist, süß wie das weiße Marmeladenbrötchen. Wenn man hingegen mit einem Penis geboren wird, erwarten alle, dass man stark und kräftig ist und niemals heult. Wissen Sie, wenn ich es mir recht überlege, esse ich eigentlich am liebsten Körnerbrötchen mit Marmelade. Ich finde, das passt richtig gut! Ja. Wunderbar … Und weiße Brötchen gibt es häufig mit Wurst belegt … Und Käse? Käse passt sowohl auf weiße als auch auf Körnerbrötchen, und man kann ihn sogar mit Salami kombinieren und mit Marmelade! Also, dieses Brötchen ist eindeutig männlich, dieses Brötchen eindeutig weiblich. Dieses Brötchen ist – männlich, aber die Marmelade ist doch weiblich, und das hier ist weiblich und der Belag männlich und der Käse ist weder noch – und wohin gehört eigentlich die Brezel??? Ordnung. Ordnung ist das halbe Leben. Zurück zur Arbeit.

 

Die Akte enthält folgendes Material:

  • ein Portrait eines ca. zehnjährigen Kindes

  • einen Brief

  • weitere Familienfotos, auf denen das Kind bei verschiedenen Tätigkeiten zu sehen ist, möglichst geschlechtsneutral.

  • ein Bild von einem Muskelprotz

  • ein Bild von einem noch aufgeblaseneren Muskelprotz

  • ein Bild vom schlimmsten Bodybuilder, den man sich vorstellen kann

Der nächste Fall.

 

Portrait des Kindes erscheint auf der Leinwand.

 

Hier haben wir Bildmaterial … nicht eindeutig zuzuordnen. Schauen wir nochmal weiter: Oh, es gibt einen Brief. Könnte mir hier jemand assistieren und vorlesen? Ich weiß, die Mädchen können das besser mit dem Lesen, aber heute gebe ich mal einem Jungen die Chance. Auf mein Zeichen lesen Sie den Brief bitte langsam, laut und deutlich vor. Bereit? Und los!

 

Weitere Fotos des Kindes erscheinen auf der Leinwand.

 

Zuschauer:
Liebes Amt für Differenzverwaltung,
ich heiße Jan, bin 10 Jahre alt und habe ein Problem: Ich bin ziemlich unsportlich und Fußball ist überhaupt nicht mein Ding. In jeder Pause spielen die „echten Jungs“ Fußball und ich stehe mit den anderen „falschen Jungs“ in der Ecke rum. Auch bin ich ziemlich schlecht in Mathe und Autos finde ich voll langweilig. Bin ich überhaupt ein Junge? Am liebsten würde ich nur noch in meinem Zimmer bleiben, aber am Montag ist wieder Schule. Können Sie mir ein paar Tipps geben, was ich machen kann?
Hochachtungsvoll,
Ihr Jan

 

Sachbearbeiterin Wolff:
Er mag kein Fußball, kein Mathe und keine Autos, richtig? Ist Jan überhaupt ein Junge? Danke fürs Vorlesen. Das war doch für einen Jungen schon ganz gut.

 

Zuschauer ab ins Publikum.

 

Jan – ein männlicher Vorname. In den meisten Fällen bedeutet das auch männliche Geschlechtsmerkmale. Gehen wir davon aus, dass Jan einen Penis hat. Aber Jan verhält sich nicht wie ein Junge. Was tut man da? Anscheinend haben Jans Eltern einiges versäumt in der Erziehung. Aber es ist noch nicht zu spät. Ja, Sie denken vielleicht, man wird als Mädchen oder Junge geboren und so ist man dann. Nein! Geschlechterkorrektes Verhalten erfordert lebenslanges Training! Ich verordne dem Jan daher ein straffes Trainingsprogramm. Wenn er täglich übt, kann das noch was werden! Als Erstes: Schneid dir die Haare ab! Und hör auf so wehleidig zu gucken. Sei keine Heulsuse! Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Jan, reiß dich zusammen! Werde aktiv! Du musst Sport machen, wenn du ein richtiger Mann werden willst.

 

Das Bild eines Muskelprotzes erscheint auf der Leinwand.

 

Sei kein Weichei. Hör auf, mit den anderen falschen Jungs herumzuhängen. Du brauchst neue Freunde, an denen du dir ein Beispiel nehmen kannst.

 

Das Bild eines noch muskulöseren Bodybuilders erscheint auf der Leinwand.

 

Und willst du in Mathe wirklich schlechter sein als die Mädchen?! Jan, streng dich an!

 

Das Bild des schlimmsten Bodybuilders erscheint auf der Leinwand.

 

Das dürfte reichen. Ich erinnere mich gerade, da war noch so ein Fall, erst letzte Woche. Ein Mädchen, Karin, die hat alles noch gelernt. Das müsste hier noch irgendwo gespeichert sein …

 

Audioeinspielung:
„Karin, erzählen Sie doch mal von früher.“

„ Also, mein Vater wollte immer einen Sohn. Aber wir wurden alle Mädchen. Ich war die Jüngste und deswegen hat er mich dann einfach Michael genannt, als ich kam. Und er hat mich mit zur Garage genommen zum Schrauben und auch auf die Baustelle. Er war nämlich Maurer. Und er hat mir beigebracht wie man Lampen anschließt und wir haben zusammen gebolzt, so wie Vater und Sohn.“

 

Sachbearbeiterin Wolff:
Das ist doch ein wunderbares Beispiel dafür, dass man alles lernen kann. Die Karin hat all das gelernt, was dem Jan fehlt!

 

Das Telefon klingelt.

 

Ein Moment bitte! Amt für Differenzverwaltung. Abteilung 723. Wolff … Herr Müller! Ja! Kein gutes Beispiel? Verstehe … verstehe … verstehe … verstanden! Wie mich mein Chef soeben zurecht- … freundlich drauf hinwies, handelt es sich bei Karin um ein schlechtes Beispiel … Lampen anzuschließen ist nach Maßstäben des Amtes für Differenzverwaltung keine angemessene Tätigkeit für ein Mädchen … Außerdem hat mein Chef gesagt, ich muss schneller arbeiten …

 

Die 5. Akte enthält:

  • drei Bilder des Models Andrej/Andrea Pejic als Frau

  • ein Foto von ihm/ihr nackt, ohne dass die Genitalien erkennbar wären, der Oberkörper jedoch entblößt

  • Ein Hinweis auf Videomaterial

 

Erstes Bild von A. Pejic erscheint auf der Leinwand.

 

Ein Fotomodell! Davon träumen wir Frauen doch alle, nicht wahr?

 

Zweites Bild von A. Pejic erscheint auf der Leinwand.

 

Das ist doch die junge Dame von gerade eben. Die haben wir doch schon mal gesehen. Wirklich vorbildlich weibliche Posen: der leicht geneigte Kopf und der Blick über die Schulter. Und hier nochmal der sinnliche Mund. Sie beißt sich verführerisch auf den Fingernagel.

 

Drittes Bild von A. Pejic erscheint auf der Leinwand.

 

Und sehen Sie hier: was für ein Augenaufschlag.

 

Viertes Bild von A. Pejic, nackt, erscheint auf der Leinwand.

 

Huch!!! Entschuldigen Sie. Das war nicht jugendfrei Wobei – das sind ungewöhnlich kleine Brüste für eine Frau … Oh, dieses Mal gibt es Videomaterial. Interview mit Fotomodell Andrej Pejic. Ein Moment, dafür muss ich kurz umbauen. Andrej … In welcher Sprache ist das wohl ein Frauenname? Andreji … Andrea … Anders … Andruschka … Andreas … André … Andrej … Andrej … Können Sie so gut sehen? Gut, schauen wir uns doch mal an, was die junge Dame uns zu sagen hat.

 

Wolff verwandelt sich in das Fotomodell Andrej/Andrea Pejic.

 

Tonbandaufnahme[2]

 

Tonband/Journalist:
Andrej Pejic. Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen. Sie sind momentan eines der gefragtesten Fotomodelle unserer Zeit. In dem Männermagazin FHM haben Sie es auf die Liste der 100 erotischsten Frauen geschafft. Und der Designer Jean Paul Gaultier lässt Sie in zwei seiner Modeschauen laufen: bei den Herren und bei den Damen! Nun sagen Sie, Herr Pejic, fühlen Sie sich eher als Mann oder als Frau?

 

Wolff/Pejic:
Manchmal eher männlich und manchmal eher weiblich. Viele finden mich zurzeit sicher eher feminin, aber wirklich – ich bin beides. Und fühle mich momentan sehr wohl damit.

 

Tonband/Journalist:
Wann haben Sie Ihre feminine Seite entdeckt?

 

Wolff/Pejic:
Schon als ich sehr jung war, habe ich mich für die Garderobe meiner Mutter interessiert. Und solange man ein Kind ist, finden das alle auch noch süß. Erst als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass es eine feine Linie gibt zwischen Jungen und Mädchen.

 

Tonband/Journalist:
Und dann war es nicht mehr süß?

 

Wolff/Pejic:
Nein, es war dann nicht mehr okay, dass ich mit Puppen gespielt und Make-up aufgetragen habe. So zwischen acht und zwölf Jahren hatte ich eine Zeit, in der ich mit aller Kraft versuchte, ein richtiger Junge zu sein. Aber es hat nicht sehr gut funktioniert.

 

Tonband/Journalist:
Können Sie im Kopf zwischen Frau und Mann umschalten?

 

Wolff/Pejic:
Ich weiß, welche Erwartungen an mich gestellt werden. Als Frau bin ich sinnlich und sexy. Als Mann bin ich eher – schlicht.

 

Tonband/Journalist:
Tragen Sie Kleider?

 

Wolff/Pejic:
Wenn ich ein Kleid sehe, das mir gefällt, dann trage ich es, ich habe kein Problem damit. Ich trage auch High Heels.

 

Tonband/Journalist:
Make-up?

 

Wolff/Pejic:
Nicht viel. Ich bin keine Dragqueen, will mich nicht in jemand anderen verwandeln. Ich möchte natürlich bleiben.

 

Wolff verwandelt sich zurück in Wolff.

 

Andrej Pejic? Diese Frau ein Mann? Aber auch eine Frau? Ist das denn jetzt jugendfrei? Also wenn es ein Mann ist? Aber wenn es doch eine Frau ist? Aber bei einem Mann – aber wenn’s jetzt doch eine Frau … ist … Herr Pejic, also er. Ist aber ein Frauenmodell, auch noch mit Erfolg. Ist als Junge aufgewachsen. Trägt privat High Heels. Er ist beides – und fühlt sich wohl damit!

 

Ordnung
Ordnung in die Welt
Das Amt ordnet
jeden
Menschen
Nach Maßstäben des Amtes
Solange wir nicht wissen
indieeineoderandere
Was ist wenn jetzt alle damit anfangen?
Was wäre wenn Jan nicht trainiert, sondern eine Bande falscher Jungs gründet?
Was wäre, wenn Christian wie Anna wäre, und Anna wie Christian?
Was wäre wenn alle Jungs wie Mädchen würden und alle Mädchen wie Jungs?
Was wäre, wenn alle alles sein könnten?

 

Das Telefon klingelt.

 

Mein Chef! Mein Chef!

 

Wolff ab.

 

Tonband:
Hier ist der automatische Anrufbeantworter des Amtes für Differenzverwaltung, Abteilung 723, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.

 

Chef:
Wolff! Wolff! Gehen Sie ran! Reißen Sie sich zusammen und fahren Sie mit Ihrer Arbeit fort! Da sitzen Leute und schauen Ihnen zu, verdammt nochmal. Sortieren Sie diesen Pejic jetzt einfach irgendwo ein. Die Ordnung muss erhalten bleiben! Gegen alle Widerstände müssen wir die Ordnung schützen! Solche Fälle sind eine Bedrohung für unsere Normalität! Wolff! Kommen Sie zurück! Wir können es uns nicht leisten, dass uns schon wieder ein Mitarbeiter zusammenbricht! Wolff?

 

 Kontakt: www.theaterkormoran.de

 

[1]   Hier handelt es sich um die aktuelle Einwohner_innenzahl Deutschlands und sollte daher aktualisiert oder an das Land, in dem die Aufführung stattfindet, angeglichen werden.

[2]   Das folgende Gespräch basiert auf dem Interview aus dem ZEITmagazin Nº 08/2011 mit Andrej Pejic.

Drama#1PS