Das Pfeifen der Straße
Personen:
Schatten
Rose
Licht
Mercedes (ein Mann)
Eine Seitenstraße, die nirgendwo in der Welt registriert ist, und ihre Insassen, die nur durch ihre Träume der „Realität“ nahekommen. Das Pfeifen der Stimmen, Märchen und Geschichten endet nimmer hier. Ein Junge, der zwischen seinen Augenbrauen eine Möwe beherbergt, kann auf einmal mit einer Gaskugel erschossen werden. Kindermädchen werden an faulzähnige Wölfe als Braut vermittelt. Mannesgesetze können willkürlich ihre Obszönität an die Frau richten. Der Leidenschaft werden Ketten angelegt… als Schutz kennt man hier nur die Gedichte, Geschichten und die Lieder. Und diese wehenden, schleudernden, tröstenden Stimmen. Stimmen, die nur einer Botschaft dienen: Selbstfindung kann nur durch das Verstehen des „Anderen“ erfolgen. Sterne, in Gold getränkt, und Märchenhelden, die einem über das Haar streicheln. Schaut man nur in die Ferne, so wird die Entzündung unter der eigenen Haut leicht vergessen, so die Gravur der Pfeiftöne in den Mauern. Pfeiftöne einer Stadt, die ihre Geschichte verheimlicht. Eine Seitenstraße, die trotz aller Blinden und Tauben nie aufhört, ihre Geständnisse zu beflügeln.
Ein Traum / eine Straße
Schatten: Die Stimme, die vom Minarett fällt, kann zum Spinnennetz werden.
Rose: Fang schon nicht wieder damit an. Alle Stimmen sollen verstummen, auch deine. Der Himmel soll verstummen.
Schatten: Wie schön klangvoll diese Stimme ist. Als ob die verruchten Seelen in heiligen Bädern auf zu Neuem gesegnet werden. Wenn man nicht Zeuge aller Massaker wäre, könnte man dem Wunsch folgen und die Stirn auf den Boden legen, die Gebete sprechen.
Rose: Alle Gebete sollen verstummen… alle Götter… alle Schreie.
Schatten: Diese rosenduftende Stimme, die die schlafenden Blüten des Glaubens zum Gedeihen erweckt. Diesen ergreifenden Klang des Flötenspielers in Kinderbüchern hören meine Ohren wieder. Die Kinder marschierten hinter diesem Klang her und sie kamen nie wieder zurück.
Rose: Alle Märchen sollen verstummen. Der Flötenspieler auch… die Kinder soll man aufhalten. Sie dürfen nicht in die Nacht einmarschieren…
Schatten: Die Stadt ist nun leer. Die Mütter und Väter suchen nach ihren Kindern. Die Kinder, sie sind verschwunden, wie der Nordstern am grauen Himmel.
Rose: Findet den Nordstern wieder! Alles andere soll still bleiben. Die Minarette, die Mauern…
Schatten: Auf einmal… auf einmal… im Echo dieser wunderbaren Stimme…
Rose: Die Engel sollen verstummen… die Bücher… und du! Du auch! Du Schreier der heillosen Wunde. Sei still! Sei still! Sei still! Komm zu mir… es ist so wunderbar, dich in meiner Nähe zu haben. Alle glauben, sie hätten von allem Ahnung! Jeder ist der Priester in seiner Kirche… und alle sind einsam…
Schatten: All diese allwissenden Poppel, diese billigen Werte!
Rose: Jeder ist der Strom in seinem Fluss.
Schatten: Jeder ruht geschützt in seinem Flussbett.
Rose: Jeder ist Dichter, Revolutionär… jeder hat eine Religion, einen Staat, eine Philosophie… schrecklich!
Schatten: Und wir? Wir suchen in allen Ecken dieser Stadt die entschwundene Heimat.
Schatten singt
Schatten:
Die Stimmen der Straße rieseln vom Himmel herab. Es sind wunderbare Stimmen, einsame Stimmen, blutende Stimmen, wehende, schleudernde Stimmen! Stimmen, die euch unsere Geschichten erzählen werden. Es sind wunderbare, einsame, blutende, wehende, schleudernde Geschichten!
Zuletzt hat man hier ein vierzehnjähriges Kind mit einer Gaskugel erschossen. Angeblich für unsere Sicherheit. Es ist gestorben und sicher fühlt sich hier keiner mehr. Schwarze Worte rollen die Zungen. Wunderbare, einsame, wehende, blutende Stimmen.
Es war einmal die Geborgenheit. Nun grübeln wir in einem finsteren Loch. Hier hat sich ein Kind verloren, seine Mutter sucht nach ihrem Kind. Es ist ein wehender, schleudernder, blutender, ein einsamer Verlust!
Rose: Halte jetzt die Klappe, hörst du mich. Halte einfach deine Klappe!
Rose geht zu Mercedes
Rose: Die ganze Zeit schweigst du nur Mist! Es wird der Tag kommen, da wird man dich durchficken. Dann wirst du sehen, wie viele Betten die Welt hat! Hooop hooop wirst du auf hungrigen Schößen hüpfen… hooop hoooop! An dem Tag werde ich sagen, dass du mir ein Fremder bist, ich werde dich nicht kennen! Damit du es schon Mal weißt, kapiert? Heutzutage wird jeder Esel gevögelt, auch du wirst nicht unberührt davonkommen… hoooop hooop!
Licht betritt die Bühne und geht zu Mercedes
Rose: Die beiden hier, eine komische Symbiose. Weder kam es zu einer Vereinigung noch zu einer Trennung. Licht ist in den Mercedes verknallt! Der Mercedes ist wählerisch. Und weil er so wählerisch ist, wird ihm bald der Pimmel verrosten. Hähääää!
Mercedes, siehst du das Weib hier nicht? Sie ist ein harter Reifen, für Winter und für Sommer zugleich, komm, nimm sie und basta!
Licht: Oh Mann, ich liebe dich so sehr, deine unbeirrbare Seele, dein felsenfestes Schweigen…
Rose: Mercedes! Komm her!
Pause
Rose: Hilf mir aus diesem Mäuseloch rauszukommen, komm, mein Prinz, gib mir deine helfende Hand.
Licht: Ich liebe diesen Mann, den Trümmerhaufen, den er in seinem Geist trägt. Genau da möchte ich mich hinlegen… in diesem Trümmerhaufen und fern von allem nur schlafen. Ohne diese ohrenbetäubenden Stimmen der Welt. Diese Welt, die alles Schöne in seinem Elend erwürgt!
Eine Hoffnung keimt sich nun in mir, auf dem Trümmerhaufen dieses Mannes, dich meine ich, Mercedes! Bei dir einen Platz zu finden, ist ein Traum.
Aber du… aber du… der Mann sitzt weit weg von mir. Er hat seine Kämpfe, seine Stille, sein Schloss aus Guss! Ich fürchte, er wartet darauf, dass Rose dieses Schloss öffnet. Er wartet auf sie. Beim Warten spüre ich, wie mir die Haut vom Fleisch fällt. Die Haut ähnelt der Kruste der Welt. Sie wird von Tag zu Tag schwerer. Ja, er liebt sie – und nicht mich! Er liebt die Qual, die sie ihm schenkt! Davon verstehe ich nichts. Ich nicht!
Schatten: Du schönes Licht, lass ihn. Wer weiß, was in ihm brodelt. Alle Welt hat es schon gesehen, dass du in ihn verknallt bist, er wird es auch sehen. Er braucht nur ein wenig Zeit, um sich aus dem Käfig zu befreien. Gib ihm die Zeit.
Rose peitscht Mercedes
Schatten: Nun sitzt sie in ihrem Palast. Hinter ihren Festungsmauern zündet sie ihre Leidensbälle an. Schütze dich! Für niemanden hat sie Erbarmen übrig. Die beiden hier wären längst Liebende gewesen. Aber sie hier, sie streut Angst um sich. Ihre Sprache vergiftet die Luft. Der Himmel folgt nur ihrer Stimme!
Rose: Natürlich hab’ ich hier das Sagen! Ich bin die Herrin dieser Scheißstraße. Nach Jahren hab’ ich mir einen Käfig gefunden und kann sprechen, wie ich will.
Licht: Rose schreit und brüllt. Aber bei ihr brodelt der Schmerz, wenn sie dem Schmerz keine Stimme gibt, wird diese Wucht ihr Herz zersprengen.
Schatten: Die, Rose! Auch wenn sie sich alle taub stellen. Irgendwer wird es schon hören. Du darfst deine Geschichte nicht mit ins Grab nehmen.
Rose: Du machst mich einfach fertig. Siehst, dass die Erde meine Geschichte geschluckt hat!
Ich bin nicht die erste Leidtragende, werde auch nicht die letzte sein.
Schatten: Du willst es nur verstecken, deine Tränen mischen sich doch wie Blei in dein Blut.
Rose: Lass mich, bin müde!
Schatten: Komm, lege dich und schlafe, du brauchst Ruhe!
Rose: Glaubst du, im Schlaf gibt es Ruhe.
Schatten: Versuche es wenigstens. Irgendwann fällst du in den Wahnsinn.
Licht & Mercedes
Licht: Komm, sag was, sonst verdunsten wir in unsrem Durst und Hunger.
Schatten: Nichts geht hier verloren, der Traum ist der ewige Gast dieser Welt.
Licht: Und wenn wir tatsächlich nie zusammenkommen? Wenn ich keine Nacht dieses Lebens in seinen Armen verbringen darf. Was passiert dann? Was passiert dann?
Schatten: Du träumst von einer Vereinigung, die dir niemand versprechen kann. Träume, du Schöne, träume von der Wärme seiner Brust.
Licht: Es reicht aber nicht! Es reicht nicht.
Rose & Schatten
Rose: Ich war einmal… ich war einmal… ich war einmal in einem Land, wo der Schnee bis zur Brust lag. Dort gab es Märchenerzähler, sie kannten den Tod und jedes Geheimnis des Lebens. Meine Mutter hat mir fein die Haare gekämmt, meine Wunden hat sie mit der Erde geheilt. An einem trüben Mittag, wo ich den Kranichen meine fröhlichen Lieder sang, nahmen sie mich mit ins Haus, sperrten mich in das Zimmer. Aus der Ferne hörte ich die Tanzmusik, sie wurde immer lauter und lauter. Dann kam er rein. Er sah mich an und schmunzelte. Ich sah seine faulen Zähne. Ich hab’ geweint… er riss mir das Kleid ab… ich habe geschrien… er legte mich auf den Boden… ich habe gebrüllt… er gab mir eine Ohrfeige… später merkte ich, der Opa hatte mich in den Arsch gefickt… nun weine ich nicht mehr.
Schatten: An fernen Himmeln schimmern die Sterne goldig. Alle Engel werden verblendet. Dort werden die schönsten Märchen erzählt, dort müssen die Kinder früh ihre Flügel ablegen…
Rose: Sei bitte leise, bitte…
Schatten: Sie werden schnell zu Frauen erzogen. Wer die Tiere im Hof satt hat, darf die Kinder besteigen. Die fernen Himmel schreiben ihre eigenen Regeln. Die feingekämmten Zöpfe werden für speicheltropfende Munde gelöst. Die fernen Himmel sind durstig nach frischem Blut…
Rose springt auf den Schatten
Rose: Halt’s Maul, hab’ ich dir gesagt!
Schatten: Wieso, alle Welt soll es hören.
Rose: Bei uns verkleidet man den Schmerz mit der Erde. Rest ist Verrat.
Schatten: Nein, es ist kein Verrat, es ist keine Schande. In deiner Geschichte sammeln sich Geschichten aller Kinder. Kinder: verstümmelt, verstummt, verloren.
Rose: Du hast es gehört, und was hat sich jetzt geändert, sag’s mir, was?
Schatten: Komm, schlafe Liebe, schlafe…
Schatten:
Sie war erst 12. Ein alter Wolf hat sie entjungfert, hat sie geschlagen. Geschlagen und gevögelt! Sie nach ihrer Mutter gerufen. Die Mutter aber wusste nur, dass sie ihr eigenes Schicksal ihrer Tochter übertragen hatte. Die Mutter trug das Wasser im Krug ins Heim. Die Mutter backte das Brot für die restlichen 7 Kinder. Die Mutter dachte an ihre Tochter, wenn sie todmüde in den Schlaf stürzte. Der Vater spritzte weiter seine Samen in ihre Scheide. Die Mutter trug den Frost der Nacht auf ihren Wimpern. Die Tochter wurde geschlagen und gevögelt.
Aus dem Hintergrund hört man Lärm, Schreie, Schüsse. Rose träumt.
Rose: Lauf weg Kind, lauf weg!
Schatten: Jedes Mal, wenn ein Kind stirbt, fällt ihr die Kruste ab, sie blutet erneut.
Rose: Lass das Kind los… lass das Kind looooos!
Der Lärm wird unerträglicher
Rose: Die haben das Kind erschossen, die haben das Kind erschossen. Steht alle auf… steht alle auf. Die haben das Kind erschossen. Wir müssen das Kind retten, wir müssen seine Wunden verbinden. Sonst wird es bei diesem Chaos untergehen, keiner wird sehen, dass es stirbt. Aus Liebe zum Gott… wir müssen dem Kind helfen!
Schatten: Wohin willst du uns jetzt führen?
Rose: Komm, du kennst den Weg, bringe mich dahin. Das hier ist kein Traum, das ist die Wahrheit, das Kind stirbt, siehst du es nicht?
Schatten: Du hast Recht, das Kind blutet, es blutet schon lange. Leider ist es zu spät. Du wirst das Kind nicht mehr retten können.
Rose: Was sagst du denn da?
Schatten: Es ist einfach zu spät, glaube mir. Sein letzter Atemzug hat sich schon längst in den grauen Himmel eingenistet.
Rose: Sag nicht so. Ein Kind kann doch nicht sterben, es darf nicht sterben.
Schatten: Schau in deine eigene Geschichte, sie wird dir zeigen, wie eine Kindheit sterben kann. So kann auch ein Kind sterben.
Rose: Aber ich… aber ich lebe doch noch! Schau mich an, ich atme, ich rede. Ich weiß vielleicht nicht, was ein Kindlein ist. Aber dieses Kind, es war voller Leben. Zwischen seinen Augenbrauen flog eine lebenshungrige Möwe. Sie hätte weiterfliegen sollen, sie hätte das Kind schützen sollen.
Schatten: Auch wenn du es nicht verstehst, es ist zu spät!
Rose: So ist es also! So ist das Gesetz, sagst du. Kinder müssen sterben, sagst du. Wofür dann dieses Pfeifen der Straße, wofür die ganzen Märchen. Da kommt ein Wild und erschießt das Kind. Wofür dann die ganzen Hymnen, die ganzen Lieder. Verbrennen sollen alle Flaggen, die Erde soll austrocknen, alles soll zu Asche brennen.
Schatten: Die Welt wird sich weiterhin um ihre Achse drehen. In dunklen Gassen werden sie weiterhin den Kindern ihre Kindheit klauen. Du wirst es nicht ändern können.
Rose: Meine Mutter sagte, jeder Tropfen findet sein Meer, jeder Staub seinen Berg. Es ist also gelogen. Weder der Tropfen findet das Meer noch der Staub den Berg. Wenn unsere Geschichten unbefristet verhaftet sind, wenn die Macht die Nuttenschminke trägt, dann steht alle auf, schneidet eure Pimmel, schmort in der Hölle. Dieser Ort, wo alles atemlos bleibt, alles fault, kann mir nicht mehr die Heimat sein.
Rose / Schatten
Ich flüchte vor euch, meine sehr verehrten, geehrten Damen und Herren
Vor euren impotenten Sittenpredigern
Vor euren sündenerzeugenden Sünden
Vor eurer Möchtegern-Frömmigkeit
Vor euren bordellmäßigen Höllen
Vor euren selbstgemalten Paradiesen
Vor euren pennenden Göttern
Nun, baut die Guillotine auf
Alle Adligen sollen ihre Plätze nehmen
Die Zeremonie beginnt!
Schatten: Bist du immer noch nicht müde, hast du dich nicht genug gegen die Mauern in dieser Kammer geschlagen?
Rose: Du hast mich doch nicht in Ruhe gelassen. Du, die Stimme aus meinem Inneren, mein Schatten…
Schatten: Ich bin nicht schuld, dein Herz wollte schreien, pochen, flüstern und klagen. Auch meine Zügel sind in deinen Händen.
Rose: Du hast Recht, jetzt ist es soweit. Jetzt werde ich dich erlösen… dir die Tore öffnen… aus meinem Verstand, aus meinem Herzen, aus meiner Gebärmutter, spreche dein letztes Gebet.
Schatten: Töte mich, wenn es befreit. Mein Tod ist dein Ende. Wie eine Hülle wird dich der Wind gegen die kargen Wände hauen.
Schatten singt für Rose ein Wiegenlied
Rose: Bitte nicht, bitte nicht. Deine Stimme macht mich noch mehr angreifbar. Überall ist das Leid zerstreut, überall das Verstummen des Guten. Meine Hände, meine Augen sind gebunden. Für mich war es eine ewige Flucht. Und jetzt entblößt du alles, was ich in meinen Höhlen versteckt habe. Wofür war dann diese ganze Flucht?
Warum hast du mich verlassen, Mutter? Wieso hast du es zugelassen? Du weißt doch, wo ein Kind den Schutz sucht, warum?
Schatten:
Schlaf, Kindlein, schlaf… draußen rauschen die Wälder, die Pappelzweige erzählen ein unerhörtes Märchen. Und du bist die Prinzessin. Der unbefleckte Held des Mutterherzens. Die Vögel zwitschern deine Lieder, die Sonne zähmt ihre Strahlen auf deiner zarten Haut. Nun, stehe auf, du Schöne. Dein Weg ist steinig. Und du bist nicht schuld. Es ist ein ewiger Kreislauf… schlaf, Kindlein, schlaf…
Pause
Licht: Im Schatten eines dünnen Zweigs wollte ich meinen Leib verstecken. Aber wieso? Keiner weiß es, ich auch nicht, seltsam…
Schatten: Komm aus diesem Schatten raus, besinge deine Liebe, wenn nicht er: Die Berge, die Wasserpfützen, der kleine Spatz auf dem Dach, die werden dich erhören.
Licht: Das glaubst du doch selber nicht.
Schatten: Wie die Kindheit stirbt die Hoffnung zuletzt. Und jetzt, gehe zu ihm, reiße ihm die Ketten ab.
Rose: Du verstehst es nicht, du hast mich nie verstanden. Glaubst du, es ist für mich eine Freude, wenn die Liebe im Käfig welkt und verfault. Ich stehe doch nicht aus Willkür zwischen diesen beiden. Ich habe nur Angst… ich kenne den Brand der Haut, diese unendliche Lust… ich kenne das Stöhnen der Einsamkeit. Deshalb wollte ich diese beiden nur schützen, jetzt weiß ich, dass es eine große Sünde war. Nie werde ich mein Gewissen entgiften können. Der hier (Mercedes), der schützt mit seinem großen Leib meine Seele, dafür braucht’ ich ihn. Aber jetzt kann er gehen, jetzt… verzeiht mit, ihr Sterne, verzeiht mir! Die Liebe ist das Licht der Seele, die einzige Mauer gegen den Tod. Verzeiht mir…
Schatten: Nicht nur dein Gewissen ist der Gier der Zeit verfallen. Auch die Leidenschaft, die bedingungslose Liebe. Die Angst überwacht wie ein finsteres Monster die Sehnsucht in den Gassen. Wehe einer öffnet sein Herz, ihm wird der Strick überreicht. Aber schön ist das Berühren. Doch wer seinem Inneren eine Sprache gelehrt hat, der wurde mit grobschlächtigen Blicken gestutzt. Jedes Geständnis hat tausend Peitschenhiebe gekostet.
Schatten singt
ein leichtgläubiger Vogel war ich in der großen Welt
welche ungläubigen Hände haben mich in den Käfig gesteckt?
federlos, jung, mit allen reinen Gewässern war ich angefüllt
meine Träume, die Meere, wer hat sie aus mir rausgeschlürft?
Zweige hatte ich, nestlose Freunde, einen hochgestreckten Stolz
jetzt suche ich, warte, in Hoffnung, im Glauben, was soll’s
Fliegen, Fliegen war die Lehre, über mich, über Menschenköpfe
aber woher kommt der Gegenwind, diese verheerende Dürre?
Vergangenes gehört der Vergangenheit, wozu? Für wen die Trauer?
wofür ist ein Leben ohne Freiheit, ohne die erste Liebe brauchbar?
die Bäume, alte Häuser, geben keinem mehr Schutz
in Versen, Wortspielen, in Reimen ruht die Zeit, in Schmutz
als unendlich gedachte Jugend, alles war nur ein kurzer Atem
ohne eine Antwort auf deine tief verwurzelten Fragen
ein mutterloser Vogel war ich in fremden Ländern
eine Widmung an die Heimat blieb immer in meinen Liedern
ich weiß, draußen, in unseren unerreichbaren Zielorten, ist alles so mehrtönig
doch wer wird die Tür öffnen, dem von ungläubigen Händen gebauten Käfig?
Schatten: Der blutende Schoß, diese gefangene Weiblichkeit, diese gestundete Freiheit. Und wie gern hätten wir unsere Flossen im Meer des Unbegrenzten aufgeschlagen. Das Gift auf der Zungenspitze, der schwere Stein in der Niere, der bohrende Dolch in unserem Unterleib, alles… alles tragen wir auf diesem steinigen Weg. Werden mit Beleidigungen und Erniedrigungen beworfen, als ob wir der Teufel in Mina hinter den Säulen wären. Steine fallen auf unsere Leiber. auf unsere Seelen, auf unsere Kinder… aus unserem Schoß rinnen die Kadaver der bunten Schmetterlinge. Jetzt hast du dein Leid der Welt geöffnet. Lasse nun die Zügel los. Lass die beiden den Weg gehen.
Rose: Meinst du, die Zeit ist reif?
Schatten: Ja, schon längst.
Rose: Mercedes, ich lasse dich frei. Gehe jetzt zu ihr. Wärme ihr die Haut. Eure Sehnsucht soll nun die Brandung finden. In jedem Garten sollt ihr aufblühen, die Knospen sollen sich vor euch verneigen, ihre Pracht zeigen. Dein Samen soll der dürren Erde Brunnen sein. Was den Menschen verlässt, soll sich in einem anderen Menschen wiederfinden. Ich öffne jetzt deine Käfigtür. Und wenn ich dich zu sehr verletzt habe, dann aus einem Grund: Es war die Mutter, die ich nicht verlassen wollte. Bitte, verzeih mir…