Der Raum neben der Treppe

 

Bevor wir uns kennenlernten, hörten wir uns. Du mich zuerst, durch die Wand, mein Schrei war laut, unüberhörbar, ich im Laufen, im Stolpern, fiel die Stufen hinauf, lag auf der Treppe. Ich hörte sie hinter mir, sie kamen näher. Einer hielt mich am Bein fest und ich schrie wieder, schlug mit meinem anderen Bein um mich, er ließ von mir, ich weiter hinauf und eine Tür öffnete sich links am Ende der Treppe. Ich hinein. Die Tür schlug zu.
Du sagst, du würdest auf mich aufpassen und ich lache nur laut. Du bist kleiner als ich und zierlich und ich kann dich nicht ernst nehmen. Lass mal dein Bein sehen, sagst du zu mir. Du schiebst meine Hose über meinen Knöchel, mein Herz schlägt, mein Auge zuckt und ich hoffe, du ziehst die Hose nicht höher. Hoffe, du siehst nicht, was weiter oben ist. Am Oberschenkel, über dem Knie. Es ist nur ein Kratzer, sagst du zu mir und ich bin erleichtert, das Hosenbein rutscht zurück an den Saum meiner Socken.

Seit zwei Tagen hatte ich nichts mehr gegessen. Ein Hunger, den ich schon länger kannte. Keiner wusste, wer der Erste war. Mit wem es anfing. Ich saß sonntags mit Mutter im Wohnzimmer, wir sahen die Nachrichten, es wurde von der Krankheit berichtet. Nicht als Hauptmeldung, erst später. Nach ein paar Wochen kamen keine Nachrichten mehr, auf dem Bildschirm nur weißes Rauschen.
Mutter, Vater, mein Bruder Tobi und ich gingen weg. Meine Mutter wusste, wo im Wald die besten Beeren wuchsen. Im Herbst gab es keine Beeren mehr. Es musste passiert sein, als Mutter allein in den Wald ging. Sie kam nicht nur mit einem vertrockneten Holunderast zurück. Ich war die Einzige, die fliehen konnte. An meinem Bein nur ein Biss. Ein paar Tage später ging ich zurück. Es war nichts mehr von ihnen übrig. Ich sah Blut und ging schnell wieder weg.
Meine Hose war zerrissen und in einem verlassenen Haus holte ich mir eine neue. Davor stand ein Auto, in dem der Schlüssel steckte. Als der Tank leer war, lief ich zu Fuß weiter. Nach ein paar Stunden erreichte ich eine Stadt.
Wenn man leise ist, sich versteckt und ruhig verhält, besteht kaum Gefahr. Hunger trieb mich zu einem Supermarkt. Er befand sich in einem Einkaufscenter und ich konnte nicht durch die Eingangstüren gehen, zu viele von ihnen standen davor, also kletterte ich die Feuerleiter hinauf aufs Dach, ein Glasdach. Mit einem Stein schlug ich eine Scheibe ein, der Supermarkt unten und ich oben – vier Stockwerke zwischen uns. Ich hörte sie. Sie hörten mich nicht. Jetzt weiß ich, dass man schlechter hört, sobald man krank wird. Durch das Loch im Dach sprang ich auf den Boden des obersten Stockwerks.
Der Aufzug im Center war kaputt. Im Treppenhaus hatte ich Glück. Vor dem Supermarkt hatte ich Glück. Ich war leise und sie sammelten sich draußen vor der Tür des Einkaufscenters. Im Supermarkt war es ruhig, ein Geruch von faulem Obst und Gemüse. Maden krochen darüber. An den Wänden Werbung für Cheesecake, Eis und Leberkäse. Ich presste meinen Schal vor die Nase, lief zum Dosenregal. Es war leer und der Hunger bereits unerträglich. Ich kniete mich hin und fand im untersten Regalfach eine Dose Ravioli, drehte sie auf den Kopf und sah, dass sie abgelaufen war. Ich hörte ein Knistern, dann ein Plätschern und als ich mich aufrichtete, sah ich in die Augen eines Kranken; blutunterlaufen, ein schwarzes Starren, sein Hunger. Er streckte seine Hand nach mir aus. Ich ließ die Dose fallen, drehte mich um, rannte los, lief ins Treppenhaus, die Tür klemmte, ich hörte ihn hinter mir, hörte, dass es mehr wurden, schrie vor Verzweiflung, ich die Treppe hoch, fiel hin, einer griff nach meinem Bein, ich schrie wieder, die Tür ging auf und da hörte ich dich. Komm her! Ich wusste, dort oben war Sicherheit. Ich riss mich los und folgte deiner Stimme. Komm her. Und ich lief und die Tür schlug zu und du drehtest den Schlüssel um.

Jetzt sind wir fast drei Wochen in diesem Raum neben der Treppe, Lea und ich, hatten Glück, es ist ein Lagerraum. Hier befinden sich Massen an Dosen und Klopapier und Zigaretten und Alkohol. Auf der einen Seite gibt es ein Fenster, wir können den Himmel sehen. Wir stehen am Fenster und rauchen und trinken Wodka mit Apfelsaft. Wir essen gelben Mais mit schwarzen Bohnen, Hühnersuppe und Nudeleintopf. Deine Mutter wurde von den Kranken gefressen. Seitdem bist du allein. Dein Vater war Hausmeister in diesem Einkaufszentrum, bis die Stimmung kippte, die Kranken in der Überzahl waren. Du bist in den Raum neben der Treppe geflohen.
Die drei Wochen in diesem Raum sind die schönsten, an die ich mich erinnern kann. Ich verliebe mich nachts in dich. Wir kuscheln uns aneinander, sagen, es wäre kalt. An einem Abend sind wir zu betrunken, zu viel Wodka, zu wenig Apfelsaft und wir stehen am Fenster und rauchen nicht, küssen uns. Am nächsten Tag küssen wir uns nüchtern.
Einmal klettert eine kranke Frau die Regenrinne hinauf. Sie hat dein Lachen gehört. Du mit dem Rücken zum Fenster, ich lese dir aus einem Buch vor. Ich sehe die Frau, die mit einem Bein auf den Fensterrahmen steigt, ich werfe eine Dose nach ihr. Wir hören, wie sie unten im Hof aufprallt.
Ich zähle die Tage und warte. Morgens rote Beete aus dem Glas, mittags Sauerkraut und abends Apfelmus. Ich weiß nicht, wie lange die Inkubationszeit ist. Bei meiner Mutter dauerte es nur vier Stunden. Du willst mehr als Küssen und ich will es auch, aber ich will nicht, dass du meine Wunde am Oberschenkel siehst.
Ich zähle und warte und frage dich nach dem Schlüssel für die Tür. Seitdem ich im Raum neben der Treppe bin, habe ich keinen Hunger mehr. Die Vorräte werden reichen, noch für mindestens ein halbes Jahr. Es ist leicht, dich davon zu überzeugen, mir den Schlüssel zu geben, du verlegst ihn immer wieder und ich sage: Bei mir ist er sicher. Ich werde ihn immer in meiner linken Hosentasche tragen.

Eines Abends reichst du mir die grünen Bohnen aus dem Glas. Ich esse sie stockend, würgend. Du bemerkst es nicht. Ich spucke die Bohnen in die Ecke hinter das Klopapier.
Als ich aufwache, habe ich Hunger. Du liegst neben mir, deine langen, rostbraunen Haare auf meinem Gesicht duften nach Spaghetti Bolognese. Du schläfst. Deine Nase schmeckt bestimmt nach Himbeeren und dein Bauch riecht wie der Apfelstrudel meiner Mutter. Du wachst auf, als ich mit dem Gesicht über dich gebeugt bin. Ich habe mich unter Kontrolle. Meine Mutter hatte sich nicht unter Kontrolle. Ich habe mich unter Kontrolle. Ich habe Hunger, und als du mir die Dosenravioli mit Hühnchengeschmack und extra Käse anbietest, schüttle ich den Kopf. Du zuckst die Schultern, ignorierst das und ich rauche, um mich abzulenken. Wir unterhalten uns nicht. Ich lese dir nicht aus dem Buch vor. Ich habe Hunger. Ich merke, wie meine Stimme verschwindet. Ich schaue dich an, starre dich an, du fragst, was los sei und ich sage nichts. Du willst wieder mit mir schlafen. Du denkst, mein Blick bedeute genau das. Ich rauche und sage: Ich habe Kopfschmerzen.
Ich halte einen Tag aus. Nachts kann ich nicht schlafen, du liegst neben mir und ich sehe deine Schenkel und stelle mir vor, sie schmecken nach Entenbrust. Ich weiß nicht, wie die Welt um uns aussieht. Meine Erinnerungen an früher verblassen.

Am nächsten Tag wachst du auf und fragst mich nach dem Schlüssel. Ich sage: Ich trage ihn immer bei mir. Mach dir keine Sorgen. Du reichst mir Ananasscheiben zum Frühstück, ich nehme sie nicht und da weißt du es. Die Ananasscheiben fliegen auf den Boden. Du läufst zur Tür, sie ist verschlossen. Du fragst: Seit wann weißt du es? Ich bin schneller als du, stehe vor dir, sehe dich nicht mehr, sehe Lungenflügel und ein pochendes Herz.
Ich bin stärker als du. Ich habe solchen Hunger und ich fessle dich an den Stuhl in der Mitte des Raumes. Der Hammer liegt neben mir. Ich könnte auch aufstehen, die Tür aufsperren und rausgehen. Ich könnte dich allein lassen. Ich könnte mit den anderen zusammen auf Jagd gehen. Ich habe solchen Hunger und das Erdbeersoufflé starrt mich an. Ich klebe graues Gaffer Tape über deinen Mund, damit die Enten aufhören zu quaken. Ich lese im Buch, versuche der Pute vorzulesen. Es geht nicht, meine Stimme versagt. Versuche noch einmal, die Erbsen aus der Dose zu essen. Kein Erfolg.
Ich fange mit den Blaubeeren an deinen Händen an. Das graue Gaffer Tape tilgt deinen Schrei. Anfangs zuckst du, dann ist das Reh endlich still. Zum Frühstück gibt es jetzt Rührei mit Basilikum und Walnüssen, mittags Gulasch mit Blaukraut und Semmelknödeln, abends Quarkauflauf mit Äpfeln, Heidelbeersoße und Vanilleeis.

 

Bettina Wilpert ist Feministin, seitdem sie das erste Mal Sleater Kinney gehört hat. Sie ist Mitglied im herrschaftskritischen Jugendverband Naturfreundejugend Berlin. Andere etwaige Zusammenhänge stellen leider keinen Mitgliedsausweis aus.

Prosa#1PS