PAPA LIEBT DICH

 

Let the blood come out to show them Teil 3

„Du weißt, worüber du schreiben möchtest,
und am Ende landest du immer bei deiner Mutter.”

Sasha Marianna Salzmann

 

Sie. Haben zwei achtzig für die Fahrt bezahlt – sitzen seitdem auf der Bank. Die Königinnen. Die Viele. Neun an der Zahl.

Ich. Sitze. Vor ihnen. Nach einer langen Nacht. Mit dir.

Du. Wahrscheinlich schon zuhause, mit Papa, sitzt auf deiner Seite des Sofas, während er auf seiner sitzt. Du hast eine kleine Decke über den Beinen liegen, spielst ein Onlinegame auf deinem Smartphone. Gehst davon aus, dass gegen 20:30 Uhr „PAPA LIEBT DICH“ auf der Bühne gezeigt werden wird – Abendessen hattest du schon. Nachdem Papa im Bett ist, nimmst du dir noch einen Teller, und verschlingst ihn in der Dunkelheit, im Stehen, alleine, vor der Küchenzeile. Ich werde dir nie erzählen, was ich über dich geschrieben habe, und wenn du fragst, werde ich dir erklären, dass die Mutter im Stück eine Metapher für Heimat ist.

Er. Sitzt auf seiner Seite des Sofas. Sein Smartphone lehnt an einem der Kissen, sein Ipad liegt in seinem Schoß, seine Augen sind auf den Fernsehbildschirm gerichtet. Bald wird er dich bitten und du wirst ihm eine Flasche Cola bringen und ein Glas. Er wird die halbe Flasche austrinken und rülpsen. Ich frage mich, ob ihr zwei, wenn er es jetzt tut, immer noch so lacht wie wir früher.

Wir. Haben nie existiert.

Ich.

Ihr.

 

Wenn ein Zug fährt, volle Fahrt, eine Richtung.
Und der menschliche Körper.
Sitzt drin,
regungslos,
wird von A nach B transportiert,
starrt auf
die Zeit und den Raum,
die vorüberziehen vor
seinen Augen.
Der Fahrer ist weit weg.
Keine Antwort.
Der Zug schießt durch den Tunnel
wie ein versehentlich verschluckter Ring, der durch die Kurven eines Darms fällt.
Stille in den Wagons.
Besonders in einem Abteil.
Früher Morgen.
Der Zug ist fast leer.
Auf der Abteilbank
sitzt eine Frau,
auf ihrem Kopf
trägt sie einen Hut,
und der Hut hat die Farbe ihres Kostüms,
und das Kostüm hat die Farbe ihrer orthopädischen Schuhe,
und die orthopädischen Schuhe haben die Farbe der drei Tücher,
die aus den Taschen ihres Blazers herausschauen.
Was kann eine Frau, mit einem Hut, der zu ihrem Kostüm passt, das zu ihren Schuhen passt, die zu den Taschentüchern passen, tun?
Was kann sie tun?
Sie
kann: sitzen.
Sie kann: starren.
Nach vorne.
Auf ihre eigene Reflektion. Auf die dunklen Fenster vor ihr. Vor ihr,
eingefasst in ihre sich spiegelnde Silhouette,
sitze, in echt,
ich.
Sitze.
Alleine.
Vor Frau Hut,
vor Oma Kostüm,
und so früh ist dieser Morgen,
und sehr lang war die Nacht,
und ich hefte meinen Blick an sie,
und ich wende meinen Blick ab von ihr,
und ich erhebe meinen Blick,
und ich bewege meine Augen,
und ich rolle mit den Augen,
und ich schließe meine Augen,
und ich öffne sie wieder,
und vor mir sitzen jetzt zwei. Zwei Omahüte husten ab, simultan, husten in ein, zwei, drei Tücher, in drei Farben, umklammert von drei Handpaaren, ja vor mir sitzen vier Damenkostüme, eines neben dem anderen neben dem anderen neben noch einem, und die Kostüme passen zu den Armreifen, und die Armreifen passen zu den Strumpfhosen, fünf Paar Strumpfhosen, ein-zwei-sechs-neun Hüte und Gürtel, in einer Reihe, auf der Bank.
Neun Kostüme.
Kostüme von der Sorte, wie sie die Königin von England trägt,
die Königin von England,
Elizabeth,
wie ist ihr Name, Queen Elizabeth.
Queen Elizabeth.
Was macht die eigentlich,
was ist ihr Job,
was macht eine Königin überhaupt.

 

Zwischen uns: der Abteilflur.
Von Zeit zu Zeit
kommen Personen durch den Wagen.
Jede von ihnen bleibt kurz stehen, grinsend, beim Anblick des Spektakels.
Sie finden das wahrscheinlich alle ziemlich ,Pop‘,
irgendwie zeitgemäß:
Neun Königinnen, eingepfercht in eine eiserne Blase aus Leben, dutzende Meter unter der Erde,
aneinander gedrängelt, Hüften und Schultern –
ignorieren
eure Blicke.
Ich sehe euch trotzdem.

Die dunkle Mitte.
Die dunkle Nacht der tiefen Mitte einer Geschichte.
Der Beginn der Fahrt liegt weit zurück. Unerreichbar.
Und das Ende ist nicht in Sicht.
Sicher. Aber verborgen. Man kann volle Fahrt reinrasen, ohne es überhaupt kommen zu sehen.
Eine Fliege, die auf eine Glasscheibe knallt.

Enden kommen erst, wenn sie wollen.
Endstationen auch.
Und wenn diese Endstation näher kommt, wird sie als kleines Licht in der Ferne zu sehen sein, das ankündigt, dass der Tunnel vorbei ist. Und es ist ein absolutes Klischee, natürlich, aber so wird es anfangen: ein Licht. Im Dunkeln. Undsoweiter. Undsoweiter.
Von diesem Moment an wird, je mehr sich der Zug dem dünnen Lichtstrahl nähert, das Licht größer werden. Nichts Dramatisches, einfach simple Mathematik: Je näher man einem Objekt kommt, desto größer wird es. Und tatsächlich wird der Zug, wenn er schließlich zum Stehen kommt, vor einem großen Lichtfeld stehen, dreimal größer als der Zug selbst.
Und es wird kein regulärer Halt sein, keine normale Zugstation. Nein. Es wird ein riesiger, quadratischer, leerer Rahmen sein.
Ein Bildschirm.
Ein Bild.
Ein Monitor,
der am Ende eines langen, schwarzen Schlauchs steht.

Und würdet ihr eurenKopf in Richtung des Monitors vorschieben und warten – läuft von rechts,

seht Ihr, eine langhaarige Frau ins Bild.
Und die Frau, die fährt ihr Fahrrad. Das Rad ist so rostig, dass man die Kette klappern hören kann. Die Schienbeinmuskeln der Frau sind geschwollen und glänzen in der Sonne, ja, die Sonne ist auch im Bild, und hinter ihr, auf dem Gepäckträger, Beine über Kreuz, sitzt ein Mann. Kichernd, aufgeregt, umarmt er ihre Taille von hinten, während sie – ruhig und konzentriert – weiterfährt und vorwärts fährt, und es ist nur sie in diesem quadratischen Bildrahmen am Ende des Tunnels, es ist sie und es ist sein Lachen, das von weit herrollt. Und ihr seid es. Die ihnen zuschauen, wenn ihr es bis hierhin geschafft habt. Und ich bin es auch.
Die Frau auf dem Fahrrad fährt durch das Bild, durchkreuzt es in seiner Mitte und an einem Punkt – verschwindet sie. Vielleicht hat sie bemerkt, vielleicht nicht, dass hinter ihr eine ganze Herde Frauen kommt. Die fahren auch Fahrrad, und jede von ihnen transportiert einen jungen, errötenden Mann hinter sich, der ihre Taille umarmt, sie umklammert, um nicht zu fallen, und als sie alle an einer riesigen Kreuzung abbiegen, legen sich die Frauen mit ihren Rädern scharf in die Kurve, und das Bild faltet sich auf, streckt sich und öffnet sich und wird dreidimensional und alle Frauen winken mit ihren Händen einer hochgewachsenen Frau zu, die an der Kreuzung steht und wartet, dass die Ampel umspringt. Die Frau grüßt herzlich jede einzelne Radfahrerin, die vorbeifährt, und nachdem sie alle verschwunden sind, streckt sie ihre große, sehnige Hand nach hinten, um die dünnen, zarten Finger ihres Partners zu greifen, und wenn die Ampel auf Grün springt, wird sie ihn durch die brummenden Straßen führen, während er hinter ihr herspringt und rennt und versucht, ihren riesigen Schritten zu folgen: Links, dann rechts, und rechts, dann links, und ein paar Straßen weiter führt sie ihn über die Leute und über die Straßen und über den Lärm hinaus – und er folgt ihr, mit verträumten Augen, immer einen halben Meter hinter ihr, weil er nie besonders gut mit der Orientierung war und sie, sie liegt niemals falsch, und so landen sie schnell und zielgenau am Ufer des Kanals, und sie umarmen sich heftig, weil sie beide verstehen, dass sie sie dorthin gebracht hat, wo der Sommer seine besten Tage feiert, wo von überall her Euphorie kommt, dorthin, wo sich alle bewegen und leben und in der Luft zusammenprallen wie schwindelige, verknallte Käfer, Gras und Wasser und Marmelade, und das Wasser schimmert in der Abendsonne, und entlang der Wasserlinie rennt eine Gruppe schwergewichtiger Boxerinnen mit Sport-BHs in allen Farben und singt zum gemeinsamen Rhythmus ihrer Füße und mit jedem Aufprall ihres riesigen Fußes auf dem Boden erbebt der Boden ein wenig, und die Bäume zittern ein wenig, und die Vögel über ihnen werden ein wenig panisch und schwirren um sie herum, und bilden erstaunliche Formationen von Vogelschwärmen am Himmel, wie Sand, der seine Anordnung durch Trommelschläge verändert, und Trommeln, und Trommeln, und Frauen versammeln sich zu großen und kleinen Kreisen ringsherum, bejubeln und beklatschen die Breakdance Girls in der Mitte, feuern die leicht- und schwergewichtigen Ladys an, die im Wasser miteinander ringen, brüllen vor Freude, während überall nackte Kinder sind, in der Luft um sie herum schweben, flirrend wie fliegende Löwenzahnpollen, und ab und zu finden sie ihre Mütter und verfangen sich in ihrem Haar und ziehen sie, lachend, ins Wasser, und die Mütter, die Mütter antworten mit einem spontanen Überschlag luftwärts, und schießen wie langgezogene Pfeile ins Wasser, schmeißen ihre nassen BHs in hohen Bögen auf die Bank und schwimmen in kräftigen, kraulenden Zügen, ihre Haut glänzt in der Sonne wie die schimmernden Rücken freier Wale im Herzen des Ozeans, während die wenigen Väter am Ufer kleine Ferngläser an die Kinder verteilen und sie alle zusammen ihre Mütter bei ihrem Wettschwimmen beobachten, und sie bejubeln sie und sie vermissen sie sehr, aber sie müssen geduldig warten, bis ihre Mütter zurückkommen, nass und triefend, ihre Haare und ihre Haut schüttelnd wie riesige, nasse, weibliche Pferde, und von allen Seiten wird der Applaus lauter und lauter, von allen Seiten schwillt der Applaus, und würdet ihr zur Seite schauen, würdet ihr sehen, dass alle um euch herum aufgestanden sind, groß und aufrecht und leuchtend wie ein Feld Sonnenblumen, die ihre Köpfe zum Himmel drehen, weil am obersten Rand des Bildes eine lange, schwarzbärtige, nackte Frau die Luft durchschneidet wie ein Düsenflieger, und sie könnte Gott sein, aber wir können Gott jetzt wirklich mal beiseite lassen, über Gott können wir wirklich bei anderer Gelegenheit reden, weil jetzt, in diesem Bild, durchkreuzt eine schwarzbärtige, nackte Frau den Himmel mit einem Röhren, und sie überschlägt sich am Himmel und stößt Donnerschreie aus, und bis sie aus ihrem Sichtfeld verschwindet, werden sie nicht aufhören, ihr zu winken, Stunden werden sie so verharren, leuchtend, alle zusammen, oberkörperfrei, Nippel in allen Farben blitzen wie glückliche Sterne und sie tanzen und tanzen, werfen ihre Körper in die Luft, für sie, füreinander, für alles, sich drehend in endlosen Sufi-Kreisen, langes Haar schlenkert aus ihren Achselhöhlen wie hungrige, tropfende Zungen, und Schamhaar schießt zwischen ihren Beinen heraus wie Feuer aus Löwenmäulern und um jede Frau, die unter dem Himmel tanzt, ist jemand, der an ihrem Nacken und ihren Lippen saugt, deshalb sind alle Frauen übersäht mit Liebespunkten: Pinke und rote und schwarze Lippenstiftleopardenpunkte, alle nackten Körper am See sind voll davon, und die lieblichen Laute, die das Bild umgeben, bewegen die starken, weiblichen Körper von innen und außen, Pathos ist hier absolut willkommen, willkommen Tränen und willkommen Heulen, willkommen zitternde Innereien, willkommen, und die Sonne ist so soft und die Sonne, die ist schon nah am Untergang und wie eine Katze räkelt die Sonne sich zwischen den Brüsten der Frauen, zwischen ihren Kurven, rollt und rubbelt ihre Strahlen wie eine letzte, kleine Massage auf ihren gebräunten Rücken zum allerletzten Mal. Und das ist das Zeichen, sich langsam zu lösen: Die Männer tragen die warmen, schläfrigen Kinder auf ihrer Brust und die Frauen laufen nebeneinander, Arm in Arm, Schwestern, und ihre schweren Brüste hinterlassen eine Spur im Sand, als sie gehen, einander Poesie und Philosophie vorlesend, Jaworte sind der Sound, sind das Laute, sind das Lachen –

 

Zugnewsticker, Zugschlagzeilen

Was hat eine alte Frau zwischen den Brüsten, was eine junge nicht hat. Einen Nabel. Werbung, Werbung, was haben eine 80-jährige Frau und ein 14-jähriges Mädchen gemeinsam. Sie wollen beide aussehen wie 20. Ende der Werbeunterbrechung, wie nennt man den Gynäkologen einer Großmutter. Archäologe –

Und – am Ende ist es ein Bild. Und dieses Bild ist eine Haltestelle, eine Endstation. Und es ist da, wartet, wird gezeigt, in Loops, auf diesem quadratischen Monitor weit weg von hier, oder vielleicht ganz nah – ich weiß es nicht. Enden kommen erst, wenn sie sich dazu entscheiden, das habe ich schon gesagt. Endstationen auch.

die
ganze
nacht
waren wir da. papa hat angerufen: du bist im krankenhaus, schnell, komm schnell, es ist ihr bauch, ihre nieren, steine wieder, blut im urin, sie müssen operieren, komm sofort, notaufnahme, und ich komme, mitten in der nacht komme ich, und ich renne, und ich sehe dich, dich, durch die halboffene tür, du, alleine auf einem krankenhausbett vor deiner OP, und du bist nur eine mutter von tausenden – ich weiß, und du bist nur eine mutter von millionen, die jetzt auf einem krankenhausbett sitzen – ich weiß, aber, wie soll ich das erklären, es ist meine mutter, wisst ihr, es ist meine mutter.

Züge.
Fahren immer nur vorwärts und schauen immer nur zurück.

Also, zurück jetzt. Zurück ins Abteil,
zurück zur Bank,
auf der neun Königin Elizabeths sitzen, aneinander geschnallt.
Über ihren Köpfen,
neben der Abteiltür – ein Schild mit klaren Verhaltensregeln für diese Zugfahrt:

  1. Sehen Sie einander nicht in die Augen.

  2. Ein unkontrolliertes Lächeln angesichts eines unüblichen Vorkommnisses im Abteil ist gestattet, aber versichern Sie sich, dass das Lächeln nach Maximum drei bis vier Sekunden wieder verschwindet.

  3. Hunde dürfen angestarrt werden.

Aber ihre Lippen.
Ihre Stimmen, ihre Haut,
(die Blicke)
ihr Husten, ihre feuchten Tücher, ihre kleinen Taschen,
(ignorieren die Blicke)
neun verschiedene Farben,
die ineinander übergehen,
eine graue Masse mit neun Kronen obendrauf,
und drunter,
unten drunter,
wartet die blanke Haut
cha-cha-cha).

 

Bezüglich der Schwerkraft | Alle Dinge von Masse streben zueinander

Erste Tanzstunde

(cha) Schüttelt (cha) schmeißt (cha) bewegt euch auf den Sitzen, Queens

(cha) hoch (cha) runter (cha) Arme in die Luft, Queens

Sagt HI zu eurer Reflektion

(singt)

Jetzt in die andre Direktion

(springt)

Und abwärts jetzt, zum Boden, der an eurer Haut zieht, Queens

(Gruß!)

Der Grund, der Boden, der euch zu Tode erschöpft, Queens

(Tschüss!)

Ich sehe den Boden eure Skelette nach unten ziehen, Königinnen, ich seh ihn Armdrücken spielen mit euch, nach euren Körpern fragen, nach euren Knochen (cha), nach euren Knochen (cha-cha), und ihr denkt, ihr seid ganz oben, Königinnen, aber bald wird der Boden siegen, du denkst, du bist ganz oben, Königin, aber am Ende wird der Boden siegen, ihr wisst es, ich weiß es, du weißt es. Aber, bis dann:

Kiefer auf zu!

(zack zack zack)

schweres Atmen

(klack klack klack)

reißt den ollen Mund auf

(und a cappella, alle jetzt:)

Neun Queens fliegen unter Wasser, neun Queens schwimmen unterm Grund –

 

durch
den
halb
offenen türspalt sehe ich dich an – ein gekrümmter, kleiner körper, sich selbst überlassen, wie soll ich das beschreiben, alleine in deinem körper, wie soll ich das beschreiben, eingelegt in deine angst. was ist passiert mit dir, deine eine hand kratzt die braunen altersflecken auf der oberseite der anderen, wann sind die alle aufgetaucht, mama, wie soll ich das beschreiben, durch die halboffene tür sehe ich dich, eine graue, winzige frau, auf diesem bett sitzend, wie soll ich das beschreiben, das warst nicht du.



Das Singen der Königinnen | Die Viele

Das Leben war gut zu uns,
wenn wir ehrlich sind.
Auch wenn wir immer irgendwie Angst vor der Zukunft hatten,
können wir jetzt klar zurückblicken und sagen
das Leben hat es gut gemeint
mit uns.
Wie mit
einem unproblematischen, ruhigen Schüler
den die Lehrer niemals belästigen würden.

Das Leben hat es gut gemeint. Mit mir.
Tod. Krankheit. Armut.
Probleme. Krebs. Alzheimer.
Hass. Unfälle. Verlust.
Ich war diese wohlerzogene Schülerin.
Ich war das Opfer, das den letzten Stuhl hochgestellt hat,
wenn alle anderen schon weg waren.
Die Tafel für den Lehrer geputzt hat.

Falten,
Narben.
Sie haben unsere Gesichter nicht ausradiert.
Denn das Leben.
Hat uns nicht
zerstört.

 

Wagongeschichten

18 müde Augen,
ich zähle sie,
leere hungrige Schalen.
Neun Münder,
neun Tropfende,
zerbrochene
Höhlen.
Es ist die Stille im Abteil, die das Atmen schwer macht,
oder es sind die versiegelten, dunklen Fenster,
die uns abschirmen,
Schlafbrillen.
Der Zug fliegt, 100 Kilometer pro Stunde, fliegt,
noch,
hier,
Zeit und Raum
wie eingefroren. 

mach
dir
keine
sorgen, liebling, sagst du, gut, dass du hier bist, sagst du, es ist noch niemand da, gut, dass du hier bist, hey, keine sorge, es ist ein einfacher eingriff, sagst du, sieh dich an, immer die erste, sagst du, du warst immer unsere erste. und bevor ich in den OP gehe, sagst du, werde ich dir meine zähne geben, sagst du, ich werde sie in diese kleine box tun und ich werde dir meine zähne geben, wirst du sie für mich aufbewahren, sagst du, du sagst, versprich mir, du wirst nach der OP die erste sein, die in mein zimmer kommt, sagst du, und mir meine zähne wiedergibt, dann gibst du mir meine zähne wieder, und lass deinen vater nicht hier rein, sagst du, bevor ich meine zähne nicht wieder an mir habe, sagst du, lass ihn mich nicht ohne zähne sehen.
unter dem milchig fluoreszierenden licht sehe ich:
ihre unterlippe zittert.

 

Das Singen der Königinnen | Die Viele

Unsere Beine sind beweglich.
Das ist eine Menge.

Und stimmt, dieses Bein war nie besonders bemerkenswert.
War nie extrem haarig,
oder extrem lang, oder extrem dick,
oder extrem kurz, oder extrem verletzt,
oder extrem sehnig.
Dieses Bein war normal, es war glatt.
War weiß.
Wurde nie von einem Auto überfahren,
wurde nie unter das Gewicht eines nackten männlichen Schenkels
oder mit Gewalt auf den Asphalt gepresst.
Dieses Bein wurde nie gezogen oder angehoben von Händen
– von Soldaten
– von Polizisten
– von Teenagern, die etwas von ihm wollten.
Dieses Bein war immer
relativ
geschützt.

Das Leben hat seine Nägel nicht in unseren Rücken gekrallt –
nicht in Ekstase
und nicht in Attacke.
Das Leben hat uns nicht das Blut aus der Kehle geleckt.
Wir waren nicht die Schönsten,
aber – sind auch nicht Draculas Opfer geworden.
Das Leben hat uns nicht ausgesaugt zurückgelassen.
Und das schreckliche Zeug –
war nicht so schrecklich.
Mütter,
Väter,
einfache Geschichten – wir haben ihnen nie gestattet, uns mit vollem Gewicht zu überrollen.
Das Leben war sanft zu uns
und wir dankten der Welt und vermieden extra Risiken.
Wir waren die wohlerzogenen Schüler,
unsere metaphorischen Schulhefte waren perfekt,
wir kamen vorbereitet in dieses Klassenzimmer
und waren es Tag für Tag,
pünktlich,
wir waren gewissenhaft.
Stimmt, nie in der Rolle der Brillanten,
wir waren nie die Akademiker, die Berühmten, der Professor, der Künstler, der Autor,
aber hatten kein Problem damit.
Weil das Leben.
Hat sich gekümmert.

 

Und der Hauptheld: das ausgestellte Fleischl Kaddish

Und die Stille im Abteil
(sie atmen sie aus, ich atme sie ein)
Schwer zu atmen im Abteil
(sie atmen sie aus, ich atme sie ein)
Neun Königinnen
(meine neun Queens)
Starren auf ihre Haut
(meine neun Queens)
Und wie alt – und wie die Bäuche – und wie weit – und wie Brüste
(was hat eine Oma zwischen ihren Nippeln – )
einen Nabel (cha)
einen Nabel (haha)
dieser Blick legt alles ab
legt alle Abwehr ab
legt alle Deckung ab
und jetzt
auf die Füße, Königinnen! (cha)
streckt die Beine, Königinnen! (wäa)

Und fangt an abzulegen.
Abzulegen:
diese lächerlichen Kleider von diesen kaum atmenden Brustkörben, eins nach dem anderen
zieht sie aus, einfach ausziehen
die Kostüme
eure Kostüme,

cha –

zum Geräusch der ratternden Räder,
zieht sie aus

jetzt –

zum Schrillen der Trillerpfeifen,
zieht euch aus

jetzt –

zum Knallen der Türen,
zieht alles aus.
Die Schuhe

cha –

Perücken

cha-cha –

zieht sie aus
und lasst sie in Haufen auf dem Flur

freeze.

Die Kostüme: auf einen Haufen hier,
die Schuhe: auf den anderen Haufen,
Brillen: hier der Haufen für die Brillen,
Strümpfe aus: braucht ihr nicht,
zieht alles aus,
macht euch nackt.
All diese
BHs –
Laschen –
Taschentücher –
zieht sie aus –
und
jetzt
nackt,
ganz nackt,
stellt euch in die Mitte des Wagons.

In einer Reihe:
Neun Königinnen,
in einer Reihe:
Die Viele,
verängstigte, nackte Seidenraupenkokons
der
Fleischerladen
des weiblichen Körpers,
und der Zug fährt weiter: In die Korridore, die Korridore der Grundschule, zum Gedenktag der
Ermordeten und Opfer der Nationalkriege, und wir, sieben Jahre alte Schulkinder, stehen vor 70
Jahre alten Fotografien, auf denen Frauen ihre Arme heben vor Soldaten, vor Gewehren.
Die Frauen,
die Nackten,
die Achselhöhlen,
die Gesichter: entstellt vor Angst
oder vielleicht des eisigen Windes wegen,
Frauen,
Frauen,
stehen beieinander,
im Krach, im Krieg,
junge und alte und weibliche und Körper,
lebendig oder tot,
Haufen aus Nacktheit,
Staub und Hautfarbe,
die Peep Show der Geschichte
stellt ihre Haut aus seit 70 Jahren schon,
70 Jahre,
und die Wände sind voll von weiblichen Bäuchen und weiblichen Brüsten,
über 70 Jahre ausgestellt in Fotos,
und am unteren Rand jedes Fotos jeder nackten Frau mit erhobenem Arm:
die Signatur der Regierung.
Die Hände der Frauen schirmen sie ab gegen das Lachen der Soldaten, gegen die Gewehre der
Soldaten, gegen die Augen der Soldaten und vielleicht gegen unsere Augen auch,
die Pixel vergangener Leiden:
Sieben Jahre alte Kinder sehen jetzt zum allerersten Mal in ihrem Leben einen echten,
erwachsenen Nippel, drängeln sich hektisch von einem Foto zum nächsten,
suchen nach einem, auf dem man klarer sehen kann,
ein Foto, auf dem es den Händen nicht gelungen ist, das Nackte zu bedecken,
das national,
das offiziell,
das legal
zur Besichtigung freigegeben wurde,
jährliche Zeremonien,
über Jahre ausgestellte Frauen,
deren Nacktheit eingefangen und portraitiert ist, für immer,
schwarz und weiß und vier Ecken eines Fotos, und in seinem Zentrum neun Frauen,
in einer Reihe, 18 Hände in der Luft, die Knie an den Kehlen ineinander geknickt,
und wir, Kinder, versammeln uns vor ihnen, hypnotisiert,
und was wir sehen – Nippel und panische Augen,
und was wir sehen – ausgestülpte Rippen und rasierte Frauenschädel,
und was wir sehen – Glieder und spitze Hüftknochen,
zahnlos klaffende Münder, Haufen aufeinander geworfener Körper,
und
Haufen Schuhe,
Haufen Kleider,
Haufen Brillen,
und Perücken.

 

Unmengen und Unmengen und Liter von ausgestelltem Fleisch,
an Wände gehängt,
das private Fleisch,
Unmengen und Unmengen und Liter von ausgestelltem weiblichen Fleisch
herausgeschält aus seiner Verpackung,

diese Zärtlichkeit (cha-cha, cha-cha)
all diese Zärtlichkeit (cha-cha, cha-cha)
die Peep Show des Gedenkens (cha) an die persönliche Geschichte (dreht links)
derjenigen mit den panischen Augen (und hoch damit)
die den Fehler beging ihren Schritt mit zwei Händen zu bedecken und ihre Brüste
blieben blank, für immer.

 

Morgengebete

Und der Tag ist vorbei. Und alle Frauen kommen vom Kanal zurück Richtung Stadtzentrum, und
alle Passanten machen den Weg für sie frei, weil. Erstens: Sollten sie auch. Zweitens: Sollten sie
wirklich, und drittens: Weil alle Leute auf der Straße die Seite wechseln, um zu sehen, woher
diese tiefe Stimme kommt, die die Nachbarschaft ausfüllt, von welchem Dach die Stimme
kommt, die die Straßen jetzt ausfüllt, von woher, und sie können sie nicht sehen, aber ihre
Stimme donnert, laut, als sie ihre Prophezeiungen von oben herunterschreit, hart
herunterrappt, ihre Wut ausspuckt, und hinter ihr summen ihre Escortboys: ,Uhhhhh‘, und
flüstern um sie herum: ,Ahhhhh‘, und von Zeit zu Zeit, es passiert seltener und seltener, aber
immer noch – versuchen alte Papas das Dach hochzuklettern, auf dem sie steht, und sie zu
erreichen, und sie schleudern ihr Beschimpfungen entgegen: ‚Halt’s Maul, dummes
Mädchen‘-Style, und beschweren sich über ihre Themen und verachten ihre Sprache und wie
sie mit komplexen Fragen umgeht: ‚Lern den Gegenstand kennen, bevor du sprichst‘, ihre
Gesichter werden rot zum lauten Gelächter der Schwestern, der Schwestern überall, ‚Wo sind
deine Zertifikate, wo wurde dir beigebracht, öffentlich zu singen‘, nuscheln sie unter ihren
ungekämmten Opa-Trump-Perücken, oh. Dann. Hört die Rapperin auf. Oh, dann. Wechselt sie
auf eine Frequenz, die ihnen die Ohren versiegeln wird, für immer, weil sich von überall her die
Mädchen bereit machen, mit einzusteigen:
deine
Zeit
ist
vorbei
alter
Mann,
deine Zeit
ist vorbei
und wir
haben
die Waffen.1
Und jetzt hört auf die Hexen, hört auf die Hexen, die die Wolken verschieben und das ganze Lila überall versprühen, Farben von Nacht und Spiralen, hört, hört auf sie, es ist die letzte Station und alles bewegt sich, atmet ein, und atmet aus, pumpt den Wind von Nord nach Süd, vom Meer zum See, und die Winde, mintgrüne Winde, der zarte Atem einer Frau, die Ruhe, das Mint, die Stadt ist voll davon, und hier ist, wo wir bleiben werden, hier ist, wo wir sein werden, während süßer Honigregen auf unsere Gesichter fallen wird, die Ejakulation der Erleichterung, das. ist. das. Ende. es. ist. gekommen. Und hier steigt ein Brunftheulen aus den Altenheimfenstern auf, die dunkle Mitte ist vorbei, die dunkle Nacht der tiefen Mitte, die tiefe dunkle Mitte eines Tunnels, einer Geschichte, eines Körpers ist vorbei, die dunkle Nacht einer billigen Zugfahrt ist vorbei, der letzte Halt ist gekommen und der Zug steht still, und neun Königinnen erheben sich langsam, strecken ihre Glieder, und diesmal sieht sie keiner an, und niemand belächelt das Aussehen der neun alten Körper, oder neun trockenen Ziegen, oder neun dummen Kühen, oder neun hysterischen Hühner, oder all der Namen, die ihr uns jemals gegeben habt, neun, sechs, fünf, nein: Eine Frau steht auf jetzt. Ganz alleine betritt sie ein dreidimensionales quadratisches Bild, einen dreidimensionalen Traum und gehört niemandes Blick mehr. Und sie geht in die Bars, und sie tanzt in den Clubs, oder planscht in Badesalzwasser, mit Gläsern billigen Whiskys in ihrer Hand, mit aus dem Blazer hängenden Brüsten, jetzt sieht sie niemand mehr an, und das ist exakt der Moment, den Rock zu heben und die Unterwäsche runterzuziehen, das ist die Zeit, sich hinzuhocken mitten auf der Straße und alles rauszupissen, und in goldenen Strömen zu pissen, und die Gehwege zu fluten, und die Straßen zu stürmen, schließlich war es eine sehr lange Fahrt in diesem Zug, und sie musste wirklich pissen und es kommt gar nicht, überhaupt nicht, niemals in Frage, dass sie sich jetzt in die endlose Schlange für die Frauentoiletten stellt, während die Männertoiletten immer frei und leer sind. Also, so wird das Bild anhalten. Mit dem scharfen Geruch weiblicher Pisse.


und
mit
dir
zahnlos liegst du auf deinem rücken, du, deine augen geschlossen, ‚es ist nur eine nierenstein-OP, es ist kein drama‘, murmelt der krankenpfleger, trotzdem, das bett macht dich so winzig – erledigt: nächster: aber, meine mutter, meine mutter, wisst ihr, es ist meine mutter, die jetzt aus einer tiefen betäubung aufwacht, ganz allein. ‚komm her‘ sagt die schwarze, feuchte mundhöhle in der mitte deines gesichts, ‚komm her zu mir‘, die box mit deinen zähnen zuckt in meinen händen, ‚komm‘, dein zahnfleisch bewegt sich, pink wie babyzahnfleisch, ‚komm zu mir‘, die sonne geht auf, ‚du bist dicht, mama, sprich nicht, du musst schlafen‘. mama, mama, mama. ‚komm zu mir, liebling‘, sagst du, ‚drück mich, gib mir einen kuss‘, sagst du, ‚gib mir einen kuss, liebes, auf meinen mund‘, sagst du, ‚du brauchst deine zähne, mama‘. mama, mama, mama. ‚du bist dicht‘. mama. mama. ‚lass mich dir deine zähne geben, tu sie rein und dann schlaf, mama, du bist benebelt. es ist morgen, ich muss jetzt gehen. schlaf, mama.‘

 

1 Necati Öziri

 

Alle Rechte und Copyright zum Text bei: Suhrkamp Theater Verlag

Drama#4PS