Klick

 

„Alle Menschen haben Geheimnisse, oder?“, antwortet Jule und hofft, das Thema ist damit erledigt. Die Frage wundert und beunruhigt sie. Worauf will er hinaus? Ahnt er etwas? Jonathan grinst. „Stimmt“, sagt er. Kurz ist sie zusammengezuckt. Nicht jetzt, nicht heute, nicht an diesem Abend. Heute will sie feiern, trinken, tanzen, lachen. Also nicht heute. Irgendwann wird er ohnehin kommen, dieser Moment. Sie nennt ihn den Schock der Normalität. Er stellt sich immer ein, wenn sie Menschen mit ihrer Normalität konfrontiert, wenn sie teilt, was für sie normal ist. Weil sie keine Lust hat, daraus ein Geheimnis zu machen, zumindest nicht für immer oder auch nur für lange. Zumindest nicht so lange, dass sie lügen muss. Oder schweigen, wenn sie lieber reden würde. Reden, sich erklären können, verstanden werden. Einfach nur reden, über ihre Wahrheit, wie über alle anderen Dinge des Lebens auch. Schließlich ist nicht alles schön, lustig oder einfach im Leben, für niemanden. Aber wenn sie davon erzählt, von ihrer Schwere im Leben, macht es immer eine Art Klick beim Gegenüber. Manchmal meint sie, dieses Klicken zu hören, wie wenn etwas ein- oder ausgeschaltet wird. Klick. Klick und die Mimik, die Haltung und die Augen des Gegenübers verändern sich. Klick und die Normalität ist weg, weggeklickt wie ein nerviges Pop-up-Fenster. Als hätte sie den Ausnahmezustand ausgerufen. Für die nächste Zeit ist alles, was zu ihr gesagt wird, mit Bedacht gewählt, wird versucht, alles richtig zu machen. Hilflos wirkt das. Sie hat dann immer das Gefühl, sie muss etwas erklären, dem anderen sagen, was er oder sie jetzt machen soll. Dieser Moment nervt, geht aber vorbei. Zumindest war das bisher meistens so.

Jetzt legt Jonathan den Arm um Jule. Ihr Herz macht einen Sprung. Immer noch, sie dachte, das wäre vorbei. Freundschaftlich, mehr nicht, das war doch ihre Abmachung mit sich. Würde sie etwas mit Jonathan anfangen, käme der Moment, der Klick und das unangenehme Danach viel schneller. Schnelligkeit wirft manche aus der Bahn. Und ihn will sie nicht aus der Bahn werfen. Aber Jule hat sich geschworen, und bisher daran gehalten, mit niemandem mehr zu schlafen, ohne vorher davon zu erzählen. Alles andere tut weh, ihr oder der anderen Person. „Ich wurde vergewaltigt“ sagt sie dann meistens nicht, auch wenn sie es eigentlich gerne würde. Wieso immer so viele Umschreibungen, vage Worte, Andeutungen, kleine Lügen finden müssen. „Ich wurde vergewaltigt, da war ich neun.“ Warum nicht einfach so, fertig. Am liebsten noch weiter, denn solche Geschichten hören ja selten einfach so auf. Singular ist eher ungewöhnlich. Aber das wäre zu viel der Wahrheit. Das würde noch mehr aus der Bahn werfen. Also sagt sie: „Ich hab schlechte Erfahrungen gemacht“, und: „Es hat nichts mit dir zu tun.“ Manchmal sagt sie auch, es tue ihr leid und sie hoffe, dass sie jetzt nichts kaputt oder zu anstrengend mache. Danach ärgert sie sich. Schließlich kann sie nichts dafür, und es ist auch für sie anstrengend. Das Blöde dabei ist dieser Klick, wenn sie drüber redet. Es gibt nichts Abturnenderes als das Klicken. Beim Sex will sie begehrt werden. Mitleid ist ungefähr das Gegenteil davon, zumindest für sie. Jule steht nicht auf so femme fragile. Das sagt sie immer, wenn sie für schwächer gehalten wird, als sie ist. Also warten, bis der andere wieder klar kommt, die Samthandschuhe einpackt. Das klappt nicht immer. Das können nicht alle. Aber wenn sie nichts erzählt, nehmen Typen das schnell persönlich, Frauen auch. Kann sie auch verstehen. Ist schon komisch, wenn sie sich plötzlich ekelt vor ihnen oder Angst bekommt, das will sie auch nicht verbergen. Schon schwierig, das nicht persönlich zu nehmen. Nerven tut es trotzdem.

Ok, jetzt geht es schon besser: freundschaftlich. Absolut keinen Bock auf den Normalitätsschock, schon gar nicht heute Abend und auch nicht mit Jonathan. Sie sind auf dem Weg zu Lou. Sie und Emre abholen, um dann später noch zu dieser Elektroparty im Freien zu gehen. Jule ist bereits angetrunken. Trotzdem fröstelt sie in ihrem dünnen Sommerkleid und zieht die Schultern hoch. „Wir müssen mehr trinken“, stellt sie fest und muss sofort lachen. Jonathan stimmt ein, zieht sie näher zu sich und reicht ihr den Weißwein. Yes, so soll der Abend heute sein – leicht, schön, betrunken. Ja, auch das ist normal, ziemlich normal. Jule ist 24, Generation yolo, zumindest am Wochenende, wobei sie da nicht so streng ist. Sie hat Glück, fällt ihr nicht so schwer, das Studium. Jonathan schreibt immer bei ihr ab.

Eine Zeit lang mochte sie diese Momente des Schocks mit der Normalität. Sie fand es spannend, die anderen dabei zu beobachten, zu sehen, wie sich die Veränderung genau vollzieht. Zuerst merkt man es an der Körperhaltung, dieses kurze Zurückweichen und Aufrichten. Dann merkt es die Person selbst, will jetzt nichts falsch machen, vor allem nicht zurückweichen. Gerade das nicht. Man muss doch zeigen, dass man da ist, für sie da ist, nicht weggeht. Auf keinen Fall geht. Auf keinen Fall schockiert ist, mit der Situation umgehen, sie aushalten kann, mitfühlt. Wie denn mitfühlen, wenn man selbst diese Normalität nicht kennt? Dann kommt das Reden. Selten werden Fragen gestellt, obwohl das doch naheliegend wäre. Stattdessen denken die meisten, sie müssten ihr jetzt helfen. Ihr sagen, was sie tun muss, was gut für sie wäre. Woher sollen die das denn wissen? Die haben doch keine Ahnung. Ist doch logisch, dass sie das besser weiß, sich besser kennt und schon länger damit lebt. Jule hat ausprobiert, wie unterschiedliche Menschen unterschiedlich reagieren, und dabei sehr wenig Unterschiedlichkeit festgestellt.

Jonathan fährt schon wieder zu seinen Eltern am Wochenende. „Ich wüsste gerne, was deine Eltern verbrochen habe, dass du nicht mit ihnen sprichst.“ Provozierend schaut er Jule von der Seite an. Sie sitzen bei Lou in der Küche. Er will ihr gefallen, das weiß sie. Er versucht dann immer ganz taff zu sein. Irgendwie süß, aber eigentlich mag sie ihn gerade, weil er nicht besonders taff, sondern eher so der trottelige Typ ist. Aber der Schuss ging daneben. Jule wird wütend. Wütend, weil sie sich nicht erklären kann. Wütend, weil sie jetzt als die undankbare Tochter dasteht. Was soll sie schon sagen? Eine lange, schöne Sommerpartynacht soll das heute werden. Weder sich noch den anderen will sie den Abend verderben. Also sagt sie nichts, obwohl sie es hasst zu schweigen, es hasst, sich nicht erklären zu können, nur, weil die anderen nichts aushalten. Aber die Wut geht nicht weg. Am liebsten würde sie schreien: „Meine Mutter hat meinen Vergewaltiger bei uns wohnen lassen!“ Doch sie reißt sich zusammen. Ihr Abend wäre dahin und die nächsten Wochen mit den relativ neuen Freunden auch. Man würde sie in Watte packen. Sie wüssten nicht, wie sie mit ihr und ihrer Wahrheit umgehen sollen. Nicht wissen, wie man mit jemandem umgehen soll, ist anstrengend, also würden sie Jule irgendwann meiden. Hat sie alles schon erlebt und gelernt, dass schweigen besser ist, auch wenn es weh tut. Und außerdem: Partys in Watte sind scheiße. Lässt sich nicht gut tanzen da drin. Jetzt muss sie doch wieder lachen, wenn sie sich einen tanzenden Wattebausch in ihrer Größe vorstellt. Pink, wie Zuckerwatte.

Nun ist der Abend doch gelaufen. Sie hat es sich anders überlegt, hatte keine Lust mehr zu warten, ist mit Jonathan abgestürzt. Schön und vielversprechend war das. Bis zum Klick. Dann ist er aus der Bahn geworfen worden. Muss erst einmal klar kommen jetzt. Kommt aber nicht klar, tut aber so und weiß plötzlich, was sie machen sollte. Eine Therapie auf jeden Fall, professionelle Hilfe und so. In solchen Situationen hat Jule manchmal keine Geduld mehr. Dass die auch alle nichts aushalten. Kann sie nicht verstehen. Konnte sie sich auch nicht erlauben. Jetzt wird sie zynisch, aber nervt halt. Klick und der Abend ist vorbei. Klick und sie ist plötzlich ein Problem, hat plötzlich ein Problem. Es muss sich um sie gekümmert werden. Vorher ist das niemandem aufgefallen. Da fanden alle, dass sie ziemlich gut alleine klar kommt. Ist sie auch immer, musste sie schon früh. Aber dann sagt sie es und dann kommt dieser Klick, und, zack, soll sie jemand anderes sein. Es geht nicht um ihre Flashbacks, ihren Ekel oder ihre Ängste. Jules Problem ist nicht ihr Problem.

Prosa#4PS