Wörterbuch der unübersetzbaren Wörter
Опърничав*
Alle mochten Tanja, ja, wir alle liebten sie. Schon damals war das erstaunlich, denn zu Hause fanden wir sonst kaum einen gemeinsamen Nenner. Die Freund_innen meiner Geschwister fand ich zu diesem Zeitpunkt richtig doof. Sie redeten über Blödsinn, statt mit mir zu spielen, als Nesthäkchen nahm ich ihnen das übel. Lange Zeit lebte ich in dem unerschütterlichen Glauben nicht nur Verwandte, insbesondere Geschwister und Cousinen, sondern auch die meisten Menschen seien mit dem Zweck erschaffen worden, mir lustige Spiele beizubringen. Blöd genug, dass sie alle erheblich älter waren, aber solange sie spannende Geschichten erzählten, mich ins Kino oder zu Partys mitnahmen, mir aufmerksam zuhörten und überhaupt die Zeit gut zu verbringen wussten, war ich großzügig und sah darüber hinweg.
Die Menschheit war offenbar über den Lauf der Dinge in Kenntnis gesetzt und so lebten wir glücklich miteinander.
Dann, ohne jegliche Vorwarnung oder Übergang, fand ich mich in der unbekannten und reichlich unbequemen Rolle der kleinen, potenziell lästigen Schwester vor. Eine Ungerechtigkeit, denn das waren bis gestern noch meine Kumpels. Aufs Verrecken hätte ich nicht verraten, wer schon seine erste Zigarette intus hatte, wer mit wem schmust oder wer die Schule schwänzt. Auch wenn ich das alles hautnah mitkriegte, ich war ja immer mitten drin. Ich glaubte noch fest daran, zwischen uns herrschte ein unerschütterliches Vertrauen und Zuneigung, aber ein Teil der gemeinsamen Realität fing merklich an zu bröckeln, sich zu verflüchtigen und zu entgleiten. Das Nuscheln, Flüstern und Tratschen versiegte jetzt plötzlich, ehe ich das Zimmer betrat. Man redete mich mit dieser hohen Stimme an, die als freundlich galt, deren piepsigen Unnatürlichkeit mir aber ins Ohr pfiff. Der Tonfall änderte sich so abrupt, dass ich manchmal schon an der Tür stolperte.
Die Freund_innen meiner Geschwister wurden mächtig fad. Wie man das den ganzen Tag mit denen aushielt, wollte ich gar nicht wissen. Irgendwann erkundigte ich mich, was meine Eltern von weiteren Geschwistern hielten, und nachdem das Familienleben wenig Aufregendes zu versprechen schien, verschob ich meine Interessen generell auf die Schule. Ungefähr zu dieser Zeit muss Tanja zu uns gekommen sein.
Ich würde sagen, ich war nicht älter als sechs, als Tanja auftauchte, so kindisch sind alle meine Erinnerungen mit ihr. Doch wenn man es ausrechnet muss ich zugeben, ich war schon mindestens zehn.
Vor dem geistige Auge се бутат stupsen sich, wie am Schulhof, nie geknipste Bilder, in der Optik einer analogen Laika gehalten, etwas rotstichig. Dass Erinnerungen so tun können, als wären sie im Studio entwickelt!
Ich sehe die ausziehbare Couch im Wohnzimmer, ihr Gerüst aus hellem Holz, mich, die krank darauf liegt, von Lieblings-Spielzeug umgeben, an der Kante sitzt Tanja…
Und schon spukt die deutsche Sprache in meinen Kopf, denn in meiner Muttersprache existiert das Wort für Spielzeug sowohl im Singular als auch im Plural. Es ist ein freundliches, verspieltes Wort, das sich lustig reimt. „Spielzeug“ aber hört sich anders und verdächtig nach Einzahl an. Wie soll ich das machen, ich kann doch nicht in meine Kindheitserinnerung so etwas wie „Spielwaren“ importieren. Nein, das soll den Spielwarengeschäften vorbehalten bleiben. „Spielsachen“? Das wäre ein Kompromiss. Aber ein fauler, denn es waren keine Sachen, sondern meine Freunde.
Oder soll ich jetzt an meiner Erinnerung herumpfuschen und nur ein Spielzeug hinstellen? Nein, das geht auch nicht, wenn ich krank war, brauchte ich die alle. Und wenn es nur ein Spielzeug wäre, wie kann ich dann von Tanja erzählen… Das Wort lässt mich nicht los. Rettung suchend schaue ich im Duden nach und voilà – „das Spielzeug“ steht nicht nur für Gegenstand zum Spielen für Kinder, sondern auch für die Gesamtheit von Spielzeugen. Seufzend atme ich tief aus und schließe den Tab. Doch es ist zu spät, im rechten Augenwinkel war sie zu sehen, die Tabelle mit der Grammatik, wo neben „das Spielzeug“ ein Plural zu sehen ist – „die Spielzeuge“. Wie jetzt? Denn wenn die Einzahl für die Gesamtheit steht, braucht man keine Mehrzahl, und wenn die Mehrzahl verwendet wird, braucht die Einzahl nicht für mehr zu stehen.
Tanja, bist du noch da? Mein Kopf fängt zu rauchen an, die Erinnerung ist dabei, sich zu verabschieden, und da springt es vor, das grüne, lächelnde Frosch aus meiner Kindheit. In den russischen Märchen immer weiblich, bei den Grimms immer männlich, hatte mein Frosch keine Mühe, nach Belieben sein Geschlecht zu wechseln. Da ist es – mit samtig-pelzigem Körper, der mich mit allen Kröten der Welt versöhnt hat, namenlos, immer in stabiler Hocke, unverwüstlich und gut drauf. Und – ja, längst vergessen! Es ist kein Schreibtischtrick, für einen Augenblick öffnen sich die geisterhaften Labyrinthe des Erinnerns – in denen plötzlich etwas da ist, von dem man gar nicht mehr wusste, etwas, das man nicht vermisst hat, aber jetzt, jetzt fragt man sich, wie es möglich war, es zu verlieren, es zu vergessen.
Das samtige Spielzeug-Frosch aus meiner Kindheit ist entkommen und wieder da, schützend an meine Seite, denn Erinnerungen – vergessene, ausgeliehene oder erfundene – sind stachelige Wesen.
*Adjektiv, häufig verwendet. Widerspenstig, eigensinnig, опак, своенравен