Im Anfang liegt das Ende schon so nah

 

Ich bin ein Kind der letzten Atemzüge des Krieges. In den Straßen stapelte sich der aufgetürmte Propagandamüll und weggeworfene Parteianstecker und Kreuzzeichen funkelten im Licht der aufgehenden Sonne. Die Fahnen und Flaggen des Tausendjährigen Reiches wurden auf Halbmast gesetzt, gar abmontiert, zusammengelegt und in rostbraunen Archivkartons verstaut. Am Stadtrand öffneten sich die Tore des Arbeitslagers. SSler schlichen in volkstümlicher Kleidung zurück zum Parteibüro und organisierten die Heimreise nach Kufstein, München oder über Meran weiter nach Rom. Denn wenn der Wind umschlägt, heißt es sich ducken oder wenden.

Meine Mutter lag zu dieser Zeit bereits im Kreißsaal des Innsbrucker Krankenhauses. Ganz oben am weißen, gerahmten Glaskasten, dem Ärzteschrank, der so gut wie leer war – ein paar braune und graue Fläschchen verteilten sich locker über die beiden oberen Fächer, unten lagen zwei schlampig aufgewickelte Bandagen –, stand der Volksempfänger. Aus ihm dröhnten die aktuellen Berichte von der Kriegsfront, die so aussichtslos nicht waren, und aufmunternde Schlager.
Daneben stand der Oberarzt, aufmerksam den Nachrichten folgend, die er zeitweilig mit einem „Vielleicht doch noch, vielleicht doch“ kommentierte. Zwar hatte er bereits vor Tagen die Hakenkreuzbinde öffentlich voller Wut vom Arm genommen und sie in seine Kitteltasche gesteckt – in dieser Tasche steckten auch sein Parteiabzeichen, eingewickelt in ein Taschentuch, ein Foto seines Sohnes, der irgendwo da draußen auf der Suche nach einem heldenhaften Tod herumirrte, ihn vielleicht schon gefunden hatte, und das Stethoskop –, aber am Tag meiner Geburt legte er die Binde kurzfristig wieder an. Denn das Wetter war schön, der Frühling glitt in üppiger Pracht in den Sommer über und der Gauleiter Hofer hatte am Morgen verkündet, dass die Alpenfestung uneinnehmbar sei und der Gegenschlag unerbittlich sein werde. Mit Geröll und Entschlossenheit würden unsere wackeren Soldaten jeden feindlichen Eindringling niederringen, wie einst die tapferen Bauernscharen die gottlosen Franzosen. Voller Zuversicht schloss er seine Ansprache mit: „Wie einst der Bauernführer Hofer, so werde jetzt ich, euer Gauleiter Hofer, euch führen. Denn der Führer würfelt nicht.”
Minuten später überflog eine US-Staffel in erheiternder Formation den Morgenhimmel der Stadt. Es fielen keine Bomben, dennoch blickte die Hebamme verunsichert hinauf zur Decke: „Du dort oben, schau herunter und lass ein End’ sein. Ein für allemal.“
Es war kaum Mittag und alle Hoffnung auf den großen Sieg schien vergebens.

Meine Mutter erzählte später gern die Anekdote, wie der Oberarzt mit solch einem traurigen Gesichtsausdruck bei ihr stand, gedankenverloren und voll Verbitterung, dass es ihr leid tat, dass gerade in diesem Moment die ersten Wehen einsetzten. Gern hätte sie ihn mit einem Lied getröstet.

„AUCH WENN ICH NOCH WARTEND BEI DER LATERNE STEH
EINEN KRIEG ZU VERLIEREN TUT SO WEH,
SO WEH, SO WEH, SO WEH“

Plötzlich schrie meine Mutter auf: Mein Vater blickte sorgenvoll zum Fenster herein. Eilig hatte er sich vom Dach des Krankenhauses abgeseilt, da er meinte, sie stöhnen und wehklagen gehört zu haben. Er hatte nicht wissen können, dass es der Oberarzt war, der voll Kummer in seine Armbinde rotzte, sein erschüttertes Herz in einer zerreißenden Klage offenbarend: „Wir sind wie Zwerge in des Riesen Schuhen. So groß die Alpen, doch so klein die Festung.“
Mein Vater, beeindruckt von diesem wahrhaften Gefühlsschauspiel, kletterte zuversichtlich zurück auf das Dach des Krankenhauses, um sich dort wieder in Stellung zu bringen. Zu meinem und zum Schutz des Vaterlandes. Geduckt lag er am Flachdach und spähte in den Horizont. „Die Zukunft wird es mit sich bringen. Und sie bringt sich zu uns aus dem Westen. Vom Atlantik her“, dachte er und versuchte sich weiters an den Gedanken zu gewöhnen, ein Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Genau genommen hatte er schon 1943, als er von der vernichtenden Niederlage in Stalingrad gehört hatte, sämtliche Hoffnungen hinter sich gelassen und aus purer Wut über die Unfähigkeit der Generäle einen Innsbrucker Stadtteil in die Luft gesprengt. Mit der Rücksichtslosigkeit eines durch und durch Empörten. Anschließend hatte er „Die Heimatfront ist unzufrieden“ in mächtigen Lettern neben das überdimensionale Hakenkreuz an die Steilwand der Nordkette geschmiert. Doch die unerwarteten Siege der deutschen Armee im Winter 44 ließen ihn umdenken. Er besann sich seiner Pflichten und beschloss, wenn es sein musste, würde er sich allein der alliierten Übermacht entgegenstellen, um seinem Volk den Gesamtsieg zumindest in der Schlussphase zu sichern. Aber an diesem Morgen hatte ihm der Oberarzt zugeflüstert, dass es nicht mehr lange dauern würde, dann würde die unbesiegbare Wehrmacht anrücken und zum totalen Befreiungsschlag ausholen. Voller Vorfreude sangen daraufhin beide: „Und das Flugzeug mit fünf Kanonen und fünfzig Bomben am Bord wird verteidigen diese Stadt.“
Aber es kam nicht.
Mit einer weißen Fahne in der Tasche und einem Maschinengewehr in der Hand wollte mein Vater nicht wirklich Widerstand leisten, sondern nur etwas taktieren. Ein bisschen hin, ein bisschen her. Denn wer weiß schon, sicher ist nur der Tod.
Zum Zeitpunkt meiner Geburt war noch alles offen. Die US-Truppen waren gut zehn Kilometer vom Krankenhaus entfernt und mit etwas Glück würde die Wunderwaffe dahergeflogen kommen und alle Feinde vernichten.
Als ich mich anstellte, geboren zu werden, als ich durch diesen schleimigen Gang flutschte und mich plötzlich in diesem grellen Licht wiederfand, schoss mein Vater vor Freude Gewehrsalven in Richtung der anrückenden US-Soldaten. Einige Minuten später landete eine Rakete im Nachbargebäude und explodierte, dass mir ganz unangenehm wurde.
„Du bist ein Kind der Alliierten“, flüsterte mir meine Mutter zu und zog mich an ihre Brust.
Mein Vater nannte mich kurzerhand Ali. In Tirol heißen alle Kinder, die an diesem Tag geboren wurden, Ali. Die Kinder davor hießen Adi. Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Die Alis sind die des Niedergangs und des Zusammenbruchs.
Die Unordnung, die meine Geburt auslöste, war im ganzen Krankenhaus zu spüren. Überall lagen Trümmer herum, dort eine umgekippte Waschschüssel in einer riesigen Wasserlache, ein Handtuch lag am Boden, das Kruzifix hing schief, das Bild vom Gauleiter hing nicht mehr an der Wand, sondern stand mit dem Portrait zur Wand angelehnt und die Hebamme saß müde in einem Stuhl und schlief. Meine Mutter hatte mich bereits auf die Seite gelegt und schlief ebenfalls. Sie wirkte, trotz ihrer 21 Jahre, müde und abgelebt.
Ich sah aus dem Fenster. Mein Vater hing schaukelnd im Seil und winkte mir, meiner Mutter oder anderen Personen in diesem Raum. Hinter ihm war strahlend blauer Himmel, mit ein, zwei dicken bauschigen Wolken. Eine sah aus wie eine Karotte, die andere wie ein Penis.
In dem Moment hörte ich, wie etwas durchgeschnitten wurde. Ich drehte mich zur Seite und sah die Hebamme mit einer riesigen Schere neben mir stehen. Jetzt spürte ich es auch – AU –, sie vollzog die Trennung mit einer gewissen Genugtuung und lächelte. Ich streckte ihr die Faust mit hochgestreckten Daumen entgegen und dachte mir: „Well done, Heby.“
So eine Geburt ist in Innsbruck eine schrecklich langweilige Angelegenheit. In Wien, so hatte ich gehört, singen die Sängerknaben, wenn man zur Welt kommt. In Innsbruck sang niemand. Alle blickten gelangweilt in die Gegend und interessierten sich kein bisschen für mich. Der Oberarzt kämpfte tapfer mit seinen Emotionen, bis er schließlich tief seufzte: „Ein letztes Mal nur …“ Dann ging er in Position und streckte seinen rechten Arm aus. Meine Mutter las im Bett liegend den Beobachter und mein Vater flirtete durch das geschlossene Fenster mit der Hebamme, die sich mit der Schere die Fingernägel putzte.

Wir halten unsere Existenz in den Händen wie die Salz- und Pfefferstreuer und sitzen vor unserer faden Suppe des Leben, die wir mit großem Appetit auslöffeln. Aber wir werden kaum satt davon.

„Oh Tirolesetango.
je suis triste
amor’ la mord
abtötüng
on donse on donse
je ne pense
on mond triste
la mer e la per
Tango Tirolese
je suis – so süß
un satanic frere“

Summte ich, um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich bereits vollkommen angeekelt und gelangweilt von meiner Existenz war. Ich wollte nach Hause. Nicht zurück in den Bauch, sondern dorthin, wo es keinen Anfang gibt und kein Ende in Sicht. Dann schrie ich. Ich schrie und plötzlich spürte ich, wie mein Körper aufging wie ein Kuchen. Ich war nahe am Platzen. Die Beinchen und Ärmchen zitterten und vibrierten in der Luft und der Kopf ruhte prall wie eine frisch geschälte Blutorange auf dem Polster. Oh, ich fühlte mich so gut.
Die Hebamme wäre in dem Moment vor Glück fast gestolpert. Stattdessen stürzte sie jubelnd zum Fenster, denn am Nebendach schwenkte jemand seinen Tirolerhut und rief:
„Sie zieh’n sich zurück. Die Alliierten zieh’n sich zurück. Wir haben gewonnen. Heil Hitler.“
Mein Vater grinste breit, während er wie ein Affe an seinem Seil hin und her wippte und immer lauter und freudiger mit den Fingern gegen das Fenster trommelte und schließlich zu uns ins Zimmer rief:
„Vielleicht wird unser Ali doch noch ein Adi.“
Meine Mutter war eingeschlafen, mit dem aufgeschlagenen Beobachter über dem Gesicht, am Titelbild die Alpenfestung, obwohl am Bild nur ein in die Ferne blickender Soldat zu sehen war, hoch droben auf einen Felsgrat, und hinter ihm ein in Stellung gebrachtes Geschütz. Darüber stand in dicken Lettern „Soll’n sie nur kommen“ und „Wir werden euch den Orsch versohlen.“
Aus diesem kurzen alpenfesten Schlaf, aus diesem Nickerchen erwachte sie, schreckte direkt hoch, sodass die Zeitung von ihr abrutschte und sie noch im Halbschlaf fragte: „Hat der Hitler oder der Hofer die Wutwaffe gezündet? Lodert von den Bergen endlich das Feuer des Widerstands?“ Sie rieb sich die Augen. Sie bemerkte nicht, dass an ihren Händen ein Gemisch aus Blut und Fruchtwasser klebte. Jene Flüssigkeiten, die bei meiner Geburt mit mir ausgetreten waren, mir das Austreten oder Hervortreten erleichtert hatten, aber die sie, meine Mutter, sich jetzt direkt auf ihrem Gesicht verteilte. Die Hebamme bemerkte es ebenfalls nicht, da sie gerade in den Spiegel blickte und sich mit dem Lippenstift rote Herzen auf die Wangen malte. Sie rechnete trotz der guten Nachricht nicht mehr mit einem Sieg und sagte sich: „Ein einfaches, aber offenherziges ‚I heart you‘ wird bei den Alliierten bestimmt gut ankommen.“ Sie war schon von Anbeginn, weit vor 1938, bereits 1933, kaum zu überzeugen gewesen. Die Geschichte mit den Juden, so hatte sie sich das überlegt, war ja in Innsbruck oder eigentlich im gesamten Tirol kaum der Rede wert. Wegen der wenigen hätte man hier bestimmt keinen Hitler gebraucht. Aber dass den Juden das schönste Kaufhaus der ganze Stadt gehörte, dass die beiden Familien Bauer & Schwarz hier mitten im Zentrum von Innsbruck ein Warenhaus betrieben hatten, das war auch in ihren Augen etwas übertrieben. Ein kleiner Laden, vielleicht nicht so zentral, mehr in Amras oder Völs, das wäre etwas anderes gewesen. Trotzdem, selbst in einer so schweren Stunde wie heute war sie eigentlich immer gegen den Hitler. Der war einfach nicht der ihre. Das hatten die Nazis auch gespürt und sie deshalb in Ruhe gelassen. Sie war so etwas wie eine Irreguläre innerhalb der Nationalsozialisten, denn sie war nie wirklich richtig, nie mit dem Herzen dabei.
„Bist du blind? Nicht die Alliierten ziehen sich zurück. Das sind Sträflingskolonnen aus dem Arbeitslager, die verlassen die Baracken. Die hauen ab. Die kannst du jetzt vergessen.“
Schrie mein Vater, mit dem Feldstecher in der Hand, dem Mann am Hausdach gegenüber zu. Doch das Haus war schon nicht mehr da. Es war lautlos in sich zusammengestürzt, ohne dass wir es bemerkt hatten. Es war verschwunden. Eben stand es noch, nun lag es am Boden, wie ein Haus nach einem Zusammenbruch daliegen kann und selbst dieser Trümmerhaufen lag nur für einen Moment wie ein Häuflein Hauselend da, um im nächsten Moment vollkommen zu verschwinden. Auf mich machte das einen unglaublichen Eindruck. Nichts ist in dieser Welt von Bestand. Alles bricht zusammen und verschwindet.

„es fallen die häuser
wie blätter im herbst
reiszen löcher in die luft
ein baum erwächst dem schutt
reift und grünt im frischen licht
er blüht es ist ein apfelbaum
sein apfel fällt
fällt auf beton
ein minuskind
der erste sohn“

Knapp nach meiner Geburt verstarb ich dann auch. Meine Eltern meinten nur: „Er hätte sowieso nicht zu uns gepasst. Jetzt in der furchtbaren Nachkriegszeit. Jetzt wo wir die Stadt und ein ganzes Land von unten neu aufbauen müssen, wäre er uns kaum eine Hilfe gewesen.“
Mich überraschte mein Tod überhaupt nicht. Gleich nach der Geburt verspürte ich einen sonderbaren Reiz in meinem linken Bein. Heute ist es mir, als ob dort das Sterben begonnen hätte. Es war genau so, wie im Volksmund gesagt wird: Der Tod beginnt links unten. Zu dem Zeitpunkt, als die Hebamme die Nabelschnur durchschnitt, war mein linkes Knie bereits kalt und steif. Mein Füßchen schimmerte im kühlen Blau und es war mir so fremd geworden wie das metallene Gestänge des Bettes.
Als nächstes verstarben meine Ohren. Gerade, als ich mich an das Hören zu gewöhnen und es mir zu gefallen begann, zuckte ein Signalton durch mein Hirn und saugte alle Töne in sich auf. Aus meinem Ohr tropfte warmes Blut. In einer Welt vollkommen ohne Melodie lauschte ich einem sanften inneren Schleifen, das sich bald auch auf meine Augen übertrug. Die sichtbare Welt begann leicht zu flimmern und überall tauchten rötlichbraune Farbbläschen auf. Später war mir, als kämen Geräusche aus einer unbestimmbaren Ferne angekrochen, Geräusche, die schwere Ketten hinter sich herzogen und durch meinen Gehörgang schleiften. Ich hörte sie stöhnen und raunen, wenn sie an dem immensen Gewicht zogen, wenn sich jedes einzelne Glied der Kette wie ein Granitblock vorwärts schob, immer weiter in mich hinein, bis sich die Geräusche als ein abgrundtiefes Echo in mir auszubreiten begannen.
Dann kam eine Explosion.

Der Oberarzt hatte eben die Hakenkreuzbinde wieder aus der Kitteltasche gezogen, starrte sie an, schüttelte schweigend den Kopf, dann riss ihn die Wucht der Druckwellen nach hinten und schleuderte ihn gegen die Wand. Das Gauleiterbild kippte um, sodass das Portrait des Gauleiters nun am Hinterkopf auf dem Boden lag und von dort wie stumpfsinnig auf die Decke starrte. Sein großer olivenförmiger Kopf, absolut kanten- und knitterfrei, mit bereits in jungen Jahren so ausgereiften Wangen, rundem Kinn, den ausgeprägten Lippen, der freigekampelten Stirn: ein Mann mit einem richtigen Schädel. Dieses Portrait von einem Gauleiterschädel lag nun am Boden und mir war, als starrte er gar nicht mehr an die Decke, sondern sein Blick wäre längst von allem abgekehrt. Das Irdische des III. Reichs hatte für ihn ein Ende und er überlegte bereits, wie nun aus dem ganzen Dreck und Schlamassel herauszukommen war, denn er hatte die Vernichtung und Zerstörung nur im Zeichen des Sieges, aber niemals im Zeichen der Niederlage befürwortet. Das war etwas fundamental anderes.
Mir gefiel die Explosion. Es war als zwitscherten Vögel die schönsten Kinderlieder und bunte Vogelfedern tanzten durch die staubdurchzogene Luft. Dann hörte ich, wie Spinnen Schleichwege entlangtappend durch die Ritzen und Risse verschwanden.
„Das ist die Melodie der Ereignisse“, dachte ich und blickte verträumt durch das klaffende Loch in der Außenmauer, durch das einige Sonnenstrahlen fielen. Es war schön hier und mein Leben würde noch schöner werden.
Verstört starrte mich meine Mutter an. Sie lag mit aufgerissenen Augen im metallenen Kreißsaalbett und hechelte hungrig nach Luft. Vielleicht redete sie auch. Ich weiß es nicht. Mir war, als hörte ich eine eigenartige Blasmusik, die wie eine mexikanische Totenkapelle klang. Hätte ich gekonnt, ich hätte wohl getanzt. Aber so eng, wie sie mich an ihre Brust gezogen hatte, war keine Bewegung möglich. Ich steckte tief und fest in ihrer liebevollen Umklammerung.
Mir wurde wohl. Ein lauwarmer Geruch strömte mir entgegen. Ein stetiger Luftzug, der aus ihrem Mund kam, während sich ihre Brust und ihr Bauch wie ein Blasebalg wölbten, im bebenden Rhythmus ihres vollkommen vor Leid erregten Körpers. Zitternd öffnete und schloss sie ihre Lippen. „Mutter“, dachte ich mir, „so sprich doch zu mir. Wie soll ich es tun? Das Leben in mir hat kaum mehr die Kraft, das Herz weiter schlagen zu lassen.“ Ich spürte nur ihren feuchten Atem auf meinem weichen Kopf und wie sich Speicheltropfen in meinen flaumigen Haaren verfingen. Ein mütterlicher Sommerregen im keuchenden Rhythmus ihres Atems, auf und nieder stieg ich in ihrem Wellengang und in mir begann ein tödlicher Schlaf zu gähnen. Sie schien es in ihrer Urverbundenheit vorauszuahnen.
„Oh Mutter. Ich fühle den Schmerz wie du meinen Hals emporwachsen, wie mein noch so junges Leben steif aus dem Abgrund meines Körpers stürzt – ohne Halt –, stürzt in ein stummes Nichts, ohne zu landen.“

Dann rauschte es nur noch. Es klang, als wären meine Ohren auf Feindsender gestellt und mir war, als dürfte ich nur heimlich hinhören, als könnte ich etwas Unerlaubtes, etwas Unmenschliches hören.
„Ali, Ali, was ist? Bleib hier. Ali! Mein Sohn, geh nicht. Mein Sohn, wir brauchen dich. Unsere Unschuld. Wir konnten nichts dafür. Du musst sie mit uns tragen. Wir haben nichts gewusst. Die Unschuld. Wir wollen dir Heimat sein. Wir sind eine Familie, wir sind ein Volk, ein Reich. Wir sind der Erlösung und dem Sieg doch schon so nah. Ich liebe dich.
Du wirst mein neues Leben sein. Mein Körper. Ali, du wirst Zukunft werden. Bitte bleib und geh nicht!“
Jetzt erst bemerkte ich, dass ihre vorderen Zähne stark angefault waren. Hinten in ihrer Mundhöhle fehlten zwei Backenzähne und ein Weisheitszahn ragte wie eine stumpfe Ruine hervor. Als hätte sie zu viel Krieg gefressen, sich ihr Gebiss in ein eiterndes Schlachtfeld verwandelt. Ihre Ohren hingen schlaff wie das Blattwerk einer verwelkten Blume bis an die Schultern, ihre Stirn war eingedrückt und voll vernarbter Falten, die sich aufgequollen übereinander schoben, und in den Augenhöhlen irrten zwei Blicke in kreisender Bewegung in die unterschiedlichsten Richtungen. So schön war sie.

Dann wurde der Raum dicht umwölkt von Millionen tanzender Staubkristalle. Tiefer englischer Nebel herrschte im Kreißsaalzimmer. Die Explosion umhüllte alles. Ich starrte in ein graues, flimmerndes Nichts. Es war wie vor der Geburt. Ich spürte die Hand meiner Mutter meinen Körper abtasten, als versuchte sie, mich in meiner Ganzheit zu fassen.
In dem Moment klirrte das Fenster, mein Vater kam hereingesprungen, zumindest erkannte ich im Staubnebel eine schattenhafte Vaterfigur, die seine Arme ausbreitete, in der Rechten ein Gewehr, in der Linken das Seil, wie ein Held stand er vor uns, wie ein aufklarender Morgen. Voller Zuversicht schritt er auf uns zu, übersah den Stuhl, stürzte über ihn und fiel Kopf voraus direkt mit der Wange in die am Boden liegende Schere. Nach einem knappen „Au!“ rappelte er sich wieder hoch, hob die Schere auf, gab sie der Hebamme und maulte:
„Geh Schatzl, sei a bissl vorsichtig damit.“
Die Hebamme warf vor Entsetzen die Hände in die Höhe, hielt sie anschließend vor das Gesicht und schrie. Mein Vater salutierte, ging zwei Schritte vor, drehte sich um, Schritt wieder zurück. Die Hebamme schrie noch immer, der Oberarzt zeigte auf das Loch in der Außenwand und konstatierte empört: „So nicht, meine Herren, nicht mit Deutschland … so darf das Reich nicht behandelt werden!“
Mein Vater nickte und schien vollkommen den Umstand zu ignorieren, den vorhin eine Granate verursacht hatte. Jetzt erst war es zu sehen. Sein linker Arm hing noch am Seil.
Es sah zwar nicht gut aus mit dem Sieg, aber mein Vater zeigte in diesem Moment keinerlei Anzeichen von Schwäche. Er sank standhaft auf das Bett meiner Mutter, ohne zu murren kroch er unter die Decke. Mir half das beim Sterben.
„Hört mir jetzt alle genau zu“, brummte mein Vater darunter hervor. „Ich weiß, unser Leben ist gerade an einem sehr gefährlichen Punkt angekommen. Ob wir den Krieg noch gewinnen werden, ist nicht sicher. Die Alliierten sind schon beim Höttinger Schwimmbad. Ich hab sie gesehen. Was sie jedoch nicht wissen, die Alpenfestung … also wenn der Bademeister … wenn dieser wie verabredet dort das ganze Wasser aus den Becken, das ganze Wasser rauslässt, dann werden die Amerikaner bestimmt noch einmal ein paar Meter zurückgespült und vielleicht reicht das. Die Wunderkerzen sind im Anflug. Herr Oberarzt, das stimmt doch?“
Der Oberarzt klopfte sich den Staub vom Mantel und salutierte:
„Jawohl, die Wunderkerzen sind im Anflug. Vollgeladen mit den unaussprechlichsten Verwünschungen und Grausamkeiten. Von Arschloch bis in den Tod!“
„Bis in den Tod! Ihr habt es gehört. Bis dahin müssen wir alle Ruhe bewahren und in Stellung bleiben.“

Meine Mutter schien dem keinen Glauben zu schenken und protestierte: „Das III. Reich ist verloren, doch in unseren Herzen, dort werden wir es wiederfinden. Unsere Menschlichkeit muss härter sein als Stahl.“ Sie sah mich mit ausdrucksleeren Augen an, in deren Winkeln sich kleine Tröpfchen sammelten, anwuchsen und zu funkeln begannen, bis sich vom rechten Auge ein dicker, glänzender Tropfen zu lösen begann, seine Spur über die Wange zog, immer weiter kroch, um irgendwo in den Tiefen des Gesichts zu stranden. Ich weiß nicht mehr, ob sie noch etwas zu mir sprach. Ich schloss meine Augen. In mir stockte etwas. Ich wimmerte. In diesem Augenblick verstarb ich ganz und fiel auf den Boden. Ich weiß nicht, woher ich das weiß. Ich weiß nur, dass ich auf den Boden fiel, mitten in die Waschschüssel, die mit Wasser befüllt wieder hingestellt worden war. Dort lag ich, als wäre ich eine Puppe, die ein Kind vergessen hatte. Es war angenehm. Mein Kopf wurde durch den Aufprall nach hinten gedrückt, ich quietschte lachend auf und öffnete die Augen.
Natürlich sah ich nichts. Ich spürte auch nichts mehr.
Eigentlich hätte ich von Anbeginn nichts spüren dürfen. Wer in einer Alpenfestung geboren wird, darf nichts mehr spüren. Wären wir alle so nah und dicht beieinander geblieben, hätte sich der Oberarzt, die Hebamme, der Gauleiter Hofer, hätten sich alle, so wie mein Vater am Ende, von Anfang an zur Mutter und mir ins Bett gelegt, wären wir alle im selben Bett gelegen, die Decke über unsere Köpfe gezogen, sodass wir wirklich zu einem Körper verschmolzen wären und hätten diesen Alpenpanzer um uns herum aufgezogen, sodass nichts mehr eindringen konnte, das Innen wäre vom Außen gereinigt und geschützt gewesen: Es hätte nichts passieren können. Wenn ein Körper, ein mächtiger gemeinsamer Körper sich panzert, zu einer Festung wird, wenn er sich zu einem Berg erhebt, schroff und felsig, mit Eis und Geröll, mit steinernen Wucherungen und spitz zulaufenden Spalten aufragt und majestätisch wird. Ein Körper mit Scharten, hinter denen man lauern kann, hinausschießen und trompeten und eine gemeinsame durchdringende Stimme ertönt, ein einstimmiger Chor, der für alle brüllt und das sagt, was schon immer gesagt werden möchte, von Anbeginn an, und eine tausendfingrige Hand, zu einer Faust zusammengeballt, niedersaust mit einer Kraft, die alles übertrifft, mit Wucht und Karacho, dass Lawinen abgehen, ins Tal sausen, dass die Stauseeen wackeln und über ihre Mauern spritzen. Wenn wir zu diesem Körper werden, zu einem wahrhaften Mythos, dann erwächst in einer durch und durch feindlichen Landschaft eine Alpenfestung. Die einem Schutz bietet, in die man sich verkriechen kann, wie man sich in einem Lied, einer Hymne verstecken kann und sich einrichten, einen Mut ansingen, sich schließlich daran erfreuen kann, zwar nur ein kleines, kaum bedeutendes Glied dieses Körpers zu sein, kein Gauleiter oder Oberstandartenführer, aber dennoch vollkommen dabei.
Aber es war nicht. Es gab keine Alpenfestung. Alles war durchlässig, feucht und so verschieden. Alles war ein Durcheinander, nichts von Bestand.
Im Nachhinein betrachtet war mein Leben sehr kurz. Kaum einen Tag lang.

Wenige Stunden nach meinem Tod hatten die US-Truppen Innsbruck vollständig eingenommen. Mein Vater wurde später als Widerstandskämpfer gefeiert. Meine Mutter wurde selig gesprochen. Der Gauleiter Hofer wurde verhaftet und verurteilt und musste zur Strafe sein restliches Leben als erfolgreicher Unternehmer in Mühlheim an der Ruhr verbringen. Die Überlebenden des KZ Reichenau verschwanden wieder aus der Geschichte. Jahre später kam ein offizielles Augenzwinkern und ein „Tschuldigung“. Der Oberarzt blieb Oberarzt und stellte in einer Obduktion fest, dass ich bereits vor der Geburt an einem Herzfehler litt, an dem ich nach der Geburt schließlich sterben musste. Beerdigt wurde ich nie. Ich ging in den Wirren des Kriegsendes einfach verloren. Der Oberarzt behauptete, er hätte mich dorthin gelegt, die Hebamme behauptete, dort wäre ich nicht gelegen. Vielleicht bin ich nur hinter ein Kästchen gerutscht und liege dort noch immer. Ich weiß es nicht. Manche vermuten gar, ich hätte nie existiert.

 

Andrej Paulitsch lebt in Wien und konnte einzelne Menschen, die nach Österreich migriert sind und nur wenig Chancen auf eine Aufenthaltsgenehmigung hatten, unterstützen, sodass sie dort leben konnten – oder in ein anderes europäisches Land gelangen konnten. Denn Solidarität ist eine Praxis. Und dann wäre da noch der Kampf für den Erhalt eines autonomen Zentrums. Denn die Praxis braucht Strukturen und Orte.

Prosa#1PS