Ressentiment statt Rezension
Im Frühjahr 2014 löste Florian Kessler eine Debatte über die Qualität der deutschen Gegenwartsliteratur aus: Junge Schriftsteller seien brav und ihre Texte langweilig. Kurz darauf erschien Fabian Hischmanns Debütroman „Am Ende schmeißen wir mit Gold“. Für das Feuilleton kam Hischmanns Debüt gerade recht: Es musste als Beleg einer unbelegten These herhalten.
Ein unguter Charakterzug des real existierenden Journalismus ist seine Angewohnheit, passend zu machen, was eigentlich nicht passt.
Anfang Juni geht in der Fußballwelt das Gerücht um, dass Roman Weidenfeller, Torwart von Borussia Dortmund, den Verein wechseln will. Kurz darauf wird er von einem Fotografen dabei beobachtet, wie er am Dortmunder Trainingsgelände mehrere Taschen und Koffer in sein Auto lädt. Die Bild-Zeitung titelt daraufhin „Bye Bye Borussia – Weidenfeller hat schon gepackt“ und zeigt, zum scheinbaren Beweis, ein Foto, auf dem der packende Torwart zu sehen ist. Per Facebook dementiert Weidenfeller: Er habe sich lediglich auf eine Reise zur Nationalmannschaft vorbereitet.
Dieses eher harmlose Beispiel zeigt, wie sich im Journalismus Verkettungen festsetzen, an deren Anfang ein Gerücht, ein Gefühl oder eine Aussage steht – und am Ende eine falsche Information.
Einem ähnlichen Phänomen ist der Autor Fabian Hischmann im vergangenen Jahr begegnet. Sein Romandebüt „Am Ende schmeißen wir mit Gold“ fiel im Frühjahr 2014 bei der Kritik durch. „ZEIT“, „taz“, die „Frankfurter Rundschau“ und die „Süddeutsche“ urteilten auffallend einhellig über das Buch.
Das wäre nicht weiter erwähnenswert und als branchenübliche Grausamkeit zu verbuchen, mit der ein Autor umgehen muss, wäre Hischmanns Debüt nicht gerade in jenem Moment erschienen, als im Literaturbetrieb eine Debatte losging, die man, in Anlehnung an deren Urheber, bald „Kessler-Debatte“ nannte. Das Buch verschwand im Sog eines Kritikerstrudels, in dessen Wirbeln kaum noch Zwischentöne zu hören waren. Man könnte sagen: Das Buch war zur falschen Zeit am falschen Ort.
Im Januar 2014 erscheint in der „ZEIT“ ein Text, der mit der vielsagenden Zeile „Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn“ überschrieben ist und eine aufgeregte Debatte über die Qualität junger deutscher Literatur auslöst. Der Autor, Florian Kessler, stellt darin essayistisch gekonnt, aber unter großzügiger Auslegung der Logik, einen Zusammenhang her zwischen der sozioökonomischen Herkunft junger Schriftsteller und einer beobachteten Spannungslosigkeit ihrer Literatur.
Seine These, kurz gefasst: Im Literaturbetrieb setzen sich, mit Hilfe von Schreibstudiengängen wie in Hildesheim und Leipzig, jene durch, die es sich leisten können, mit dem finanziellen Risiko des Autorentums zu leben, weil sie im Notfall im Fangnetz ihrer Eltern landen, Zitat: „‚Wir lebten alle vom Rundfunk‘, hieß es einst über die Gruppe 47. ‚Wir leben alle von unseren Familien‘, müsste man heute sagen. Oft schon ist zwar behauptet worden, das heutige Schriftsteller-Berufsbild sei aus dem Preis- und Stipendienwesen zu erklären. Dabei muss man es sich offensichtlich erst einmal leisten können, überhaupt erfolgreich prekärer Autor zu werden.“ Durch dieses Abgefedertsein fehle jungen Autoren Konflikt und Thema für ihr literarisches Schaffen.
Man kann Kesslers Text als Autoaggression lesen. Versäumt er doch nicht zu erwähnen, dass die erfolgreichen Absolventen der Schreibstudiengänge, zu denen er sich zählt, aus erfolgreichen Familien stammen, Zitat: „Insgesamt aber reüssierten meiner Wahrnehmung nach in Hildesheim und Leipzig ganz besonders die Absolventen mit den hochrangigsten bundesrepublikanischen Eltern: Professorenkinder wie Nora Bossong, Paul Brodowsky oder auch ich, eine Bundestagsdirektoren-Tochter wie Juli Zeh, ein Richtersohn wie Thomas Pletzinger, ein Managersohn wie Leif Randt.“
Die Kurzsichtigkeit von Kesslers These wird auch von Juli Zeh kritisiert, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts, sie schreibt auf Anfrage per Mail: „Was Kessler anscheinend nicht weiß, ist, dass die vertikale Durchlässigkeit von Gesellschaften in früheren Zeiten gleich null war und heute immer noch ziemlich mies ist. Das bedeutet: An Universitäten findet man viele Kinder von Akademikern – das ist keine Überraschung, sondern eine Tatsache, die man kritisierbar finden kann –, mit Literatur hat das aber wenig zu tun, viel mehr mit Bildungspolitik und der allgemeinen Verfasstheit unserer Gesellschaft.“
Im Frühjahr 2014 verselbstständigt sich Kesslers These dennoch. So sehr, dass sie bald als Fakt gelesen wird. Es ist der Beginn jener journalistischen Verkettung, an deren Anfang ein Gerücht, ein Gefühl oder eine Beobachtung steht (Kesslers Text ist von allem ein bisschen) – und an deren Ende eine falsche Aussage. Das Vorurteil gegen junge deutsche Literatur, sie sei brav, langweilig und angepasst, erfährt durch Kessler eine Vitalisierung – und mit ihm das Ressentiment gegen die Schreibstudiengänge in Hildesheim und Leipzig. Sein Text wird als Bericht eines Insiders gelesen: Er wird es wissen, er war ja da.
Das Verstörende an Kesslers Pistolero-Auftritt in der „ZEIT“ war seine Einmaligkeit, das Inszenierte, das Paukenschlaghafte. Bei späteren Auftritten, wie beispielsweise bei einer Podiumsdiskussion am Deutschen Literaturinstitut, wirkte Kessler seltsam leblos gegenüber seiner These, plötzlich fehlten die Fanfaren und dort saß ein junger Mann, der anderen kaum Bravheit vorwerfen konnte, so brav saß er da. Man hätte sich da jenen Cowboy gewünscht, der einem aus der „ZEIT“ entgegengeschossen kam. Doch die Provokation blieb wohl dosiert. Für ihn hat es sich jedenfalls gelohnt. Ein Jahr nach seiner Polemik, im Januar 2015, begann Kessler beim Hanser Verlag eine Stelle als Lektor für deutschsprachige Literatur.
Wie wirkte seine Polemik? An der Oberfläche löste sie eine Debatte über Leipzig und Hildesheim aus, über die deutsche Gegenwartsliteratur im Allgemeinen. Und unter der Oberfläche – das ist viel entscheidender – hatte sie einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Neuerscheinungen. Kessler drehte die Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die Saturiertheit junger Literatur, die angebliche Saturiertheit. Was nun bei einigen Kritikern einsetzte, war das, was man in der Psychologie „selektive Wahrnehmung“ nennt: Sobald man sich intensiv über Katzen Gedanken macht, sieht man überall nur noch Katzen. Daraus darf man aber nicht schließen, dass eine wundersame und explosionsartige Zunahme von Katzen stattgefunden hat. Man sollte nicht das Gerücht in die Welt setzen, dass die Stadt mit einer Katzenplage konfrontiert sei.
Besonders deutlich wird das Problem in einer im März 2014 in der „ZEIT“ erschienenen Rezension zu Hischmanns Buch. Die Autorin Marie Schmidt verwendet ein Drittel ihres Textes auf das Vorhaben, Hischmann als Beleg für Kesslers These einzuordnen. Sie schreibt: „Von dieser Zeitung ging kürzlich eine Debatte aus (ZEIT Nr. 4/14), in der Florian Kessler die These aufstellte, die Ausbildung von vornehmlich Bildungsbürgerkindern in den akademischen Schreibschulen von Hildesheim und Leipzig bringe eine in der Logik des Literaturbetriebs zwar hochprofessionelle, aber brave, fade Literatur hervor. Fabian Hischmann hat an beiden Schulen studiert, und sein Debütroman, der indes bereits für den Leipziger Buchpreis nominiert ist, kann als Belegexemplar zur These gelten.“
Und dann schließt Schmidt: „Wenn man Florian Kessler vorgeworfen hat, dass er eine soziologische These vertrete, für die es viele Gegenbeispiele gebe, und die keinen genuin literarischen Maßstab habe, dann kann man an Hischmanns Buch erkennen, worin das intrinsisch ästhetische Problem der Bürgerkinder-Literatur besteht. Die durchgebildete Machart bemäntelt nämlich wohlig die Erfahrungsarmut, nicht des Autors, über den bekanntlich keine Aussagen rechtens sind, sondern des sprachlichen Werkes selbst. Wenn es ein Schreiben gibt, das keine Verschiebung der Wahrnehmung erleiden lässt, keine Sekunde der Ungewissheit oder Gefahr für das Begreifen der Welt bedeutet und sich so heimelig in seiner Zeitgenossenschaft einrichtet, und wenn dieses Schreiben in dem Betrieb, der es hervorgebracht hat, Anerkennung erfährt, ist das vielleicht ein Phänomen staunenswerter Saturiertheit. Literarisch interessant ist es nicht.“
Kommen wir, um uns dem Problem zu nähern, nochmal zu Roman Weidenfeller, dem Torwart, der am Anfang dieses Textes eine Rolle spielte. Die Sportberichterstattung ist ein gutes Feld, um zu illustrieren, wie sehr der Journalismus manchmal Generator seiner eigenen Realität ist. Und wie problematisch das sein kann. Gerüchte sind in der Berichterstattung über Fußball Alltag. Oft geht es um Transfer-Gerüchte: Welcher Spieler wechselt zu welchem Verein? Journalistisch gesehen ist das Gerücht interessant. Man kann Gerüchte weitertragen, ohne sie belegen zu müssen. Für den Boulevard-Journalismus ist das Gerücht ein gern benutztes Werkzeug. So wird es oft, versehen mit einem Fragezeichen und einer halblebigen Distanzierung, erst weiterverbreitet und dann von Beobachtungen gestützt – bis es mehr ist als ein Gerücht.
Eine überregionale Zeitung berichtet beispielsweise über das Gerücht, dass Spieler A von Bayern München zu Real Madrid wechseln will. Woher das Gerücht stammt, ist vielen Lesern egal. Es kann erfunden sein. Sie konsumieren das Gerücht wie eine Nachricht. Kurz darauf macht Spieler A mit seiner Familie Urlaub in Spanien. Ein Fotograf hält ihn dabei fest, wie er am Strand liegt. Die Zeitung druckt das Bild und stellt die Frage: „A in Spanien – plant er hier seinen Wechsel?“ So wird Realität generiert, in einer Verkettung von Fehlschlüssen: Eine Beobachtung, die im verengten Fokus einer selektiven Wahrnehmung gemacht wurde, wird als Beleg für ein Gerücht angeführt, das erfunden ist.
Und eben dieser Verkettung erliegt Marie Schmidt in der „ZEIT“, wenn sie Hischmanns Buch als „Belegexemplar“ für Kesslers These wertet: Das Urteil, das Buch sei langweilig, welches unter den Bedingungen einer Wahrnehmung gefällt wurde, die ausschließlich auf das Langweilige abgerichtet ist, soll eine These belegen, die nicht mehr ist als eine Behauptung.
Die Formulierung „Von dieser Zeitung ging kürzlich eine Debatte aus“ leitet folgende engstirnige Argumentation ein: Anklage, Beweisführung und Urteil aus einem Haus. Das Problem: Es gibt auf dem Feld der Literaturkritik keine Revision. Ein Urteil ist ein Urteil. Das heißt auch, im übertragenen Sinne: Ein Todesurteil bleibt ein Todesurteil.
Zweifel an derartiger Argumentation muss, zumindest kurzzeitig, Christopher Schmidt überkommen sein, den Autor einer Rezension, die im Februar 2014 unter dem Titel „Mäxchen allein zu Haus“ in der „Süddeutschen Zeitung“ erschien. Er schreibt: „Wenn der Haupteindruck, dass man sich bei dieser Lektüre vor allem unterfordert fühlt, damit zusammenhängt, dass der Autor in Hildesheim und Leipzig Literatur studiert hat, sollte man über diese Mainstream-Schmieden noch einmal nachdenken.“ Wobei das eine Pseudorelativierung ist: Ob dieser Eindruck mit dem Umstand zusammenhängt, dass Fabian Hischmann in Leipzig und Hildesheim studiert hat, lässt sich kaum erforschen. Beim Leser aber bleibt vor allem dies hängen: Es hat mit Hildesheim und Leipzig zu tun. Der Rezensent reproduziert somit das gängige Ressentiment.
Weiter schreibt Schmidt: „Störender macht sich die Institutsprosa in jenen Kunsttischler-Proben bemerkbar, bei denen man immer den Appell, doch bitte anschaulich und konkret zu schreiben, im Hintergrund mitzuhören meint. Ein gesuchter Abwechslungsreichtum farbig schattierter Bewegungsvokabeln jenseits der infantilen Hilfsverb-Prosa sowie die akkurate Anwendung der Lernwörter aus dem Übungsheft für den lebendigen Erlebnisaufsatz führen zu so hölzernen Wendungen wie ‚Valentins lederne Halbschuhe klappern durchs Dorf‘ oder machen aus einer schlichten Ziege einen ‚Paarhufer‘.“
Man kann, wenn man diese Zeilen entheddert und verstanden hat, sachte fragen: Hätte der Autor, Christopher Schmidt, nicht besser das tun sollen, was er Fabian Hischmann vorwirft? Hätte er nicht besser auf den Appell hören sollen, anschaulich und konkret zu schreiben? Wie überzeugt ist er von Konstruktionen wie folgender: „Ein gesuchter Abwechslungsreichtum farbig schattierter Bewegungsvokabeln jenseits der infantilen Hilfsverb-Prosa sowie die akkurate Anwendung der Lernwörter aus dem Übungsheft für den lebendigen Erlebnisaufsatz führen zu so hölzernen Wendungen“?
Christopher Schmidt ist Dozent an der Deutschen Journalistenschule in München, einer Kaderschmiede mit exklusivem Zugang. Wenn man sich in Leipzig und Hildesheim in „Institutsprosa“ übt, lehrt Schmidt in München dann „Journalistenschuljournalismus“? Der Umstand, dass sich Kritiker seltener öffentlich hinterfragen und kritisieren lassen müssen als jene, die sie tagtäglich kritisieren, kann in manchen Fällen zu Selbstgerechtigkeit führen.
Statt streng entlang des vorliegenden Romans zu rezensieren, zapft Christopher Schmidt einen Vorrat an Ressentiments an, die gegenüber Leipzig und Hildesheim im Umlauf sind. Was meint der Autor, wenn er von „Kunsttischler-Proben“ schreibt? Ist die Verachtung gegenüber dem Handwerk, die dort herauszulesen ist, gewollt? Was will uns der Kritiker sagen? Dass junge Literatur in totaler Vereinzelung und geniehaftem Wahn entstehen muss? Was spricht dagegen, ein Kunsttischler zu sein? Und was spricht, ganz generell, gegen Proben? Es gibt keine Genies. Wer glaubt, ein Genie zu sein, ist entweder noch verblendet oder hat sich bisher echter Kritik entzogen. Das ist eines der vielen Dinge, die man in Leipzig und Hildesheim lernen kann.
Wahrscheinlich ist es kein Trost für den Autor und ob er Trost benötigt, ist eine zweite Frage – immerhin gab es auch positive Kritiken und immerhin war Hischmann für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Aber wäre das Buch zu einem anderen Zeitpunkt erschienen, wären die Kritiken möglicherweise anders ausgefallen, fairer, dem Werk angemessener. Das Buch hätte nicht als Munition in einer Debatte herhalten müssen, die von Ressentiments und gefühlten Wahrheiten getrieben war.
Im Moment sitzt Fabian Hischmann an seinem zweiten Buch. Hat er Kritik an den Kritikern? Wie sehr trafen ihn die Rezensionen? Über sein Debüt habe er, wie er auf Anfrage schreibt, schon genug nachgedacht und geredet, er will nicht mehr. Er schreibt jetzt sein nächstes Buch. Und das ist gut so.
Felix Dachsel hat 2013 für die taz von den Gezi-Protesten aus Istanbul berichtet. Er war beeindruckt von unbeugsamen Menschen, die sich ihrerseits nicht von Polizeigewalt und Tränengas beeindrucken ließen.