Bewerbung um einen Platz in sämtlichen Literaturjurys Deutschlands
Wenn die Wände meines Schutzraums einzureißen drohen, flüchte ich innerlich unter einen Tisch. Nach außen bleibe ich ruhig. Ich werde nicht rot, meine Hände beginnen nicht zu schwitzen und ich spreche mit ruhiger Stimme weiter. Aber ich besitze eine peinlich genaue Vorstellung von der Unterseite der Schreib-, Redaktions- und Konferenztische, an denen ich in den letzten Jahren mich oder mein Wissen preisgeben musste. Ist die Situation besonders unangenehm, flüchte ich sofort, aber meistens flüchte ich später, in meiner Erinnerung, spalte mich in zwei: die Lena, die weiter ruhig ihren Standpunkt vertritt, und die Lena, die panisch von ihrem Platz hechtet und unter einem Tisch Zuflucht sucht. Und ich brauche manchmal mehr, manchmal weniger Zeit, um durch liebevollen Zuspruch meiner selbst oder anderer Leute aus meiner Hockstellung wieder herausgelockt zu werden.
Der letzte Tisch, unter den ich flüchtete, war ein Tisch mit besonders schmalen Beinen in einer Leipziger Bar. Die PS-Redaktion und ich befanden uns mitten in den Textgesprächen für die kommende Ausgabe und hatten beschlossen, abends noch etwas Nettes zu machen. Während wir auf unsere Cocktails warteten, fragte mich Kaśka, ob ich eigentlich mit dem Gedanken gespielt hätte, einen Text bei PS einzureichen. Ich verneinte: Ich würde mich zwar als Frau über dreißig mit verhältnismäßig wenig Veröffentlichungen begreifen, aber ich sei eben auch weiß, hauptsächlich heterosexuell und vor allem eine Schreibschulabsolventin, die jetzt dafür bezahlt wird, den Literaturbetrieb akademisch zu beobachten. Ich müsse nicht von außen hereingeholt werden, ich sei „drin“. Dann zögerte ich kurz und setzte dazu, dass ich im Laufe der Textauswahl und vor allem der Diskussionen über die Biografien der Schreibenden aber doch begriffen hätte, dass es auch in meinem Leben Dinge gab, die mein Schreiben beeinträchtigt und meine Veröffentlichungen verlangsamt hätten. Und dann erzählte ich den PS-Redaktionsmitgliedern, die ich kaum kannte, auf einmal wahnsinnig Persönliches. Ich verschwand schon beim Erzählen unter dem Tisch (zu persönlich, zu persönlich!) und traute mich erst wieder hervor, als ich merkte, dass das Gespräch nicht kippte, keine Gesprächspartnerin peinlich berührt zur Seite blickte und ein Cocktail ganz freundlich vor mir auf den Tisch gestellt wurde.
Die Tage um den Cocktail herum verbringe ich im Schneidersitz auf einer roten Couch in einer Wohnung in Leipzig Leutzsch und beobachte die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben bei der Prosatextauswahl für die kommende Ausgabe. Ich sammle Material für diesen Essay, indem ich Espresso trinke, Doppelkekse esse und die Innenseiten meiner Wangen abkaue, um mich nicht einzumischen, während die Redakteurinnen* die Qualitäten der eingesandten Texte und die Biografien der dazugehörigen Autor*innen gegeneinander abwägen, um letztlich die Texte zu bestimmen, die nun in PS #3 stehen.
Die Textauswahl ist nicht nur für mich als Beobachterin neu, sondern auch für die Redaktion selbst. Es ist das erste Mal, dass das Kollektiv zusammenkommt, um über Texte zu entscheiden – die letzten Male konnten alle Einsendungen abgedruckt werden. Neu ist auch ein großer Teil der Redaktion: Vorher hat sich die Arbeit unter Kaśka, Jiaspa und Olivia aufgeteilt, jetzt unterstützen Carolin, Lara, Yael, Sibylla und Özlem. In der ersten Runde bespricht das Kollektiv die Texte, ohne die Biografien der Autor*innen zu kennen, und zwingt sich dazu, ihnen ein Plus oder ein Minus zu geben (was sich im Laufe der Besprechung schnell zu Plus, Plusplus, Minus, Welle, Welle Tendenz Plus und Welle Tendenz Minus aufweicht). Was anfangs „Blitzrunde“ genannt wurde, zieht sich über mehr als einen Tag hin. Manchmal geschieht es dabei, dass eine Teilnehmende ihr Urteil nicht ausreichend begründet und ein anderes Mitglied nachfragt: „Und warum siehst du das so?“ In solchen Momenten legt sich eine Stille über die Gruppe. Jede ist damit beschäftigt, sich im Warten so unsichtbar wie möglich zu machen, damit die Gefragte ihr Urteil in Ruhe bilden kann. Manchmal, selten, kommt nach einem langen Schweigen dann die Antwort: „Ich kann das gerade nicht besser ausdrücken. Es tut mir leid.“
-, +, -, ≈-, +, ?, ≈+. Am Mittag des zweiten Tages steht neben dem Titel jeder Einsendung die Übersetzung jedes individuellen Leseeindrucks und ergibt ein hierarchisch lesbares, übersichtliches Stimmungsbild. Zwei Frühstücke, ein Mittagessen und mehrere Kannen Kaffee liegen zwischen dem Eindruck und der Entscheidung. In der Gruppe ist das anfängliche Zögern vehementen Verteidigungsreden, persönlichen Preisgaben und Witzen gewichen. Bis ein neuer Stapel Papier auf den Tisch geworfen wird, die nächste Aufgabe, noch ekliger als die davor: Nicht Texte, sondern Menschen sollen in Zeichen übersetzt werden. Anhand ihrer Kurzvita, die auf die Kriterien der PS-Redaktion Bezug nehmen, und anhand eines Absatzes zu einer Frage, auf die keine von uns eine so knappe Antwort hat: „Was heißt politisches Schreiben für dich?“
Das Zeichengeben geht schwer, viel schwerer noch von der Hand als bei den Texten. Im Stolpern entfaltet ein Satz Beruhigung: „Wir bewerten nicht den Menschen, sondern wie gut der Mensch zu PS passt.“ Langsam sprechen die Redaktionsmitglieder, wägen jedes Wort zu jeder Vita sorgfältig ab, ständig bereit, den eigenen Eindruck mithilfe der anderen zu revidieren. Niemand möchte ein Minus vergeben. Das Tasten entgleitet, wenn es abstrakt wird, wenn besprochen wird, welche Zugehörigkeit mehr Nachteile schafft: das Alter, das Geschlecht, die sexuelle Orientierung? Das Eigene wird hinzugezogen, widersprochen, verglichen. Mitten im Prozess hält Olivia auf einmal inne und wirft ein: „Lena wird später schreiben: An einigen Stellen wurde die PS-Redaktion besonders makaber.“ – „Oh“, sagt Carolin, die neben mir sitzt, „ich hatte ganz vergessen, dass du ja über all dies schreibst.“
*
Bis vor zwei Jahren war ich selbst Mitglied einer solchen Jury. Ich gab die BELLA triste heraus, eine Zeitschrift für Junge Literatur, die sich in ihrem fünfzehnjährigen Bestehen eine relativ große Sichtbarkeit erarbeitet hatte. Vor dieser Tätigkeit hatte ich wenig Berührungspunkte mit dem, was man Gegenwartsliteratur nennt: Ich studierte Soziologie, machte eine lange Reise durch Südamerika, während der ich allerglücklichst den Amazonas hinunterschipperte, und kam mit einem sehr exotistischen Text über eine brasilianische Liebschaft in die Endrunde des MDR-Literaturpreises. Ungefähr dann beschloss ich, wirklich Autorin werden zu wollen, und scheiterte ein, zwei Jahre lang an größenwahnsinnigen Projekten, die nicht funktionierten, ohne dass ich ausmachen konnte, was „funktionieren“ im Zusammenhang mit Texten überhaupt heißt. Ich sah ein, dass ich Handwerk und Anschluss bräuchte, um das Schreiben zu lernen, und bewarb mich für den Masterstudiengang des Literarischen Schreibens in Hildesheim. In meinem ersten Blockseminar widersprach ich Clemens Meyer penetrant in seinen Ansichten über Politik und Literatur und fiel so den Herausgeberinnen der BELLA triste auf, die mich kurze Zeit später fragten, ob ich bei der Zeitschrift mitmachen wolle. Als ich den Anruf erhielt, war ich bei meinen Eltern zu Besuch, die mich als Erstes fragten, warum ich ohne Vergütung den Großteil meiner Zeit in Redaktionsarbeit stecken würde, wenn ich doch Schreiben studieren wolle. Ich antwortete kurz angebunden: „Das ist eben eine Zeitschrift, die gute Literatur macht.“ – „Aber was“, fragte mich meine Mutter, „ist denn gute Literatur?“ (Sie fragte dies nicht, um den Begriff „gute Literatur“ infrage zu stellen, sondern aus ehrlichem Interesse.) „Die BELLA“, antwortete ich. „Deshalb will ich da ja rein.“
Die BELLA triste hielt, was ich mir von ihr versprach. In der Redaktion lernte ich endlich, Begriffe wie „funktionierende Texte“ und „gute Literatur“ mit einer sozial geteilten und ästhetisch begründeten Vorstellung zu füllen. Alle drei Monate las ich rund dreihundert Texteinsendungen, bildete mir ein Urteil über sie und begab mich in einen erbitterten Kampf um die Zusammenstellung des nächsten Heftes. Es verging ein Jahr, bis ich einigermaßen trittsicher wurde in den Diskussionen, und das gesamte Jahr über begleitete mich ein Gefühl verzweifelter Überforderung. Ich merkte schnell, dass die anderen Herausgeberinnen mir Jahre voraus hatten, in denen sie sich übers Schreiben Gedanken gemacht hatten. Ich las wie irre, las nicht nur die Texteinsendungen, sondern auch sämtliche Titel, die in den Redaktionssitzungen erwähnt wurden, als Positivbeispiele, als Negativbeispiele und als Hinweise auf Verweisstrukturen der Texteinsendungen. Zusätzlich las ich die alten BELLA-Ausgaben und die Literaturzeitschriften, mit denen wir uns Autorinnen teilten. Durch die Textgespräche lernte ich zudem, auf die Einheit von Form und Inhalt zu achten, auf Ankerpunkte und Orientierungshilfen für die Leserinnen, auf Figurenbildung, Spannung, Perspektive und Präzision in der Sprache. Ich lernte, dass jeder Text außer diesen Kategorien noch etwas besaß, das in uns allen unterschiedliche Gefühle auslöste und Motor dieser erbitterten Kämpfe war: Ein Gefühl, das sich zwischen Text und Leserin einstellt und das von etwas in mir Verankertem hervorgerufen wird, das ich hier X nennen möchte. Ich nehme dieses X als eine fluide, sich mir entziehende Masse aus biografischen Prägungen, Werten und Geschmack wahr, die jegliche Beschreibung, die ich für sie finde, in einem nächsten Schritt wieder aushebelt. Zwei Konstanten bleiben meinem X jedoch bis heute erhalten.
Mein X ist weiblich*. Es bevorzugte Autorinnen, Protagonistinnen und Themen, die wir in der Redaktion als weiblich* lasen. Es begriff seine Weiblichkeit* im Kontakt mit den X der männlichen* Herausgeber, indem es mich bei Themen, die eher Männern* zugeordnet werden, verständnislos deren Begeisterung beobachten und mit den weiblichen* Texten winken ließ. Ob ein Text ins Heft kam, machten wir an den ästhetischen Kriterien fest. Wie hart ich für einen Text kämpfen würde, machte ich jedoch an meinem X fest. Die weiblichen* X waren zu meiner Redaktionszeit in der Minderheit, was aber abgefedert wurde: Wir wollten gerecht sein, waren vorsichtig gegenüber Benachteiligungen und gaben Geschmacksurteile zu. Dem Weiblichen* wurde so eine Art Ausgleichsbonus zuteil.
Mein X ist peinlich. Mehr als die gemeinsame Verantwortung für eine würdige Fortführung der Institution BELLA, mehr als die geteilte Angst und Überforderung bei den ersten Schritten in eine wie auch immer geartete Karriere im Literaturbetrieb, war es die Preisgabe des X, die das gegenseitige Vertrauen der Herausgeberinnen brauchte und uns zu einer dieser verschworenen Gemeinschaften machte. Im Laufe der Jahre begriff ich, dass neue Redaktionsmitglieder nur zum Teil schwiegen, weil sie die ästhetischen Kriterien noch nicht an die Texte anlegen konnten. Sie schwiegen auch, weil das Zugeben eines Geschmacksurteils so viel Persönliches preisgibt, vor allem, wenn es um Texte geht.
Im Nachhinein frage ich mich, ob man sich nicht vielleicht genau deshalb bei jeder Absage, die man gibt, und fußt sie auf noch so gründlichen Abwägungen, Kriterien, Absicherungen, wie ein Scharlatan fühlt, der mit einer wohlgewählten Antwort als solcher enttarnt werden kann. Vielleicht finden Auswahlverfahren deshalb hinter verschlossenen Türen statt. Und vielleicht wird deshalb Arbeit von Türhüterinnen (Magazinmacherinnen, Literaturkritikerinnen, Lektorinnen) als so anstrengend empfunden, als chronisch unterschätzt markiert und so oft heroisiert. Man liest sich selbst immer mit, also arbeitet man sich selbst immer ein, balancierend zwischen einem mühsam angelernten Wissen und einem X, das „herzlich, Ihr Scharlatan“ unter jede getroffene Entscheidung schreiben will. Die Preisgabe des X macht verletzlich. Sie braucht einen Schutzraum und Gebote der Diskretion.
*
Einen Text lesen, ohne zu wissen, von wem er stammt, ist eine seltene Angelegenheit. Oft kommen die Redaktionsmitglieder der PS mir vor, als würden sie in einem Auto fahren, aus dem der Tacho ausgebaut wurde. Noch seltener ist es, Texte und Biografien zu lesen, zu bewerten und zusammenzupuzzeln: als müsse man beim Fahren seine Geschwindigkeit raten und gleichzeitig darauf achten, keinen Unfall zu bauen. Die Redaktionstage bekommen so für mich eine Dramaturgie, bei der alles darauf zuläuft, das Geheimnis zu lüften, von wem welcher Text stammt. Nach der Wertung der Biografien beginnen die Redaktionsmitglieder, den Biografien die Texte zuzuordnen und Text für Text zu entscheiden, ob Vita und Text zusammen zu PS passen. Und ich, als Unbeteiligte, beobachte, wie sich die X der Herausgeberinnen immer mehr und mehr freilegen.
Beispielsweise findet ein Redaktionsmitglied heraus, dass ein Text, den sie mit ≈- bewertet hat, von einer guten Freundin stammt, deren literarisches Können sie sehr schätzt. Beispielsweise steht dieses Redaktionsmitglied am nächsten Tag in der Mittagssonne, beißt in ein Stück Pizza und sagt: „Ich habe heute Nacht, als ich nicht schlafen konnte, mir den Text noch einmal durchgelesen. Ich weiß jetzt, warum sie macht, was sie macht. Und jetzt kann ich es gut finden. Welle plus.“
Beispielsweise bewerten alle Redaktionsmitglieder den Text eines Schreibschülers mit + oder ≈+. Und auch wenn sie wissen, dass dieser Schreibschüler doch zu vernetzt ist, für sein Alter schon sehr erfolgreich und deshalb eigentlich nicht auf die Kriterien von PS passt, dauert es doch ein, zwei, drei Verzweiflungssätze, bis eingesickert ist, dass der Schreibschüler und die Ziele von PS nicht zueinander passen. Ein Mitglied sagt in dieser Situation: „PS ist größer als ich“, und hinter diesem Satz steht eine gewisse Wehmut.
*
Die ersten zwei Wochen nach dem Besuch in Leipzig fühle ich mich, als hätte ich die Weltformel gefunden. Ich lese Texte zu literarischer Wertung und Kanonforschung mit einer seltenen emotionalen Offenheit, käue die Erlebnisse der Redaktionstage wieder und bringe meine allumfassende Erkenntnis auf einen Satz, den ich mich nicht traue hinzuschreiben, weil er mir so banal erscheint. Nachts kriege ich Panik, zerre meinen Laptop ins Bett und google die sogenannten Literaturdebatten der letzten Jahre, lese Diskussionen über Literaturkritik, die Homogenität des Betriebs und die Ödnis der Gegenwartsliteratur und suche nach Hinweisen, dass alle anderen Literaturschaffenden diesen Satz bereits kennen und ich mich komplett lächerlich mache, wenn ich zugebe, dass ich ihn nicht kannte. Ich meine, ich kannte ihn. Aber ich kannte ihn nicht. Und unter der Gefahr, das vielleicht größte state the obvious des Jahres zu begehen, schreibe ich ihn jetzt hin:
Die Wertung von Literatur ist menschengemacht.
Weiter komme ich erst einmal nicht. Ich habe zu viel Angst davor, meinen erregten, verzweifelt nach Zusammenhängen suchenden Hippiezustand in den Text zu transportieren und, schlimmer noch, sich nach Erleuchtung anfühlende Erkenntnisse in kitschige Phrasen zu verpacken. Nach jedem Absatz möchte sich etwas aus mir loslösen und unter den Schreibtisch fliehen. Im Kontext des Literaturschaffens, lehrt mich das Warnsignal meiner inneren Schamgrenze, ist das Beschwören hippiesker Mystik auf jeden Fall ein Tabubruch. Eine Herausgeberin legitimiert sich durch ihr professionelles, über Jahre erarbeitetes Urteil, das sich an ästhetischen Kriterien festmacht und nicht durch euphorisches Herumgetapse in einer ernstzunehmenden Profession.
(und jetzt die Weltformel.)
Zur professionellen Beschäftigung mit Literatur gehört zwangsläufig die Beschäftigung mit dem eigenen X. Zum Erlernen von Türhüterinnenschaft gehört einerseits das Erlernen von literarischen Kriterien, andererseits das Erlernen der Trennung von literarischen Kriterien und eigenem X. Je gründlicher ich mich mit meinem X beschäftige, desto mehr kapiere ich, dass es mich für Texte Feuer fangen lässt, deren Leerstellen sich mit meinen biografischen Prägungen, meinen Werten und meiner Vorstellungskraft so ausfüllen lassen, dass der Text bei mir einen emotionalen Effekt hat. Und je weiter ich diesen Gedanken denke, desto mehr begreife ich, dass auch die als Konsens geltenden ästhetischen Kriterien zu einem großen Teil genauso gemacht wurden: Von einer Masse an Menschen, die über Jahrhunderte hinweg in sich selbst verstärkenden Prozessen ein Set an Verhaltensvorgaben etabliert haben, das maßgeblich beeinflusst, was ich als schön wahrnehme und was nicht, und weiter: was als „literarische Qualität“ gilt und was nicht.
Wenn ich werte, lege ich den Maßstab „literarische Qualität“ an ein Stück Schrift, das ich vorliegen habe. Wenn ich werte, werte ich aber auch als heterosexuelle, weiße, europäische Frau, die sehr lange unhinterfragt „gute Literatur“ als solche las und einst den Amazonas hinunterschipperte, und wenn ich das nicht klar habe, kann ich nicht behaupten, für jemand anderes Texte auswählen zu können als für heterosexuelle, weiße Mittelschichtsfrauen mit Hang zum Exotismus.
Was ich also bei der Beobachtung der Textauswahl der PS-Redaktion verstanden habe: Die Beschäftigung mit Texten erfordert eben nicht nur eine Ausbildung in ästhetischer Qualität, sondern auch eine gründliche Analyse, welche Texte ich weswegen interessant finde. Sie erfordert eine Besprechung der Texte, bei der so offene, diverse und intime Biografien der Verfasserinnen, wie sie PS hatte, vorliegen, und das Abgleichen der Empfindungen zu den Texten – mit und ohne Biografien. Diese Differenz bietet die Möglichkeit, das eigene X wieder und wieder zu überprüfen und wenigstens für einen Moment einzufangen.
Das soll das Ausbilden ästhetischer und handwerklicher Unterscheidungsfähigkeiten natürlich nicht ersetzen. Ich frage mich bloß, warum es so selten öffentlich thematisiert wird, dass mein Verständnis von Literatur nicht nur mit meinem erlernten Wissen, sondern auch mit meinem Körperwissen zu tun hat. Warum die Beschäftigung mit dem eigenen X ein derart intimer Prozess ist, dass ihm in öffentlichen Beiträgen zur Gegenwartsliteratur und ihrer Machart so wenig Platz eingeräumt wird; dass ungeschulte Lesende den Eindruck bekommen, bei der Wertung von Texten zähle nichts weiter als eine universelle Konstante ästhetischer Qualität.
Wenigstens in dem Teil des Literaturbetriebs, zu dem ich Zugang habe, werden diese Prozesse verhandelt. Ich finde mich oft in Gesprächen, in denen Lektorinnen, Kritikerinnen und Magazinmacherinnen sich fragen, wie sie als weiße Mittelschichtkinder der Pluralität potenzieller Leserinnen gerecht werden können. Allerdings stehen diese Gespräche in krassem Gegensatz zu den glatten Debatten des Feuilletons, in denen gefordert wird, bei aller „Liebe“ zu Pluralität, Frauenquoten und Gerechtigkeit solle doch bitte auf die ästhetische Qualität der Gegenwartsliteratur geachtet werden. Und während ich mit dem Verfassen des Essays ringe, denke ich über die Gegensätze der informellen und der öffentlich geführten Gespräche nach und komme immer wieder auf einen Begriff zurück, den ich nun vorläufig als Scharnier zwischen diesen beiden Phänomenen einsetzen möchte: Scham.
In einem Bereich wie dem Literaturbetrieb ist das, was ich auf den Markt werfe, so etwas Undurchschaubares und Angreifbares wie die eigene Urteilskraft. Um diese zu legitimieren, mache ich sie öffentlich an externen, erarbeiteten Faktoren fest, die nicht mein Selbst betreffen. Literarische Kriterien hüllen Literaturschaffende in beruhigende, sachliche und zu erlernende Konstanten. Hingegen ist die eigene, ehrliche Positionierung gegenüber Werten wie Gleichberechtigung in einer Gesellschaft, die einerseits plural ist und gerecht sein möchte, andererseits auf jahrhundertealten strukturellen Ungleichheiten fußt, enorm schwer. Die Fragen, ob ich feministisch genug handle, antirassistisch genug handle und niemanden aufgrund von biografischen Eigenheiten benachteilige, rutscht so in die Vertrauenszonen ab, weil jeder, der zugibt, das zwar zu versuchen, aber ständig Fehler macht, öffentlich angreifbar wird, sprich: beschämt werden kann. Das Schamgefühl funktioniert als eine Art Regelwächter in der Gesellschaft. Es ist eine verinnerlichte Form der Strafe, die stärker noch wirkt als extern auferlegte Sanktionen: Eine schlechte Note tut weh, aber das Gefühl, in der Schule die Dümmste zu sein, tut weher. Um beim Literaturbetrieb zu bleiben: Wenn ich meine persönlichen Unsicherheiten als Türhüterin öffentlich ausstelle, statt sie überzeugend an ästhetischen Kriterien festzumachen, kann ich von Statusmächtigen leicht als Stümperin diskreditiert werden und aus diesem informellen, viel über Empfehlungen funktionierenden Betrieb zugunsten anderer Anwärterinnen ausgeschlossen werden. Zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sprechen zieht sich die Schamgrenze, deren Übertretung berufliche Folgen haben kann.
Ich möchte diese Grenze gerne im öffentlichen Gespräch verschieben. Ich möchte darüber reden, ob drohende Beschämung verhindert, dass eine Frage, die zum Glück immer mehr gestellt wird, in ihrer Gänze und öffentlich verhandelt wird: Haben Menschen qua Herkunft, biografischer Prägung oder Geschlecht bessere oder schlechtere Chancen als Schreibende oder Literaturschaffende? Und ich möchte darüber reden, an welchen Schrauben gedreht werden kann, damit das eigene X nicht nur öffentlich thematisiert werden kann, sondern auch muss. Weil sonst alles Reden über das Öffnen eines homogenen Betriebs an der Oberfläche bleibt. Erst im Sprechen über das eigene X lässt sich feststellen, wie homogen der Betrieb eigentlich ist. Erst wenn die Schamgrenze fällt, lassen sich die bestehenden Verhältnisse erkunden.
*
Ich bin dafür, dass sämtliche Menschen des Literaturbetriebs sich in eine wochenlange Klausur begeben, in der sie Doppelkekse essen, Espresso trinken und je 100 Texte und 100 Biografien lesen und bewerten, sie dann zusammenführen und noch einmal bewerten. In maximal gemischten Gruppen.
Und für den Amazonas.
Inspiriert von:
Renate von Heydebrand und Simone Winko (2007): The qualities of literatures. In: Willie van Peer (Hg.): The Quality of Literature: Studies in Literary Evaluation.
Stefan Hirschauer (2001): Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung. Zeitschrift für Soziologie 30, Nr. 6
Dirk Knipphals (2016): Über Literaturjurys. Merkur Nr. 10/2016.
Jill Locke (2007): Shame and the Future of Feminism. In: Hypatia.
Sighard Neckel (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit.
Sighard Neckel (2000): Die Macht der Unterscheidung. Essays zur Kultursoziologie der Gesellschaft.
Simone Winko und Gabriele Rippl (2013): Handbuch Kanon und Wertung.
Sowie den Essays aus PS #1 und PS #2, insbesondere „Konkurrenz und Kanon“ von Kaśka Bryla.
M. Elizabeth Weiser, Joseph J. Horak and Debra Monroe (2007): Beyond Shame: The Dialogic Narrative and Comic Cognition. JAC, Vol. 27, No. 3/4.
Danke für alle klugen Anmerkungen, kritischen Lektoratshinweise und augenöffnenden Gespräche an Dmitrij Gawrisch, Tillmann Severin, Andreas Stichmann, Jacob Teich, Ninon Hirth, Wiebke Hagemeier, Victor Kümel, Simon Roloff. Und ein ganz, ganz, GANZ großes Danke an die PS-Redaktion für das Vorschussvertrauen, für die Beobachtungstage und für das intensive Lektorat.