Nachkrieg.

 

Ich habe meine Frau an einem Zipfel ihres Mantels erkannt. Obszön, wie sie ihn trägt, dass sie es immer noch wagt. Vielleicht dachte sie, ich merke es nicht.
Die Sonne scheint auf den Beton, ich würde mich wohler fühlen, wenn die Lok dichte Rauchwolken ausstieße, die das Licht dämpften. Sie hat versucht, ihre blonden Locken mit einer Strickmütze zu kaschieren, sie ist gescheitert. Sie glänzen in der Sonne. Spinne all dies Stroh zu Gold, sonst soll es dir schlecht ergehen. Sie sieht sich um, als suche sie jemanden. Ich schwitze in meinem englischen Wollmantel. Die Blätter tanzen um ihre Füße. Dann steigt sie ein, ich möchte behaupten, sie klettert in den Zug wie eine Bergziege, sie ist anmutig wie immer. Ich kann sie stundenlang betrachten ohne eine Hässlichkeit an ihr zu finden. Ich konnte. Ich stehe unter der Kuppel des Bahnhofs, die Zeitung unter dem Arm und überlege die Reise abzubrechen.
Gestern Morgen verkaufte ich das letzte Stück – einen Stuhl, dem Bauhausdesign nur nachempfunden, nur eine Fälschung. Ihre Anschaffung natürlich. Letzter Schrei. Gleich nach ihrem Auszug habe ich eine Matratze erworben. Alles andere musste weg. Nachdem also der Stuhl den Besitzer gewechselt hatte, bin ich durch die leere Wohnung gestreift. Ich habe überlegt, das Parkett herauszureißen, aber ich scheue den Aufwand. Das Geschirr habe ich auf dem Küchenboden zerschlagen, Stück für Stück. Die Küche lässt sich jetzt natürlich nicht mehr betreten.
Die Wohnung hat vormals meinem Bruder gehört, dem meine Niere nicht mehr geholfen hat. Ein Abschiedsgeschenk also, wenn man so will. Natürlich kann ich nicht umziehen. Ich ließ sofort das Schloss auswechseln, damit ihre Gegenwart die Räume nicht mehr beschmutzen kann. Im Schlafzimmer, als es noch Schlafzimmer war, hatten wir die Wände die ganzen vier Meter bis zur Decke taubenblau. Ich werde also streichen müssen, vielleicht die Tapeten ganz entfernen. Die Wohnung ist schön in ihrer Nacktheit, ich finde Gefallen an dem Geräusch meiner Schritte. Sie hätte früher gehen sollen, ich hätte früher diese Leere entdecken können, den Hall in den Zimmern. Ich bin versucht ihn aufzunehmen und meiner Sammlung einzuverleiben.
Ich nehme es ihr übel, dass sie in diese Stadt fährt. Wir waren früher sehr oft dort, das gibt ihr nicht das Recht hinzufahren, nicht heute.
Ich habe mir damals vorgestellt, in dem kleinen Hotel auf die Straße zu schauen, ohne ihr Geplapper im Ohr. Ohne ihre nackten Füße zu hören. Ohne das Kichern, das aus dem Bett zu mir dringt, sie hat die Angewohnheit, nach dem Akt zu kichern. Ich habe mir vorgestellt, ohne sie im Café Zeitung zu lesen, in diesem Café, das wir nur durch Zufall während eines Spaziergangs gefunden hatten.
Ich versuche durch die Scheiben zu verfolgen, wie sie nach ihrem Abteil sucht, diese Verräterin, sie hat mich nicht gesehen. Ich stehe hier, ich hebe die Zeitung auf, die mir heruntergefallen ist. Ich begreife, dass ich nicht fahren kann. Ich kann keinen Fuß in diesen Zug setzen. Er sieht harmlos aus, aber ich weiß um die Tatsache, dass sie irgendwo dort drin ist. Sie hat sich das wohl sehr einfach gedacht, in diese Stadt zu fahren. Ich hätte gut Lust ihr meine Meinung zu sagen, sie wird dieses Hotel mit ihrem Atem verseuchen, mein bescheidener Urlaub wird in sich zusammenbrechen.
Der nächste Zug geht in einer Stunde. Ich finde eine Bank, vor der niemand ausgespuckte Flecken hinterlassen hat, ich setze mich, ich beobachte, wie der Zug anfährt, über den Rand meiner Zeitung hinweg. Sehr einfach wird sie sich das vorgestellt haben, nicht nachgedacht wird sie haben, sie strengt ja selten ihren Kopf an. Ihre Eleganz hat mir das zweite Magengeschwür verursacht. Wie sie die Füße voreinander setzt, wen möchte sie eigentlich damit beeindrucken.
Ich drehe den Kopf um das Verschwinden des letzten Wagons zu verfolgen. Ihre Abwesenheit tut mir gut, ich habe bereits mehr als acht Pfund abgenommen.
Sie kann nicht einmal plump aussehen, wenn sie isst. Ihre roten Lippen umschließen die Nahrung wie eine Liebesgeste. Ihr Körper ist ein perfektes Abbild, ihre ganze Erscheinung ist ein perfektes Abbild, ich habe nur noch nicht herausgefunden, von was. Eine Fälschung, möchte ich behaupten.
Ich kann freier atmen, seit der Zug den Bahnhof verlassen hat. Ich lockere die Krawatte nur aus Gewohnheit. Ich musste mich komplett neu einkleiden seit ihrem Weggang, es erstaunt mich überhaupt nicht, dass sie dieses Feingefühl nicht hat. Ich besitze momentan zwei Anzüge mit passenden Hemden, sechs Paar Socken, sieben Unterhosen, einen Mantel, eine Brieftasche und eine Taschenuhr. Glücklicherweise habe ich sie in ihrer Gegenwart nie getragen, ich fand sie in einer Schachtel im Schrank. Seit sie gegangen ist, schlafe ich schlecht, weil es wegen der fehlenden Vorhänge viel zu hell ist.
Sie wollte sofort geschieden werden. Ich brauchte sie zu nichts überreden, zu gar nichts. Mit ihr habe ich zudem meine Affäre abgelegt, ich wollte nicht beim Anblick einer Anderen Mal um Mal daran erinnert werden, wie es sich anfühlte, sie zu betrügen. Das habe ich selbstverständlich für mich behalten. Ich habe der Kleinen das Bett geschenkt, ich hielt diese Geste für passend. Vielleicht werde ich ihre Kinderwangen bei Gelegenheit vermissen.
Ich lese Zeitung, bis der Zug eintrifft. Ein Zug, in den ich beruhigt meine Koffer tragen kann, in dem sie nie gewesen ist. Ich werde mich nicht daran stören, dass ich meinen Platz umsonst reserviert habe.
Ich stehe auf und nehme das Geräusch der einfahrenden Lok auf Band auf, das Geräusch des richtigen Zuges, ehe ich einsteige. Die Fahrt wird mich drei Stunden meiner Lebenszeit kosten.
Ich wähle ein Abteil, in dem eine junge Frau sitzt. Ein Buch in den Händen lässt sie beschäftigter wirken, als sie ist. Ich setze mich. Ich habe einmal versucht herauszufinden, ob verschiedene Tageszeitungen, wenn man sie auseinanderfaltet, verschiedene Geräusche erzeugen. Die Unterschiede waren nicht interessant genug für meine Sammlung.
Ich habe die Papiere noch nicht unterschrieben, was einzig und allein daran liegt, dass ich keine Zeit dafür finde. Es gibt viel zu erledigen. Es ist mir nicht schwer gefallen, die fünf Meter an Büchern einer Gesellschaft für Haushaltsauflösungen anzuvertrauen. Durch Zufall ist der Band mit Fotografien, den sie am liebsten hatte, unter das Sofa gerutscht. Ich fand ihn, als es abgeholt wurde. Natürlich hatte ich keine Lust ein einzelnes Buch zu verkaufen, zumal es nicht im Mindesten wertvoll ist. Es liegt momentan neben der Matratze, ich konnte noch keinen besseren Platz dafür finden.
Ich spreche die junge Frau an, als sie ein belegtes Brötchen auspackt. Ich bitte sie, es für mich noch einmal aus dem Papier zu wickeln.
Wie bitte.
Ihre Augenbrauen sind ebenso schmal und hell wie die meiner Frau, das sehe ich erst jetzt. Auch ihre feingliedrigen Hände waren mir nicht aufgefallen.
Wickeln sie es bitte noch mal aus dem Papier, sage ich.
Ich möchte das Geräusch gerne aufnehmen.
Sie klappt ihr Buch zu, das für einen denkenden Menschen nicht von geringstem Interesse ist. Sie tut es mit aufreizender Langsamkeit.
Sie möchten das aufnehmen, wiederholt sie.
Ihr Tonfall gefällt mir wirklich ganz und gar nicht.
Ich sammle Geräusche, sage ich.
Sie lächelt wie eine Maschine, an der ein anderer Knopf gedrückt wurde.
Wirklich, sagt sie. Wie viele haben Sie denn schon.
Zweitausendeinhunderteinundzwanzig, sage ich so ruhig, wie es mir möglich ist. Ich habe nicht gesehen, dass sie meiner Frau ähnelt, als ich mich neben sie setzte.
Ohne irgendeinen Grund beginnt sie mich interessant zu finden. Sie packt ihr lächerliches Brötchen ein und wieder aus. Ich nehme das Geräusch nur noch ihr zuliebe auf, ich habe das Interesse daran verloren, seit sie den Mund aufgemacht hat. Ich denke, es war vielleicht keine gute Idee, der Kleinen das Bett zu schenken, einfach so, ich hätte einen guten Preis dafür erzielen können.
Und was machen Sie mit den ganzen Geräuschen?, fragt die junge Frau und nagt an ihrem Brötchen, unangenehm.
Ich sammle sie, sage ich.
Und da ich das Gefühl habe, dass sie sich mit dieser Antwort nicht abspeisen lassen wird, füge ich hinzu:
Ihr Tonfall erinnert mich an meine Frau. Wir wollten diese Reise eigentlich zusammen antreten.
Wirklich, sagt sie, als ginge es sie etwas an.
Wo ist sie?
Ich fasse an meinen Krawattenknoten, aber ich habe ihn bereits gelockert.
Kennen Sie Tolstoi?, frage ich.
Sie sagt, sie kenne ihn nicht, natürlich habe ich mir das gedacht. Aber ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, jungen Frauen, deren Gegenwart, nebenbei bemerkt, mir etwas die Luft zum Atmen nimmt, zu mehr Bildung zu verhelfen. Ich werde beim nächsten Halt aussteigen müssen. Ich dachte, ich hätte den richtigen Zug erwischt, das war eine Täuschung. Wieder eine Täuschung.
Ich greife unauffällig nach meinem Koffer. Ich hätte das Bett nicht verschenken dürfen.
Sie ist tot, sage ich, meine Frau. Mausetot.
Ich verlasse das Abteil, ohne eine Reaktion abzuwarten.

Prosa#2PS