Wahre Feinde

„Na dann, bis zum nächsten Mal.“ Er zog sie kurz an sich und schob sie dann wieder von sich weg Richtung Tür. Kein Zweifel, der Zeitpunkt des Aufbruchs war gekommen. Sie wandte sich dem Ausgang zu. „Ja, bis dann.“ Es war ein Fehler gewesen, so lange zu bleiben, den Abend auszureizen, bis es kein Zurück mehr gab, kein Zurück mehr in die dämmrig-freundliche Atmosphäre der Straßenbahn, die sie wohlbehalten in die Stadt gebracht hätte. Nun musste sie hinaus in die Dunkelheit, die spärlich beleuchtete Straße hinunter bis zu … bis zum … Sie wollte nicht daran denken. Ihren Blick hing sie an den freien Haken der Garderobe, neben die bunten Regenmäntel der Kinder, die seit Stunden tief und fest schliefen. Sie lagen in ihren Betten, die weich waren und sicher. Sicher … „Ist alles in Ordnung?“ „Ja.“

Ihre Knie zitterten, als sie in die Sandalen schlüpfte und die Riemen um ihre Fußknöchel festzog. Mit diesen Schuhen konnte sie doch nicht rennen. Was hatte sie sich gedacht? Sie krallte die Finger in den Stoff der Tasche. „Hast du zu viel getrunken? Fühlst du dich nicht wohl? Möchtest Du …“ Hierbleiben, ja, das wollte sie, in eines der Betten schlüpfen und die geblümte Sommerdecke über den Kopf ziehen. Das würde er sie nicht fragen. Er war dabei zu fragen, ob er ihr ein Taxi rufen solle. „Nein, nein, es geht schon.“ Ich gehe schon, hallte es in ihrem Kopf, klopfte es in ihrer Brust, ich geh ja schon.

Auf der Straße schwammen orange Lichtflecken, trüb und uneben wie Tümpel. Sie wich ihnen aus. Lenkte ihre Schritte ins Dunkel, strich an den Zäunen und Hecken entlang. Davongestohlen hatte sie sich ja schon, nicht wahr, die Kinder und er hatten wenig von ihr. „Von mir übrig, für mich übrig, von mir, für mich, vonmirfürmichvonmir.“ Sie sprach in einen ausgehöhlten, vermoderten Baumstumpf, der vor einer der Thujenhecken stand. Sie setzte ihren Weg fort. Die Straße fiel steil ab. Die Riemen der Sandalen schnitten ins Zehenfleisch, rieben sich an den Mittelfußknochen. Sie blieb stehen. Öffnete die Riemen, schlüpfte aus den Schuhen und nahm sie in die Hand. Die zähe Wärme unter ihren Fußsohlen war unangenehm. Sie ging schneller. Klebrig und uneben war der Boden. Sie stolperte. Fing sich wieder, ihr rechter Fuß prallte hart auf den Asphalt. Ein Kieselstein bohrte sich in den Fußballen. Sie hob den Fuß, wischte mit der Hand über die Sohle. Der Stein fiel zu Boden und rollte in das schlammige Licht einer Straßenlaterne. Ein Taxi … Wut ballte sich in ihrer Brust, scharf und bitter kroch sie die Speiseröhre hinauf. Als ob er es nicht wüsste. Womit sollte sie das denn bezahlen? Er würde nicht für sie bezahlen, denn schließlich war sie es, die im Rückstand war. Seit Monaten hatte sie keinen Unterhalt für die Kinder bezahlt.

Irgendwo heulte ein Motor auf. Wenn nun ein Auto diese Straße entlangkäme und sie mitnehmen würde, mit hinunter in die Stadt … Schnell schlüpfte sie wieder in die Sandalen. Lauschte, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war. Von dort oben … Sie wandte sich um. Blickte die Straße hinauf. Ein Lichtkegel huschte durch die Siedlung, ein gleichmäßiges Brummen kam näher. Sie trat mitten auf die Straße, wartete, bis sie im Scheinwerferlicht stand. Da war nur ein Licht …

Das Motorrad schlängelte sich an ihr vorbei. „A Wahnsinnige“, hörte sie den Fahrer fluchen. Sie ging weiter. Das Scheinwerferlicht verlor sich in der Dunkelheit, die vor ihr lag, am Ende der Straße. „Vor mir“, sagte sie laut. Sie musste nun daran denken, dass sie nicht sicher war, ob sie den Spray eingesteckt hatte. Sie riss die Tasche von ihrer Schulter. Wühlte darin, warf Geldtasche, Telefon, Taschentücher auf die Straße. Stülpte das Innenfutter nach außen. Eine Schachtel Hustenbonbons, einige Streifen Kaugummi, ein zusammengefalteter Einkaufsbeutel kamen noch zum Vorschein. Der Spray allerdings … Sie setzte sich auf die Straße. Die zähe Wärme kroch unter ihr Kleid. Wie sollte sie ihren Weg nun fortsetzen? Sie wusste, dass sie unten im Dunklen lauerten, hinter den Büschen, sie waren immer da, sie waren so viele. In den letzten Jahren war es immer schlimmer geworden, immer mehr kamen, irgendwoher aus dem Süden, aus versumpften und versandeten Gegenden.

Was konnte sie denn dafür, dass nicht alles so gelaufen war, wie sie sich das vorgestellt hatte, damals. Sie hatte nicht mehr so weitermachen können, dort oben im Haus, die Eintönigkeit, die Erschöpfung, die Tage vollgeräumt, aber nicht ausgeschöpft, nicht erlebt, sondern ertragen, schließlich kaum noch ertragen und dann. Wenigstens das hatte sie geschafft, mit den Tabletten hatte sie aufgehört, schneller, als es ihr die meisten zugetraut hatten.

Es war nicht so schwierig gewesen, niemand kannte sie in der Stadt, und der Weg in die Tagesklinik, ja, der war schön. Jeden Tag war sie hinausgefahren, zuerst durch die Gassen, dann durch das Grüne, in dem keine kleinen Häuser standen, die sich hinter Hecken und Zäunen duckten und im Dunklen ihre Farbe verloren, nein, große, prächtige Häuser standen dort, hell erleuchtet bis spät in die Nacht. Feste wurden dort gegeben, Menschen standen in schönen Kleidern auf den Terrassen und hielten langstielige Gläser in gepflegten Händen. Ein paar Mal hatte sie sich dazugestohlen, hatte sich unter die trinkenden und plaudernden Terrassengäste gemischt. Das waren jene Tage gewesen, an denen sie schon in der Klinik Komplimente bekommen hatte. Sie hatte sich sorgfältig gekleidet, hatte ein dezentes Kleid oder einen schmalen Rock und eine weiße Bluse angelegt, sich die Haare gekämmt und hochgesteckt. Sie hatte sogar gelernt, den dünnen Stiel der Gläser zwischen Daumen und Zeigefinger zu klemmen, den Mittelfinger locker abzustützen und die beiden anderen, den Ring- und den kleinen Finger, abzuspreizen. Der Wein war schwer gewesen und süß und sie hatte nicht aufhören können, ihr langstieliges Glas zu füllen. Die Übelkeit hatte ihr zu schaffen gemacht, zwischen den Gästen war sie umher gewankt, nicht mehr in der Lage, den Ausgang zu finden. So war sie aufgeflogen. Die Gastgeber hatten darauf verzichtet, die Polizei zu rufen, sie hatten sie in ein Taxi gesetzt und das sogar bezahlt. Zeigen durfte sie sich aber nicht mehr auf dieser Terrasse.

In dieser Straße hier gab es keine prächtigen Häuser, die zu dieser Stunde noch hell erleuchtet waren, es gab keine Terrassen, auf denen Menschen in schönen Kleidern standen, zu denen sie sich hätte gesellen können. „Ge–––sell–––schaft“, presste sie hervor, „in guter Ge–––sell––––schaft“. Das Kleid, das sie heute trug, das dunkle mit den blau-grünen Kringelmustern, das hätte doch auf eine solche Terrasse gepasst.

Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte hier nicht sitzen bleiben, sie konnte hier nicht die restliche Nacht verbringen und darauf warten, dass es hell wurde und die in den Büschen verschwunden waren. Sie sammelte die Dinge ein, die sie auf der Suche nach dem Spray auf die Straße geworfen hatte. Ließ die Geldtasche, das Telefon, die Taschentücher, die Schachtel Hustenbonbons, die Streifen Kaugummi und den zusammengefalteten Einkaufsbeutel wieder in ihrer Tasche verschwinden. Nur der Spray war nicht da.

„Hau ruck“, sagte sie und stemmte sich in die Höhe. Streckte die Knie durch, klopfte den Straßenstaub von ihrem Kleid. Wenn sie nicht die Abkürzung nahm, sondern auf dem befestigten Weg blieb, vielleicht würden sie dann nicht angreifen. Vielleicht aber kam auch ein Auto des Weges, zufällig, und nahm sie mit. Dann wäre sie in Sicherheit, wobei man ja nie weiß, wer um diese Zeit in einem Auto sitzt. Selbst in den Taxis konnte man nicht sicher sein, nicht ganz sicher. Trotzdem wäre sie gerne mit dem Taxi gefahren, das konnte sie sich aber nicht leisten, und er hätte nicht bezahlt, nicht wie die Gastgeber damals auf der Terrasse. Vielleicht hatte sie zu wenig getrunken, war zu wenig geschwankt. Er hatte ihr immer nur wenig eingeschenkt in dieses gedrungene Glas ohne Stiel. Noch immer war er nicht ganz überzeugt davon, dass sie es wirklich geschafft hatte, von den Tabletten loszukommen. Das mit dem Geld war ein Problem, das sah sie ein, aber momentan … Was sollte sie tun? Sie versuchte es doch, und war es denn ihre Schuld, dass nicht alles so lief, wie sie sich das vorstellte?

Es blieben nur noch wenige Schritte, bis sie in die Dunkelheit eintauchen würde. Das dichte Blätterwerk würde über ihr zusammenschlagen, und dann würde sie alleine sein, allein mit ihnen, die in den Büschen lauerten und ihren Angriff vorbereiteten. Von irgendwoher kam ein hoher, klagender Schrei. Gleich darauf ein Fauchen, das sich in den Gehörgang krallte. Sie presste die Hände auf ihre Ohren. Hörte das Blut rauschen. Ihr Blut, das wollten die doch, danach gierten sie, das war ihre Art. Das Kleid war zu dunkel, zu auffällig, das würde sie anlocken, würde sie aus ihren Verstecken herauslocken.

Hatte es nicht einmal eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der sie dieses Stück Wald sorglos und freien Herzens durchschritten hätte? Eine Zeit, in der sie sicher war, sicher, dass alles gut gehen würde? Vielleicht in ihren Kindheitstagen? Vielleicht als sie in den Augen ihrer Kinder noch alles gewesen war? Wann war nicht mehr sie gemeint gewesen, sondern ihr Nachkommen? Nicht mehr sie, nur noch das, dem sie nachzukommen hatte, nachzueifern, nachzuprüfen, nachzu … um zu … Schon lange bevor sie mit den Tabletten begonnen hatte, war der Boden unter ihren Füßen weggerutscht. Niemand hatte es bemerkt. Sie schwamm, sie war verschwommen. Auch auf den Terrassen war nicht sie gemeint gewesen, aber sie hatte dort gestanden, mit dem langstieligen Glas in der Hand, unbekannt, leicht gestreift nur von Blicken, die an ihr abperlten. Niemand dort wusste von ihrem Entzug, von ihm und den Kindern, von dem Haus, das sich hinter eine Hecke duckte und im Dunklen seine Farbe verlor. Sie war frei gewesen.

Jetzt war sie nicht frei. Jetzt war ihr übel, ohne dass sie von dem schweren süßen Wein getrunken hatte. Jetzt musste sie durch diesen Wald hindurch, an denen vorbei, hinunter in die Stadt, in ihre Wohnung, die eng und verlassen am Ende der Gasse lag, mit den zwei Fenstern zum Hof, wo die Mülleimer standen. Diese Wohnung tat ihr Bestes, damit sie sich sicher und behaglich fühlte. Wie gerne wäre sie jetzt dort, doch sie hatte sich wieder auf den Weg machen müssen, hinaus aus der Stadt, um den Mann und die Kinder zu besuchen, die ihre Familie gewesen waren. Wie stolz er war, dass er ihr dieses Besuchsrecht einräumte, obwohl sie ja seit Monaten keinen Unterhalt mehr bezahlte. Dieser Besuchspflicht kam sie nach, nicht immer pünktlich, aber regelmäßig, immerhin.

Der Weg schlängelte sich durch den Wald. Gusseiserne Laternen warfen Lichtinseln auf den Asphalt. Dahinter ballte sich die Dunkelheit. Sie wich ihr aus, so gut es ging. Beschleunigte ihre Schritte zwischen den Laternen. Umklammerte den Gurt ihrer Tasche, in der sich der Spray nicht befand. Der Spray, mit dem sie sich hätte verteidigen können. Das Kleid war zu dunkel, zwischen den Lichtinseln schaukelte es wie ein schwarzes Loch, das alles an sich zog. Sie aber rotierte nicht, sie ging zielstrebig, den Kopf halb gesenkt, wollte nicht sehen, nicht hören, wie sie hinter den Büschen auftauchten. Verteidigen würde sie sich, ja, das schon, zu ihrer Verteidigung war sie bereit, war sie immer schon bereit gewesen.

Als sie beim Richter gewesen waren, hatte sie auch ein dunkles Kleid getragen, ein einfarbiges, schlichteres. Sie wollte seriös wirken, abgeklärt und untadelig, doch das Zittern hatte sie damals noch nicht im Griff gehabt. Ihre Stimme hatte ebenso gezittert wie ihre Hände, ihre Knie. „Ja, sicher“, hatte sie damals gesagt, mehrmals, mit Nachdruck. Der Richter hatte verständnisvoll genickt. Er aber hatte ihr einen schnellen Blick zugeworfen, den sie am liebsten zurückgeschleudert hätte, doch auch ihre Lider hatten zu zittern begonnen. Mit flatternden Augenlidern war sie dagesessen und hatte die Papiere unterschrieben, hatte zur Kenntnis genommen, dass er und die Kinder im Haus bleiben würden, während sie sich eine neue Wohnung suchen musste.

„Sicher. Sicher!“ Sie schrie die Dunkelheit an. Ihre Stimme zitterte nicht, doch ihre Knie waren ganz weich. Überall hier lauerten sie. Wozu es die überhaupt gab, was die hier verloren hatten, in diesem Wald, auf dieser Welt, das konnte niemand sagen. Schmarotzer waren die, eine Plage, wer wollte sie schon?

Leichter Wind kam auf. Sie fröstelte. Zugluft mochten die nicht. Wenn jetzt ein stärkerer Wind aufkäme, dann wäre sie gerettet. Doch schon stand die Luft wieder still. Kein Windhauch mehr, nur Zirpen, da und dort ein Rascheln. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Weg durch den Wald war noch weit. Die Riemen ihrer Sandalen rieben an den Knöcheln. Mit diesen Schuhen konnte sie doch nicht rennen. Was hatte sie sich gedacht? Sie umklammerte den Tragegurt. Abgenutzt und rau war der. Lange hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, wegzugehen, jedes Mal, wenn sie eine Tablette aus dem Blister gelöst hatte. Gelöst … Neben ihr plätscherte es. Dort hinten lag der Teich. Den mochten sie besonders, dort hielten sie sich am liebsten auf. Zwischen den Büschen und Halmen warteten sie, um loszuschwärmen, um sich auf diejenigen zu stürzen, die nicht vorbereitet waren. Die keinen Spray mit sich führten. Die ersten spürte sie im Rücken. Sie fuhr herum. Sie schlug zu. Es war nichts zu machen. Sie fielen über sie her, stachen sie, wohin sie nur konnten. Sie riss die Riemen ihrer Sandalen auf, nahm die Schuhe in die Hand, lief los. Wenn sie nur schon zu Hause wäre, in ihrer Wohnung mit den zwei Fenstern zum Hof, in ihrer engen Wohnung, die ihr Bestes tat, damit sie sich sicher und behaglich fühlte, in der der Spray stand, der sie jetzt hätte beschützen können, und in der die Salbe lag, mit der sie die Mückenstiche versorgen konnte. Diese Wunden, wenigstens, ließen sich heilen.



Lektorat: Yael Inokai und Olivia Golde

Prosa#7PS