Der Literaturnobelpreis als Agent einer universellen Kanonisierung
Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, dass man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht. […] Also musste der Kaufmann, der des Großen so wenig entbehren will wie eines Kompasses, den demokratischen Kunstgriff anwenden, die unmessbare Wirkung der Größe durch die messbare Größe der Wirkung zu ersetzen.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Das Etikett eines – symbolisch wie ökonomisch – hochdotierten Preises, wie der Nobelpreis einer ist, scheint in einem großschriftstellerischen Sinn besonders gut geeignet, die „Größe der Wirkung“ mess- und abschätzbar zu machen. Eine „kaufmännisch“ auszulotende Größe ausgezeichneter Schriftsteller_innen hängt demnach mit jener ökonomisch kalkulierbaren Größe zusammen, welche der Nobelpreis verkörpert. Die Größe der Wirkung bemisst sich anhand der Größe des Preises. Während das hochdotierte Preis-Etikett dazu dient, die Größe der Wirkung „kaufmännisch“ auszuloten, könnte die Größe der Wirkung als Maßstab für die „fachmännische“ Bewertung des Preises betrachtet werden. Männer und Frauen „vom Fach“ schätzen die literarische Leistung ein, die in dem mit einem Preis versehenen Werk veräußert worden ist. Anerkannte, d. h. auch distinguierte wie distinguierende kauf- und fachmännische Talente werden vordergründig zum Einsatz gebracht, wenn es darum geht, die „unmessbare Wirkung der Größe“ eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin oder eben eines Preises durch die „messbare Größe [seiner] Wirkung“ zu ersetzen.
Der Nobelpreis für Literatur wird oft dadurch illustriert, dass die Liste ausgezeichneter oder eben nicht ausgezeichneter Namen in schätzender oder abschätziger Weise für oder gegen ihn verwendet wird. Er versteht sich in dieser Hinsicht als Institution, die Autor_innen einen Namen macht, indem sie sich selbst einen Namen macht, indem sie gewisse andere Namen macht. Der Nobel-Kanon, der sich in den 114 Jahren Vergabepraxis herausgebildet hat, stellt in doppelter Hinsicht einen Teil des Vermögens dar, über das die Institution Literaturnobelpreis verfügt: ihr Potential und ihr Kapital, das generiert, regeneriert und zum Einsatz gebracht wird.
Die Größe der Wirkung dieses Mittels einer Kanonisierung lässt sich zunächst anhand einiger Koordinaten verankern:
Zeitliche Dimension
Der Literaturnobelpreis ist der erste internationale Literaturpreis. Seit 1901, d. h. seit mittlerweile 114 Jahren wird er jährlich gemeinsam mit den Nobelpreisen für Medizin, Chemie und Physik in Stockholm verliehen. Die jeweiligen Preisträger_innen für den Friedensnobelpreis werden vom Norwegischen Parlament, dem Storting, ermittelt. Der Literaturnobelpreis zählt zu jenen fünf Disziplinen, die ursprünglich von Alfred Nobel in seinem Testament angeführt als preiswürdig erachtet wurden. In den 114 Jahren wurde er 107 Mal verliehen. In den Jahren 1914, 1918, 1935, 1940, 1941, 1942 und 1943 erhielt kein_e Schriftsteller_in diese Auszeichnung. Während die Preise für Physik, Chemie und Medizin zum Teil auch in den Jahren des Ersten und Zweiten Weltkrieges verliehen wurden – ähnlich wie beim Literaturpreis sind einige Kriegsjahre ausgenommen –, decken jene Zeiträume, in denen der Friedensnobelpreis nicht verliehen wurde, die Kriegsjahre ab, mit zwei Ausnahmen: 1917 und 1944 wurde jeweils das Internationale Rote Kreuz ausgezeichnet.
Räumliche Dimension
Das Feld des Literaturnobelpreises konstituiert sich momentan aus 111 Positionen, die mit dem Preis-Etikett versehen wurden. In den 114 Jahren, in denen der Nobelpreis für Literatur 107 Mal verliehen wurde, erhielten ihn 111 Autor_innen, wobei zwei Autoren – Jean Paul Sartre und Boris Pasternak – die Auszeichnung ablehnten. De facto erhielten 109 Autor_innen den Nobelpreis für Literatur. Vier Mal wurden je zwei Autor_innen ausgezeichnet: 1904, 1917, 1966 und 1974. Während im Falle des Literaturpreises die Vergabe eines geteilten Preises jene Ausnahme darstellt, welche die Regel bestätigt, sind in den so genannten naturwissenschaftlichen Disziplinen Einzelvergaben eher die Ausnahme.
Die Träger_innen des Literaturnobelpreises kommen aus 38 verschiedenen Ländern. Von den 38 Ländern werden 20 bzw. 21 aus heutiger Sicht als „europäisch“ betrachtet – je nachdem, ob die Türkei als „europäischer“ oder als „asiatischer“ Staat eingeordnet wird. Fünf mittel- und lateinamerikanische und drei afrikanische Länder werden in der Liste literarischer Nobel-Nationen geführt. Auf dem asiatischen Kontinent liegen ebenfalls fünf von den 38 Ländern. Zwei nordamerikanische Staaten und ein karibischer Staat finden sich in der Nationenwertung des Literaturnobelpreises. Auch der fünfte Kontinent, Australien, ist in dieser Wertung vertreten. Frankreich, die USA und Großbritannien sind mit 15, 11 und 11 Literaturnobelpreisträger_innen in dieser Hinsicht die führenden Nationen. Japan, Chile und Südafrika stellen mit je zwei Literaturnobelpreisträger_innen die stärksten literarischen Nobel-Fraktionen außerhalb Europas und den Vereinigten Staaten. China wurde 2012 zum ersten Mal ausgezeichnet, während das postsowjetische Russland zu jenen Nationen zählt, denen bis dato keine Literaturnobelpreisträger_innen zugeordnet wurden. Die UdSSR ist mit vier Namen in der Nationenwertung vertreten, wobei einer der sowjetischen Schriftsteller_innen, Boris Pasternak, den Preis ablehnte. Im Gegensatz zur Ablehnung Sartres, die im Hinblick auf sein Werk mit Konzepten wie individueller Freiheit und Non-Konformismus erklärt wird, wird die Entscheidung Pasternaks auf innenpolitische Gründe zurückgeführt: Jene Diskurse, die zeigen möchten, dass er den Nobelpreis nicht habe annehmen dürfen, da er sonst des Landes verwiesen worden wäre, positionieren den Literaturnobelpreis als einen genuin „westlichen“, „kapitalistischen“, der der offiziellen Sowjetunion gleichsam naturgemäß zuwider sein muss. Dennoch nahm wenige Jahre später der in der UdSSR etablierte Schriftsteller Mikhail Sholokhov den Preis an. Bemerkenswert ist, dass Pasternak ein Jahr nach Albert Camus (1958), und Sholokhov ein Jahr nach Jean Paul Sartre (1965) ausgezeichnet wurden. Nach zwei französischen Schriftstellern, die sich in ihren literarischen, essayistischen, philosophischen Werken und auch als Aktivisten antikapitalistisch bzw. kapitalismuskritisch positionierten, wurden jeweils zwei Autoren mit sowjetischer Staatsbürger_innenschaft mit dem Preis-Etikett versehen. Camus, Pasternak und Sholokhov wurden vom schwedischen Schriftsteller und Akademie-Mitglied Harry Martinson, der ein paar Jahre später (1974) selbst den Nobelpreis erhalten sollte, nominiert. Die anderen beiden Schrifsteller, die als sowjetische Staatsbürger mit dem Preis ausgezeichnet wurden, waren Dissidenten bzw. Exilanten: Alexandr Solzhenitsyn (1970) und Joseph Brodsky (1987), der in den Nobel-Annalen mit einer Doppelstaatsbürger_innenschaft (USA, UdSSR) verzeichnet ist.
Preisträger_innen
Statistisch gesehen ist das Nobelpreis-Etikett vorgesehen für einen männlichen, weißen, 65jährigen Schriftsteller, der für seine in englischer Sprache verfassten Prosawerke bereits andere, symbolisch hochdotierte Auszeichnungen erhalten hat.
98 Autoren und 13 Autorinnen wurden bislang mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet – d. h. der Anteil der Preisträgerinnen liegt bei 11,7 Prozent, wobei einigen der mit Nobel-Etikett ausgezeichneten Autorinnen eine zusätzliche Vorreiterrolle – im Hinblick auf bislang nicht berücksichtigte Sprachräume, Länder und Ethnien – zukommt. Gabriela Mistral war 1945 die erste lateinamerikanische Preisträgerin. Toni Morrison erhielt 1993 als erste afro-amerikanische Autorin den Literaturnobelpreis. Der durchschnittliche Literaturnobelpreisträger ist zum Zeitpunkt der Preis-Verleihung 65 Jahre alt. Rudyard Kipling ist mit 42 Jahren der jüngste, Doris Lessing mit 94 Jahren die älteste Preisträgerin.
30 Nobelpreisträger_innen sind englischsprachige Autor_innen, d.h. sie verfassen ihre Werke zumindest teilweise in englischer Sprache. 16 französischsprachige, 14 deutschsprachige und 11 spanischsprachige Schriftsteller_innen wurden bislang mit dem Nobel-Etikett versehen. Der arabische Sprachraum ist lediglich mit einem Preisträger repräsentiert, der jedoch, wie wir weiter unten sehen werden, in den Reaktionen auf die Preisvergabe wiederum einem europäischen Kanon einverleibt wurde.
In Alfred Nobel verkörpert sich jener Typus des großzügigen Mäzens, der sein ökonomisches, moralisches und kulturelles Vermögen zum Einsatz bringt, um nachfolgende Generationen in seinem Sinne zu fördern. Gleichzeitig bildet diese Form des gönnerischen Mäzenatentums den Gegenpol zu jenen literarischen Avantgarden, in denen der Anspruch auf Autonomie gegenüber Hierarchisierungsprinzipien, die der ökonomischen oder politischen Logik folgen, herausgebildet wird. Das Prestige der Idee ist demnach ambivalent: Während eine international agierende Elite, welche über beträchtliches ökonomisches, politisches und kulturelles Kapital verfügt, einen Austragungsort für nationale Rivalitäten in symbolisch hochgeschätzten Bereichen gefunden hat, stellt die Idee des Nobelpreises für die Avantgarde einen negativen Wert dar – sich vom „letzten Willen“ und dem Geschmack eines Gönners abhängig zu machen, würde die Veräußerung all jenes spezifischen Kapitals bedeuten, das im Sinne einer autonomen Position innerhalb des literarischen Feldes akkumuliert wurde.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wert der Tradition: Der Wert der Tradition der Schwedischen Akademie als Akademie nach französischem Vorbild besteht in der Wertschätzung ihrer Urteilskraft auf höchster Ebene. Die Herausbildung der neuen Tradition der Nobelpreisvergabe unter der Voraussetzung eines zumindest teilweisen Bruches mit der althergebrachten stellt das traditionelle Renommee der Akademie einerseits in Frage; andererseits trägt diese zur sukzessiven Anerkennung des Wertes des Preises bei. Der Wert der Tradition ist insofern relativ: Wie die französische Literaturwissenschafterin Pascale Casanova gezeigt hat, können in der literarischen Weltrepublik nur die Alten, les anciens, Modernität definieren bzw. Werke als „modern“ deklarieren. Als preisverleihende Instanz hatte die Schwedische Akademie im ersten Jahrzehnt der Preisvergabe zu wenig Tradition, als dass sie Modernität in Werken hätte auszeichnen können. Der Bruch mit der althergebrachten Tradition bedeutet in diesem Sinne sowohl den Verlust als auch die Akkumulation gewisser Werte, welche die Akademie mehr und mehr in die Lage versetzen, auch moderne Werke auszuzeichnen, die Potential haben, als „Klassiker“ (classiques), d. h. der Rivalität zwischen Nationalliteraturen zeitweise enthoben, oder gar als „Universelle“ (universels), d. h. frei von jeglichem Partikularismus, anerkannt zu werden.
Einen auf den ausgezeichneten Werken basierenden Kanon zu etablieren, spiegelt den Versuch, den Wertbestand einer kulturellen und im weitesten Sinne sozialen Formation darzustellen. Als Agent einer universellen Kanonisierung tätig werden zu können heißt aber auch, sich auf eine Tradition berufen zu müssen, die das „Universelle“ ins Auge gefasst und bis zu einem gewissen Grad mitgestaltet hat. Aber dies wiederum setzt den Bruch mit der althergebrachten Tradition nach französischem Vorbild voraus. Dieser Bruch ist freilich nicht mit einer Radikalität vollzogen worden, die dem Nobelpreis einen spezifischen Wert im Sinne der Positionen der Avantgarden verliehen hätte.
Auch der Stellenwert der Literatur ist ambivalent: Der in Nobels Testament verankerte Aspekt des „größtmöglichen Nutzens für die Menschheit“ ist dem Anspruch des l’art pour l’art diametral entgegengesetzt und markiert einen Gegenpol zu dem um seine Autonomie ringenden Feld der literarischen Avantgarden. Von diesem Standpunkt aus ist auch der Wert politischer Aspekte zu betrachten: Während es etwa Emile Zola gelingt, sich im politischen Feld nach allen „Regeln der Kunst“ durchzusetzen, werden im Hinblick auf den Stellenwert der Literatur und deren nobelpreiswürdigen Wert eher universalistische, moralische und konkret politische Bezüge verschleiernde Ansprüche geltend gemacht: Nutzen; moralische Integrität, die es im Werk aber auch in der Lebensführung zu bewahren gilt; eine dezidierte Neutralitätspolitik während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg.
Die durch die Stiftung des Nobelpreises perspektivierte Inter-Nationalisierung entspricht weniger der Gründung eines internationalen Feldes der Literatur, als vielmehr einem ungleichen Wettbewerb zwischen Nationalliteraturen. Die Angemessenheit des Preises, seine Bedeutung für die Legitimierung einer „Weltliteratur“ – also eines weltweit anerkannten und verbindlichen Literaturkanons – sowie kulturelle und nationale Zuschreibungen folgen inneren Prinzipien, die sich im nomos als von allen Beteiligten stillschweigend angenommenes Selbstverständnis verkörpern.
Um nun den nomos, den impliziten Literaturbegriff, freizulegen, welcher dem praktischen Sinn der Preispolitik innewohnt, bedarf es einer eingehenderen Betrachtung der in den vergangenen 107 Jahren angewandten Exegesen des Nobel-Testaments. In dieser Hinsicht entdeckt man fünf Phasen, in denen sich der Blickwinkel auf die Angemessenheit des Preises verändert hat. Phase 1: Die großen Toten packen die Lebenden; Phase 2: Der Tod ereilt die Lebenden; Phase 3: Ein Leben nach dem Tod; Phase 4: Im Leben stehend; Phase 5: Eine literarische Welt.
Während im ersten Jahrzehnt der Preisvergabe die „großen“ Namen längst verstorbener Dichter_innen maßgeblich sind für die Auswahl der Preisträger_innen, muss sich die preisverleihende Instanz in den darauffolgenden zwei Jahrzehnten vor allem mit dem Problem befassen, dass die für den Literaturnobelpreis in Betracht gezogenen Autor_innen schon am Ende ihres Lebens stehen. Der bleibende, also über die Lebenszeit der Verfasser_innen hinausgehende Wert eines literarischen Werkes wird in weiterer Folge ausschlaggebend für die Ausrichtung der Preispolitik. Wird in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf das bereits bestehende Werk von Autor_innen Wert gelegt, rückt in weiterer Folge sukzessive das Potential der Preisträger_innen in spe in den Mittelpunkt des preispolitischen Interesses. Der Preis soll der Realisierung dieses Potentials dienen. Auch jene Auszeichnungen, die an Autor_innen verliehen werden, die an den Peripherien der literarischen Weltrepublik angesiedelt sind, werden vordergründig als generöse Investitionen in durchaus förderungswürdige Sprach- und Kulturräume betrachtet.
Der Raum des Literaturnobelpreises dimensioniert sich in zweierlei Hinsicht: einerseits kraft innerer Gesetzmäßigkeiten, die sich in der Vergabepraxis zeigen. Andererseits wirken sich die im Spannungsfeld der literarischen Weltrepublik freigesetzten Kräfte auf die national, sprachlich oder kulturell definierten Räume aus. Die entsprechenden Angelpunkte haben sich in beiden Fällen im Laufe der Geschichte des Preises verschoben. Die rechtmäßig, also im Testament und in den Statuten verankerten Kriterien sind nicht mehr zentral für die Auswahl der Preisträger_innen. Es sind auch nicht mehr ausschließlich europäische Schriftsteller_innen, die als preiswürdig in Betracht gezogen werden. Die sich anhand einiger Zentren und mehrerer Peripherien herausbildende Struktur der literarischen Weltrepublik bildet sich im Feld der Nobelpreisträger_innen ab. Führend in der Sprachen- und Nationenwertung des Literaturnobelpreises sind jene Sprachräume und Nationalliteraturen, die auch in der literarischen Weltrepublik tonangebend sind. In ihrer Studie „La République Mondiale des Lettres“ (Paris 1999) zeigt Pascale Casanova anhand der Transferprozesse, die zwischen unterschiedlichen literarischen Feldern und Sprachräumen stattfinden, wodurch „große Literaturen“ ihr Durchsetzungsvermögen akkumulieren, stabilisieren und wohldosiert an „kleine Literaturen“ weitergeben. In einer Aufzählung, die exemplifizieren soll, wie groß der Einfluss vornehmlich Pariser Konsekrationsinstanzen auf die weltweite Anerkennung von Autor_innen „kleiner“ bzw. verhältnismäßig „kleinerer Literaturen“ ist, nennt Casanova 13 Namen, von denen bislang vier mit dem Nobelpreis-Etikett versehen worden sind (Mario Vargas Llosa, Gabriel García Marquez, Octavio Paz, Elfriede Jelinek – im übrigen spiegelt sich an dieser Stelle auch das Verhältnis Autoren – Autorinnen wider). Das heißt, dass der Literaturnobelpreis nicht die Chancengleichheit aller „literarisierten“ Räume gewährleistet, sondern – ganz im Gegenteil –, dass sich in ihm die Hierarchien und Machtverhältnisse innerhalb des weltweiten literarischen Feldes reproduzieren. Die Zugehörigkeit zu einer Nation wird nur vordergründig außer Acht gelassen und nur dann, wenn man bereit ist zu übersehen, wie sich in der Vergabepraxis die Wertungen der unterschiedlichen Literatur-Nationen zeigt: So erweist etwa ein Drittel der offiziellen Begründungen für die Preisvergabe dem Heimatbezirk, dem Herkunftsland oder dem „ursprünglichen“ Kulturgebiet der jeweiligen Preisträger_innen Reverenz. Das ist insofern bemerkenswert als ein Preis, dessen „universeller“ und internationaler Charakter testamentarisch verankert ist, zu einem guten Teil auch für Aspekte literarischen Schaffens verliehen wird, die in engen Zusammenhang mit einer regionalen, nationalen oder kulturellen Herkunft der Autor_innen gebracht werden. Das zeigt, wie sehr der „universelle“ und inter-nationale Anspruch des Nobelpreises verbunden ist mit dem Konzept der Nationalliteratur, das diesen Zuordnungen literarischer Produktionen zu einem Land, einer Region, einer Kultur ebenso zugrunde liegt wie den Nationenwertungen (der Nobelpreis für Frankreich, für Österreich, für Deutschland und so weiter).
Tatsächlich besteht der Wert der Angemessenheit des Preises genau darin, die zentralen Verhältnisse, die in diesem literarischen Universum herrschen, auszuzeichnen. In diesem Sinne sind die Werturteile der Schwedischen Akademie weiterhin als orthodox, d. h. der jeweils etablierten doxa folgend, zu betrachten.
In den ersten Jahrzehnten der Vergabe des Literaturnobelpreises wird das Vorschlagsrecht ausschließlich innerhalb der eigenen Reihen vergeben. Das Sonderstatut der Schwedischen Akademie sieht vor, dass „Mitglieder der Schwedischen Akademie, Mitglieder der französischen und spanischen Akademie, Mitglieder der Kulturabteilungen anderer Akademien sowie Mitglieder von Institutionen und kulturellen Gesellschaften, die im Rang von Akademien stehen; Universitätsprofessoren der Ästhetik, Literatur und Geschichte“ angesichts ihrer Tradition und ihres Renommees mit einer neuen Form von Konsekrationsmacht ausgestattet werden. Im Fall der Akademien nach französischem Vorbild, der Schwedischen und der Spanischen Akademie, steht diese Macht im Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Aufgabe – nämlich der Standardisierung einer Sprache, die als gemeinschaftliches Ausdrucksmittel gehegt und gepflegt wird. Der erste Literaturnobelpreisträger Sully Prudhomme, selbst Mitglied der Académie Française, wurde von siebzehn Kolleg_innen der Académie vorgeschlagen. Das Gefühl, jemand aus den eigenen Reihen sei am ehesten dieses Preises würdig, ist nicht unbedingt auf die Arroganz oder Borniertheit der Mitglieder zurückzuführen, sondern erklärt sich aus der Perspektive, die im Hinblick auf den jahrhundertealten, höchst anerkannten Aufgabenbereich ausgebildet wurde. In diesem Sinne ist auch das ursprüngliche Sonderstatut der Schwedischen Akademie zu verstehen: Das Vorschlagsrecht wird innerhalb der eigenen Reihen vergeben, um sich des symbolischen Wertes (Kompetenz, Sachverstand) der eigenen Tradition zu versichern, mit der gleichzeitig – de facto, durch die Preisverleihung und die Nominierung (der Kandidat_innen bzw. der mit dem Vorschlagsrecht Ausgestatteten) – gebrochen wird.
Im Herbst 1948 wird das Sonderstatut der Schwedischen Akademie dahingehend novelliert, dass auch „die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Schriftsteller [sic!] und die Vorsitzenden der für die literarische Produktion ihres Landes repräsentativen Schriftstellervereinigungen“ mit dem Recht versehen werden, ihre Kandidat_innen zu nominieren. Diese Ausdehnung des Vorschlagsrechtes korrespondiert als Aspekt der Preispolitik einerseits mit den Anforderungen eines Marktes symbolischer Güter, der sich zusehends dekolonialisiert, andererseits zeigt sich auch in der Nominierungspraxis der späten 1920er Jahre bereits die Wertschätzung der Vorschläge anderer, in der ursprünglichen Fassung des Statuts nicht berücksichtigter Institutionen.
Nach der Nominierung liegt das weitere Auswahlverfahren, das ein ganzes Nobel-Jahr, d. h. von Herbst zu Herbst, in Anspruch nimmt, de jure ausschließlich in den Händen der Schwedischen Akademie und ihres Nobelkomitees. Die jährlich ca. 200 eingegangenen Vorschläge reduziert das Nobel-Komitee auf eine Liste von 15 bis 20 Autor_innen, die im April in der Akademie diskutiert wird. Ende Mai präsentiert das Komitee seine üblicherweise fünf Kandidat_innen. Es ist gängige Praxis, dass niemals Kandidat_innen, die zum ersten Mal in diese engste Auswahl kommen, ausgezeichnet werden. Bei dieser praktischen „Vorsichtsmaßnahme“ handelt es sich um einen Erfahrungswert, der preispolitisch umgesetzt worden ist und bis heute zum Einsatz kommt. Die so genannte „Lex Buck“, die als ungeschriebenes Gesetz seit der Auszeichnung Pearl S. Bucks 1938 in Kraft ist, zeigt, dass die angemessene Wahl der Preisträger_innen nicht ausschließlich in der Hand der preisverleihenden Instanz liegt. Symbolische Werte können nicht autark, d. h. ohne auf die gerade am Markt kultureller Güter herrschenden Gesetze zu achten, verwaltet werden. Die Breitenwirkung, welche die Romane Bucks in dieser Zeit erreicht haben, ließen sich in den Augen einer weltweiten literarisch interessierten Öffentlichkeit nicht mit dem Nobelpreis auszeichnen. Das an Pearl S. Buck verliehene Nobel-Etikett gilt allgemein als Fehlgriff, der offenbar so merkwürdig war, dass von da an alle Autor_innen mindestens zwei Jahre auf der short list verbringen müssen, um mit dem Nobelpreis ausgezeichnet zu werden. In Zusammenhang mit diesem „Fehlgriff“ ist allerdings nicht der Umstand diskutiert worden, dass gerade im Jahr 1938 – in offenkundiger Ignoranz der in Europa herrschenden Faschismen – eine Autorin für die „wahrhaft epischen Schilderungen des chinesischen Bauernlebens und für ihre biographischen Meisterwerke” ausgezeichnet worden ist. Die dezidierte Neutralitätspolitik, die der Nobelpreis während des Ersten Weltkrieges für sich beansprucht, scheint auch für den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg zu gelten. „Neutralität“ in diesem Sinne bedeutet aber eine träge Indifferenz, eine Ignoranz, die stets die herrschende, die etablierte Ordnung stützt und mitträgt. Insofern ist es nicht möglich, eine „unpolitische“ Entscheidung zu treffen, auch – und wir würden sagen gerade dann – wenn es sich um einen hochdotierten Literaturpreis handelt. Es wäre durchaus möglich gewesen, Schriftsteller_innen auszuzeichnen, die sich in ihren Werken und als Aktivist_innen gegen Krieg und Faschismus positionieren.
Von konkreten politischen Zusammenhängen – scheinbar – unabhängig und also „universell“ zu sein, das den universellen Anspruch unterstreichende, ritualisierte Verleihungszeremoniell, das Nominierungs- und Auswahlprozedere, die zuvor diskutierten, der Vergabepraxis zugrunde liegenden impliziten Literaturbegriffe, die offizielle Begründung einer Wahl, die Neigungen, gewisse Dinge anlässlich der Verleihung des Preises auszusprechen und so weiter sollen das jeweilige Interesse am Preis gewährleisten.
Der Wert des Preises zeigt sich, wie wir vorhin gesehen haben, in der Liste der mit dem Preis-Etikett versehenen Autor_innen, wobei die Exklusivität des Nobel-Kanons die in der literarischen Weltrepublik herrschenden Machtverhältnisse reproduziert. In diesem Sinne wird der bislang einzige arabophone Nobelpreisträger Naguib Mahfouz (1988) in zweierlei Hinsicht exklusiv behandelt: Der bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe seiner Auszeichnung in Europa relativ unbekannte Mahfouz – er selbst verweist in seiner Nobelvorlesung darauf: Ihm wurde von einem Korrespondenten in Kairo erzählt, dass in dem Moment, in dem sein Name in Zusammenhang mit dem Nobelpreis genannt wurde, alles verstummte und viele sich fragten, wer er denn sei – wird in europäischen Medien mit zu kulturellem Allgemeingut gewordenen literarischen Größen identifiziert und als „Tolstoi der arabischen Kultur“, als „Emile Zola vom Nil“, als „Balzac von Ägypten“, als „Dickens der Kairoer Cafés“ bezeichnet oder verglichen: „so [wie Naguib Mahfouz] saß auch Henrik Ibsen um die Jahrhundertwende allmorgendlich im […] Café und studierte aufmerksam an Aussehen, Benehmen, Haltung den Charakter der Passanten“. Diese Aneignung des Unbekannten ordnet nicht nur das Werk Mahfouz’, sondern auch das Produktionsfeld, das es hervorgebracht hat und das sich durch dieses reproduziert, einer Nomenklatur der literarischen Tradition Europas unter. Der „arabische“ Nobelpreisträger, ein Unikat, wird aufgenommen ins Pantheon europäischer Literatur. Wobei die Werke Mahfouz bereits zehn Jahre vor der Nobelpreisverleihung übersetzt wurden.
Der außergewöhnliche Charakter dieser Auszeichnung, der die Leistung, endlich auch einen „arabischen“ Autor auszuzeichnen, unterstreichen soll, wird durch die Unmittelbarkeit, mit der Mahfouz augenscheinlich ausgezeichnet wurde, noch hervorgehoben. Er wird zum Pionier stilisiert, welcher der „arabischen Literatur“ bzw. sogar der gesamten „arabischen Kultur“ den Weg nach „Europa“ ebnen soll.
Setzt man nun die Pioniersarbeit des Nobelpreisträgers als Bedingung für die Wertschätzung „arabischer“ Literatur in Europa und die sagenhafte Unbekanntheit Mahfouz vor 1988 voraus, hätte Mahfouz niemals für den Literaturnobelpreis in Betracht kommen können. Niemand wäre auf die Idee gekommen, „arabische“ Literatur als preiswürdig zu erachten oder den lediglich „regional“ bekannten Autor Naguib Mahfouz mit dem Nobel-Etikett zu versehen. Aber dem Preis für Mahfouz gingen Versuche voraus, sich der „regionalen“ Abgeschiedenheit des „arabischen“ Sprachraumes zu entziehen. So wurde etwa 1984 im Rahmen der Lund-Konferenz das Interesse der damaligen Mitglieder der Schwedischen Akademie auf „arabische“ Literatur gelenkt und arabisch-schwedische Kulturkontakte geknüpft. Auch vor 1988 gab es etliche Initiativen, die Nominierung von Autor_innen aus dem „arabischen Raum“ zu unterstützen und durchzusetzen. Die Auszeichnung Mahfouz’ muss somit vielmehr als Ergebnis der vermittelten Sichtbarkeit einer Indifferenz und der getarnten Überheblichkeit jener Literatur gegenüber gesehen werden, die den elaborierten Interessen an und in den Zentren der „literarischen Weltrepublik“ gleichsam entgangen sind.
Die anhand des Literaturnobelpreises messbar gemachte „Größe der Wirkung“ von Naguib Mahfouz kann nicht die „unmessbare Wirkung [seiner] Größe“ ersetzen. Der Maßstab, den der Literaturnobelpreis als Mittel einer Kanonisierung darstellt, unterliegt Bedingungen, die es ermöglichen, sowohl die „unmessbare Wirkung [seiner] Größe“ anhand der Liste der Preisträger_innen als messbare Größe zu betrachten, als auch diese messbar gemachte Größe unmessbarer Wirkung der Größe des Preises zu hinterfragen. Diese Bedingungen, von denen einige in diesem Essay diskutiert worden sind, werden, wie wir gesehen haben, vor allem durch den Anspruch, Agent einer universellen Kanonisierung zu sein, verschleiert.
Eva Schörkhuber fragt sich, wie sie* die Reproduktionsmechanismen herrschender Verhältnisse analysieren, unterwandern, sabotieren kann. Und sie* freut sich, dass sie* immer mehr Menschen kennenlernt, die den Möglichkeitssinn literarischen Schreibens nicht als reine Formalität betrachten, sondern als Mittel und Weg, Zeitgenoss_innenschaft zu leben, zu artikulieren, in Anspruch zu nehmen. Schreibbanden bilden!
Literatur
Zu den Transferprozessen, den Zentren- und Peripherieverhältnissen, sowie den Reprodukstionsmechanismen innerhalb der literarischen Weltrepublik siehe:
Pascale Casanova: La République Mondiale des Lettres. Paris: Seuil 1999.
in englischer Übersetzung: The World Republic of Letters. Übers. Von M.B. DeBevoise. Cambridge, MA and London: Harvard University Press 2004.
Zur Ökonomie in literarischen Feldern siehe:
Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Übers. von Achim Russer und Bernhard Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.
Zur konkreten Analyse von Konsekrationsinstanzen im literarischen Feld siehe:
Burckhard Dücker; Dietrich Harth; Marion Steinicke und Judith Ulmer: Literaturpreisverleihungen: ritualisierte Konsekrationen im kulturellen Feld. Forum Ritualdynamik. Nr. 11. April 2005. In: http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/5490 (Stand 26.07. 2015)
Burckhard Dücker und Verena Neumann: Literaturpreise. Register mit einer Einführung: Literaturpreise als literaturgeschichtlicher Forschungsgegenstand. Forum Ritualdynamik. Nr. 12. Juni 2005. In: http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/5811 (Stand 26.07. 2015)