Postmigration Reloaded: Ein Schreibgespräch
Kyung-Ho Cha und Jeannette Oholi machten sich im Frühsommer 2021 auf die Suche nach anderen Schwarzen Wissenschaftler*innen und Wissenschaftler*innen of Color, die in der Germanistik oder deutschsprachigen Literaturkritik tätig sind, und kamen dabei ins Gespräch mit Maha El Hissy und Maryam Aras.
Es folgten digitale Treffen, in denen wir uns über das Postmigrantische, Marginalisierungen und Rassifizierungen in der germanistischen Literaturwissenschaft und der Literaturkritik austauschten. Die Gespräche waren sehr intensiv, und uns wurde bewusst, dass es eine andere Form als jene des wissenschaftlichen Artikels braucht, um unsere Gedanken auch anderen zugänglich zu machen. Die Idee eines Schreibgesprächs entstand. Es bewegt sich entlang von Fragen, die wir gemeinsam zu Geschichte und Problematisierung des Begriffs des Postmigrantischen, seinem Nutzen für Literatur, Literaturkritik und -Wissenschaft und seinem Verhältnis zum Postkolonialen entwickelt haben.
Wir beantworten diese Fragen je nach Interessen- und Kompetenzschwerpunkten. Es handelt sich dabei um ein offenes Gespräch, das gerne weitergeführt werden kann.
Wenn ihr auf die Entwicklung des Postmigrantischen von den 2000er-Jahren bis heute zurückblickt: Welche Bilanz zieht ihr?
Jeannette: Aus meiner Sicht hat das Postmigrantische in den Jahren an Stärke und Strahlkraft verloren. Wenn ich daran denke, was Shermin Langhoff Anfang der 2000er-Jahre unter dem Postmigrantischen verstanden hat und wie es heute vor allem in den Wissenschaften verwendet wird, so finde ich, dass das Subversive abhandengekommen ist. Langhoff bezeichnete als postmigrantisch ihr künstlerisches Schaffen, das von der familiären Einwanderungsgeschichte geprägt ist und davon, von der weißen Dominanzgesellschaft marginalisiert und rassifiziert zu werden. Für mich hat diese postmigrantische Selbstpositionierung etwas Emanzipatorisches – Menschen mit Migrationsgeschichte ließen sich nicht mehr länger kategorisieren, sondern definierten sich selbst. Das Postmigrantische trug zu einer Sichtbarkeit für plurale Identitäten bei und stellte diese als Teil Deutschlands in den Mittelpunkt. Außerdem etablierte Shermin Langhoff, wenn ich an das Ballhaus Naunynstraße und an das Gorki Theater in Berlin denke, Räume für marginalisierte und rassifizierte Künstler*innen. Räume, jenseits der vielen weißen Räume, in denen Künstler*innen of Color immer wieder reduziert, rassifiziert und vereinnahmt werden. Wenn ich an Schriftsteller*innen wie Fatma Aydemir, Max Czollek, Hengameh Yaghoobifarah, Deniz Utlu, Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Asal Dardan und viele andere denke, sehe ich, dass durch diese Räume und die Vernetzungen großartige Literatur entstanden ist, die maßgeblich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur formt.
Heute ist das Postmigrantische weichgespült und ich spüre den empowernden, radikalen, hegemoniekritischen Geist nicht mehr. Das liegt daran, dass das Postmigrantische als widerständige Selbstbeschreibung marginalisierter Menschen und ihres künstlerischen Schaffens von der weißen Dominanzgesellschaft angeeignet wurde. Das Postmigrantische ist nun auch gut verdaulich für weiße Wissenschaftler*innen, da der Fokus nicht mehr so stark auf Rassifizierungs- und Marginalisierungsprozessen liegt. Hier möchte ich gerne auf Fatima El-Tayebs Publikation Undeutsch (2016) verweisen. In der Einleitung setzt sich El-Tayeb kritisch mit dem Postmigrantischen auseinander und plädiert dafür, rassismuskritische Forschung noch mehr mit dem Postmigrantischen zusammenzudenken, damit das Postmigrantische nicht zu einer neuen Kategorie werde, die „herrschaftsstabilisierend“ (El-Tayeb 2016, S. 23) wirke. Leider habe ich das Gefühl, dass eben das eingetreten ist.
Ich sehe, dass in den Literaturwissenschaften das Postmigrantische und die Bezeichnung ‚postmigrantische Gesellschaft‘ in einem sehr zeitlichen Sinn – nach der Migration – genutzt wird. Riem Spielhaus verwendet das Postmigrantische hingegen, um eine „Obsession für Migrations- und Integrationsthemen“ (Spielhaus 2014, S. 97) in Deutschland zu markieren. Die postmigrantische Gesellschaft zeichne sich, so Spielhaus, dadurch aus, dass sie mit der eigenen Pluralität hadere und Migration nicht als Normalität, sondern als Problem ansehe. Derlei Spannungen spiegeln sich auch in vielen literarischen Texten der Gegenwart wider. Weshalb es eine Literaturwissenschaft braucht, die sich Fragen von Dominanz, Macht, Marginalisierung und Rassifizierung stellt. Wir müssen mehr über race sprechen – auch in den Literaturwissenschaften.
Mich beschäftigt, wie das Postmigrantische auch heute noch als radikale Haltung, Denkweise und Theorie genutzt werden könnte, um die rassistische Gesellschaft, in der wir leben, nachhaltig zu irritieren und zu verändern. Derzeit habe ich in den Wissenschaften und Künsten den Eindruck, dass mehr auf internationale Theorien, Methoden und Kritiken wie etwa die Postcolonial Studies, Queer Theory sowie andere dekoloniale und intersektionale Ansätze zurückgegriffen wird. Das sind Zugänge, die eine komplexe gesellschaftliche Analyse, die auch über Deutschland hinausgeht, ermöglichen.
Vielleicht liegt hier die Schwäche des Postmigrantischen: Obgleich es bereits Versuche gibt, das Postmigrantische als transnationale Perspektive zu nutzen, ist der Diskurs noch zu sehr auf Deutschland fokussiert und die Rezeption in anderen Ländern begrenzt. Es ist aber entscheidend, über Migration und ihre gesellschaftlichen/künstlerischen Auswirkungen nicht nur in einem nationalen Rahmen nachzudenken, sondern geografische Grenzen zu überschreiten. Weshalb in den Literaturwissenschaften über das Postmigrantische komparatistisch nachgedacht werden sollte und mehrere Länder einbezogen werden sollten. Denn das Postmigrantische an sich hat Potenzial und könnte, kombiniert mit anderen Theorien wie dem Postkolonialen und der Intersektionalität, neue Perspektiven eröffnen. Ein intersektionales, postkoloniales und komparatistisches Nachdenken über das Postmigrantische hätte zur Folge, dass Rassifizierungen und Marginalisierungen nicht mehr nur als singulär und ahistorisch sichtbar würden, sondern als Tiefenstrukturen, die Europa zugrunde liegen – Gloria Wekker spricht in White Innocence (2016) in Anlehnung an Edward Said von einer „racial grammar“ (Wekker 2016, S. 2).
Außerdem trägt das Postmigrantische auch ein transformatives Potenzial in sich. Es macht ja nicht nur hegemoniale Strukturen und die Auswirkungen auf Individuen wie auch Gesellschaften sichtbar, sondern kann eben Neues schaffen. Ich denke hier an das Postmigrantische als Perspektive, Selbstbeschreibung oder auch als künstlerische Praxis, die ‚Weißsein‘ markiert und dadurch das Narrativ eines weißen Europa destabilisiert. Die Transformationen, die das Postmigrantische anstoßen kann, beinhalten auch die Solidarität zwischen Communitys. Ich sehe es als etwas Verbindendes, das neue – auch transnationale – Allianzen zwischen marginalisierten Communitys schaffen kann.
In welchem Verhältnis steht das Postmigrantische zum Postkolonialen?
Maha: Das Postmigrantische hat sich in akademischen Arbeiten in Anlehnung an den Postkolonialismus entwickelt. Die postkoloniale Theorie öffnete den Raum für eine Literaturwissenschaft und -analyse aus der Sicht der Marginalisierten. Das Schreiben über die prägende Erfahrung und das Ende der Kolonialherrschaft soll(t)e von einer westlichen Hegemonie emanzipiert, gesellschaftliche Strukturen aus der Sicht der Kolonisierten neu erzählt und mitorganisiert werden. Es ging und geht um einen Perspektivenwechsel. Für den Begriff des Postmigrantischen haben Marc Hill und Erol Yildiz einen methodisch ähnlichen Vorgang vorgeschlagen. Laut ihnen bedeutet Postmigration auch, „die Geschichte der Migration neu zu erzählen und das gesamte Feld radikal neu zu denken und zwar jenseits des hegemonialen Diskurses.“ (Hill, Yildiz 2014, S. 11)
Einen problematischen Umgang mit dem Begriff des Postmigrantischen hast Du schon erwähnt, Jeannette. Nämlich, dass mittlerweile alles als postmigrantisch betitelt wird und der Begriff damit an Radikalität verliert. Es lässt sich besonders gut beobachten, wie er bei der Beschreibung des Verhältnisses zwischen west- und ostdeutscher Literatur an Schärfe verloren hat. Weil hier der Kolonialismus zur Metapher wurde, die das Missverhältnis der Macht innerhalb des geteilten Deutschlands beschreiben soll. Das Postmigrantische wird damit weich- und auch weißgespült. Ömer Alkin und Lena Geuer sprechen von Postmigration „als modische[n] Signifikant[en], der Anschluss an anti-rassistische, pro-migrantische Haltungen signifiziert.“ (Alkin, Geuer 2022, S. 12) Man muss hier vielleicht hervorheben, dass die Anlehnung des Postmigrantischen an den Postkolonialismus deswegen einleuchtet und funktioniert, weil für letzteren die Kategorie race unabdingbar ist. Ohne die Sicht und Stimmen des Globalen Südens lassen sich post- und dekoloniale Theorien und Literaturwissenschaft nicht denken. Ähnlich ist Postmigration nicht entstanden, um sich auf beliebige Migrationsbewegungen und Dynamiken zu beziehen, sondern um genau die, die das Machtgefälle zwischen einem weißen Machtzentrum und Marginalisierten beschreiben, hervorzukehren. Und genau diese Diskrepanz könnte das Postmigrantische als marker bezeichnen und gleichzeitig aufheben. Postmigration müsste mit race verklammert bleiben, ähnlich wie in Fatima El-Tayebs Verständnis vom Migrantischen selbst „as a deeply racialized concept“ (El-Tayeb 2008, S. 652; eigene Hervorhebung).
Jeannette: Absolut! Nur so kann ‚Weißsein‘ als konstruierte und rassifizierende Norm aufgedeckt werden. Ich erwähnte vorhin, dass das Postmigrantische ein transformatives Potenzial in sich trägt. Das gilt auch für das Postkoloniale. Ich denke aber nicht nur daran, dass Binaritäten und Kategorien der weißen Dominanzgesellschaft aufgebrochen werden, sondern auch an Solidarität und Aktivismus. Sowohl das Postmigrantische als auch das Postkoloniale verbinde ich mit Aktivismus – innerhalb und außerhalb der Wissenschaft – und mit Solidarität zwischen marginalisierten Menschen. Solidarität ist für mich transformativ.
Maha: Mein Eindruck ist außerdem, dass das ‚Post‘ in Postmigration, ähnlich wie in Postkolonialismus, in Form von Linearitäten und Chronologien aufgefasst, eingeschränkt und missinterpretiert wurde und wird. Bereits bei den postkolonialen Theorien führte eine ähnliche Fehldeutung zur Kritik an dieser Theorie. Stuart Hall wendete sich in seinem mittlerweile vergessenen Aufsatz „When was ‚the Post-Colonial‘?“ der im Titel bezeichneten Frage zu und zeigt, dass postkoloniale Verhältnisse viel komplexer sind als eine simplifizierende, pauschale Einteilung in eine prä- versus postkoloniale Ära. Vielmehr bezeichnen sie, wie bereits gesagt, Machtstrukturen und ein Machtgefälle zwischen einer kolonialen Metropole und der Peripherie, die in einer global vernetzten Welt nicht in Form von Binaritäten weitergedacht werden können. Heikel ist eine ähnlich falsche Auslegung des ‚Post‘ im Postmigrantischen. Postmigration soll sich auf die mittlerweile zweite und dritte Generation von in Deutschland lebenden Migrant*innen beziehen und damit für viele das Ende von Migrationsbewegungen signalisieren. Ich merke, wie damit eine neue Binarität entsteht, die ein weißes Zentrum gegen die Nachkommen von Eingewanderten aufstellt und ausspielt. Das würfelt sehr viele Einwanderungs- und Fluchtgeschichten zusammen und hebt Differenzen auf. Das finde ich problematisch und merke, wie wir von Langhoffs erstem Anliegen weggleiten, evtl. abgeglitten sind. Ich sehe außerdem die Gefahr, dass eine solche Verschiebung Schwarze Autor*innen und Autor*innen of Colour einzig auf das Schreiben etwa über Heimat, Migration, Herkunft oder Rassismus festlegt. Migration wird quasi zum Stigma. Denn eigentlich sollte, wenn von postmigrantischer Literatur gesprochen wird, das Denken und Schreiben aus marginalisierter Sicht gemeint sein und nicht notgedrungen das Schreiben oder Denken über Marginalisierung.
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt: ‚Migration‘ in Postmigration hebt zwar die Einwanderung hervor, gleichzeitig aber gewisse Differenzen auf. Die Erfahrung der Flucht und des Exils sollen ohne weitere Differenzierung mitgedacht werden. Die Assoziation, die mir gerade durch den Kopf geht, ist die ‚Gastarbeiter*innenmigration‘, die pauschal in den 60er- und 70er-Jahren in Deutschland eingewanderte ‚Südländer*innen‘ bezeichnete und die Themen Asyl, Flucht und Exil kaschierte bzw. verwischte. Ich muss gerade an Emine Sevgi Özdamar denken, die immer als Gastarbeiterin oder Migrantin bezeichnet wurde. Das war sie auch. Aber spätestens seit ihrem neuen Roman Ein von Schatten begrenzter Raum sollte klar geworden sein, warum die Geschichte der Flucht vor dem Militärputsch explizit als solche benannt und unbedingt zusammen mit Flucht als einem der akutesten Themen unserer Gegenwart gedacht werden muss.
Kyung-Ho: Für mich ist sehr wichtig, dass du ansprichst, dass BPoC-Autor*innen nicht auf das Schreiben auf Heimat, Migration oder Rassismus festgelegt werden sollten! Denn das Problem der Positionierung, sei es als ein Sich-Selbst-Positionieren oder als ein Von-Anderen-Positioniert-Werden, muss stets mitgedacht werden. Jede Positionierung birgt die Gefahr, ein Anderes zu konstruieren und somit In- und Exklusionsprozesse in Gang zu setzen. Dabei geht es doch um die Pluralität marginalisierter Perspektiven.
Was kann das Postmigrantische in der Literaturkritik leisten?
Maryam: Erstmal ist da die Literatur als Raum, in dem BPoC-Autor*innen agieren. Sie tun das auf ganz unterschiedliche Weise: Manche gehen mit ihrer marginalisierten Position offensiv um, verarbeiten diese Erfahrungen auch thematisch in ihrem Schreiben. Andere möchten einfach als Künstler*innen wahrgenommen werden. Weil der Literaturbetrieb aber nun mal ein hegemonial weißer Raum ist, werden die allermeisten früher oder später Marginalisierungserfahrungen machen. Die eigene Perspektive als eine postmigrantische zu begreifen, kann helfen, diese Erfahrungen zu analysieren und die eigene Position zu stärken. Das bedeutet nicht, wie Maha schon gesagt hat, dass Rassismus und Herkunft Gegenstand einer Literatur sein müssen, um die Schreibperspektive postmigrantisch zu nennen. Es bedeutet, die eigene Perspektive als eine machtkritische, dem weißen Hegemonialdenken nicht zugehörige zu begreifen.
Wenn postmigrantische Literatur rezensiert wird – und die etablierte deutschsprachige Literaturkritik ist in ihrer Weißheit um ein Vielfaches homogener als die Literatur selbst – passiert oft eine erneute Marginalisierung. Eine lange Reihe an Fremdzuschreibungen, sogar Anschuldigungen an postmigrantische Autor*innen wird erhoben, der sich weiße Autor*innen selten ausgesetzt sehen. Der wahrscheinlich am häufigsten vorgebrachte Vorwurf: Ihre Literatur sei zu partikular und biete keine universelle Identifikationsfläche. Produktiv kann das Postmigrantische auf zwei Ebenen in der Literaturkritik wirken:
Zum einen als eine literarische Analysekategorie, die den ästhetischen Blick von der Peripherie auf das Machtzentrum der Mehrheitsgesellschaft seziert. In diesem Machtgefälle ist die Kategorie race mitgedacht, und mehr und mehr werden wir nun auch für die Verbandelung von race und sozialer Klasse sensibilisiert. Das ist immer noch neu in der deutschen Literaturkritik.
Oft lesen wir, dass postkoloniale Ansätze überholt seien. Dabei kann ich nicht erkennen, dass zum Beispiel das kontrapunktische Lesen, der Analyseansatz, den Edward Said zuerst 1983 in Reflections on Exile und dann in seinem Band Culture and Imperialism (1993) entwickelt und angewandt hat, je ernsthaft Eingang in die hiesige Literaturkritik gefunden hätte. Abgeleitet von der Musikwissenschaft, in der das Zusammenspiel einer Gegenharmonie mit dem Hauptthema eines Musikstücks erst ein Ganzes ergibt, bezeichnet Said das Sichtbarmachen von kolonialen und kolonialrassistischen Dimensionen in der Literatur als kontrapunktisch (contrapuntual). Für mich ist das kontrapunktische Lesen gewissermaßen der analytische Vorläufer der intersektionalen Literaturkritik, die – abgeleitet von der Intersektionalität, die wir Schwarzen Feminist*innen verdanken – mehrfachdiskriminierende Herrschaftsstrukturen beleuchtet. Im Sinne beider kann das Postmigrantische hier als marker für diese Machtverhältnisse dienen – so wird (wie Ihr drei es bereits oben besprochen habt) – das Postmigrantische als Perspektive von marginalisierten/rassifizierten Autor*innen definiert.
In der Literaturkritik könnte ein erhöhtes Bewusstsein um die Relevanz des Postmigrantischen zu einer strukturellen Stärkung der postmigrantischen Perspektive innerhalb der Literaturkritik selbst führen. Auch das etablierte Feuilleton könnte dann endlich feststellen, dass literaturkritische Analysen aus marginalisierter Perspektive bisher weitgehend fehlen, jedoch notwendig sind für ein multiperspektivisches Sprechen über Literatur, welches auch BPoC-Leser*innen anspricht. Das wird so oft vergessen. Literaturhäuser rätseln zum Beispiel, wie sie ein jüngeres und nicht so weiß-dominiertes Publikum ansprechen können. Eine Antwort wäre: Lasst BPoC-Kritiker*innen und Moderator*innen kuratieren und moderieren! Für mich heißt multiperspektivisches Sprechen über Literatur auch, über Gestus und Zugänglichkeit von Literaturkritik zu reflektieren. Texte und Moderationen für das immer gleiche bildungsbürgerliche Publikum zu lesen und zu schreiben, interessiert mich nicht. Gerade die Nähe von rassistischer und sozialer Ausgrenzung sollte uns dazu anhalten, zugänglich zu schreiben.
Maha: Ich frage mich, ob ‚Postmigration‘ als Begriff und Kategorie irgendwann dringlich wurde, weil sich weder postkoloniale Theorien noch eine intersektionale Literaturkritik als Denkweisen und Analyseinstrumente im deutschen Literatur- und Kulturbetrieb etablieren konnten. Gegen postkoloniale Theorien zeigt sich bis heute eine Abwehrhaltung. Immer wieder werden sie ad acta gelegt und für tot erklärt (vgl. Chibber 2020 oder Gumbrecht 2020). Auf einen intersektionalen Blickwinkel, etwa in feministischen und aktivistischen Bewegungen, muss ständig gepocht werden. Obwohl dieser ja den Blick und die Stimmen anderer marginalisierter Gruppen auch jenseits von Migration und Einwanderungsgeschichte in den Fokus rücken würde. Wir kämen damit der Umsetzung einer pluralen Gesellschaft, von der Jeannette und Kyung-Ho anfangs sprachen, näher.
Maryam: Das Postmigrantische als die bravere, deutsche Antwort auf das Postkoloniale: Das klingt schlüssig! Eine intersektionale Literaturkritik ist bisher auch theoretisch und noch mehr strukturell weitgehend eine Utopie. Wie du gesagt hast, sehen wir immer noch, dass race als Diskriminierungsmuster in feministischen Diskursen oft ausgeblendet wird. Auch in unserer Generation fehlt eine breite kritische Auseinandersetzung mit dem Rassismus weißer Feminist*innen. In der Literaturkritik (und insbesondere Literaturwissenschaft) bedeutet das: race wird als eine überholte, spaltende Kategorie verstanden, bevor sie noch in die Gesellschaft und die Rezeption kultureller Produktionen eingeschrieben werden konnte. Das lässt sich sehr plastisch an den empfindlichen Reaktionen etablierter weißer Kritiker*innen auf identitätspolitisches Schreiben als emanzipatorische Praxis von BPoC-Autor*innen beobachten. Ich denke, wenn BPoC-Autor*innen (und Kritiker*innen) sich dessen bewusst sind, kann das Postmigrantische seine ursprüngliche Radikalität wiedergewinnen. Idealerweise temporär, bis wir mit dem Postkolonialen auch globale Machtgefälle als die unseren anerkennen.
Jeannette: Unser Gespräch macht sehr deutlich, warum es so wichtig ist, race mehr in die Literaturkritik und -wissenschaft einzubringen. Durch eine intersektionale Perspektive kann aufgedeckt werden, wie wirkungsmächtig ‚Weißsein‘ immer noch ist. Bisher tue ich mich schwer damit, Literatur von Schwarzen Autor*innen und das Postmigrantische zusammenzubringen. Diese Schwierigkeiten habe ich nicht, wenn es um das Postkoloniale geht, da darin race zentral verhandelt wird. Viele Vertreter*innen des Postkolonialismus sind Teil der afrikanischen Diaspora und des Kontinents. Im Postmigrantischen fallen mir jedoch bisher keine Schwarzen Stimmen ein. Ich denke, dass ein stärkerer Fokus auf race dazu führen könnte, dass das Postmigrantische in sich noch komplexer und vielstimmiger wird und Schwarze Autor*innen wie Sharon Dodua Otoo, Philipp Khabo Koepsell, Stefanie-Lahya Aukongo, Olivia Wenzel und viele andere Teil des Diskurses werden. Ich denke da auch an den Kanon, der Schwarze Autor*innen und Autor*innen of Color gleichermaßen ausschließt. Wir sollten, so bringt es Kaśka Bryla in der ersten Ausgabe der Zeitschrift PS – Politisch Schreiben auf den Punkt, den „Literaturkanonisierungsprozess und den daraus resultierenden Kanon nicht als wohlwollend entstandene Repräsentation der Literaturgeschichte auffassen, sondern den Kanon vielmehr als ein Problem, ein hierarchisches Geflecht erkennen, das es kritisch zu hinterfragen und zu verändern gilt.“ Und dafür müssen wir auch mehr über race sprechen.
Ist postmigrantische Literatur ein Genre?
Kyung-Ho: Ich bin mir im Unklaren darüber, ob die postmigrantische Literatur ein Genre ist. Ich glaube aber, dass ich es mir nicht wünschen würde. Ein Genre stellt ein Ordnungsmuster dar, mit dem die Produktion und Rezeption von Kunstwerken gesteuert wird. Das postmigrantische Theater der 2000er-Jahre war nicht zuletzt auch ein Versuch, Genre-Grenzen zu verschieben, zu erweitern und zu unterlaufen. Dies sollte durch die Überwindung der Unterscheidung zwischen Deutschen und Migrant*innen geschehen und indem Geschichten aus der Perspektive jener Menschen erzählt wurden, die in der deutschen Gesellschaft unsichtbar geblieben waren und marginalisiert wurden.
Von den Erfahrungen dieser Menschen handeln auch die Texte von Fatma Aydemir, Shida Bazyar, Sasha Marianna Salzmann, Mithu Sanyal, Deniz Ohde, Deniz Utlu, Olivia Wenzel und Hengameh Yaghoobifarah. Ich denke außerdem an Autor*innen der von Tamer Düzyol und Taudy Pathmanathan herausgegebenen Anthologie Haymat.
Die postmigrantische Literatur definiert sich nicht nur über die Herkunft ihrer Autor*innen, sondern auch über die in den Texten beschriebenen Perspektiven, wie Maha und Maryam betont haben. Ein Unterschied zwischen der postmigrantischen Literatur und der sogenannten ‚Migrationsliteratur‘ zeigt sich daran, dass ‚postmigrantisch‘ ursprünglich eine Selbstbezeichnung von Menschen aus eingewanderten Familien ist, während ‚Migrationshintergrund‘ eine bürokratische Fremdbezeichnung darstellt.
Ich würde zwischen der postmigrantischen Literatur und dem postmigrantischen Genre unterscheiden und mir wünschen, dass aus der postmigrantischen Literatur kein Genre wird. Genres sind normative Gebilde, die eine Funktion erfüllen. Es handelt sich um Konstruktionen, die auf einem Akt der Klassifikation beruhen, welcher wiederum eine sozio-kulturelle Praxis darstellt. Literarische Texte, die einem Genre zugeordnet werden können, entsprechen den Konventionen und Erwartungen ihrer Leser*innen. Wenn Figuren und Narrative in Genres auftauchen, die vorher von ihnen ausgeschlossen waren, kann dies einen Wandel der generischen Strukturen und die Öffnung eines Genres bewirken. Hier besteht die Möglichkeit des internen Wandels innerhalb der Strukturen des Genres. Aber der Phase der Veränderung wird in der Regel die Anpassung an konventionelle Normen folgen, da diese konstitutiv für Genre sind.
Wenn sich die Auffassung durchsetzen sollte, dass es sich bei der postmigrantischen Literatur um ein Genre handelt, wäre aus ihr eine Literatur geworden, die sich an die Erwartungen der Leser*innen angepasst hat. Postmigrantische Literatur, die in ständiger Bewegung ist, die einen neuen Umgang mit literarischen Traditionen pflegt, die hegemoniale Repräsentationsregime in Frage stellt und die Grenzen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verschiebt, indem sie marginalisierte Positionen artikuliert, wäre vermutlich interessanter als ein postmigrantisches Genre, mit dem sich ein Text klassifizieren und letztendlich normieren lässt. Der hier aufgestellte Gegensatz von postmigrantischer Literatur versus postmigrantischem Genre mag idealistisch klingen. Schließlich gibt es eine reine Literatur, die unberührt von Konventionen und frei von Traditionen ist, ebenso wenig, wie es reine Genres gibt. Fest steht jedoch, dass in dem Moment, in dem sich in der Öffentlichkeit die Rede vom postmigrantischen Genre durchsetzt, die Gefahr bestünde, dass die postmigrantische Literatur kein offener Schauplatz mehr für unterschiedliche marginalisierte Positionen und Perspektiven ist.
Maha: Ja, bloß nicht postmigrantische Literatur als Genre! Weder in der Literaturwissenschaft, noch in der Literaturkritik und auch nicht auf dem Buchmarkt. Stattdessen würde ich, ähnlich wie Kyung-Ho vorschlägt, dafür plädieren, dass man den Wandel und das Öffnen generischer Strukturen mehr in den Blick nimmt, sprich: Ästhetiken des Schreibens aus marginalisierter Sicht fokussiert. Mir fällt dazu Asal Dardans Betrachtungen einer Barbarin als Beispiel ein. Die Autorin hat in Interviews und auf Lesungen über ‚Essays‘ als Genre und Schreibform über Marginalisierung gesprochen und in diesem Zusammenhang erläutert, wie beispielsweise ein Roman den Inhalt und die Absicht ihrer Essays nicht in der Form hätte reflektieren können. Andere Beispiele wären Shida Bazyars Drei Kameradinnen oder Mithu Sanyals Identitti, in denen der NSU oder Hanau auf ganz unterschiedliche Weisen in der Handlung vorkommen bzw. in sie hereintreten und gewisse Ästhetiken und Schreibweisen hervorbringen.
Maryam: Ich sehe auch, dass eine generische Festschreibung einer Re-Marginalisierung gleichkommt – was im Verlagsmarketing und in Teilen der Literaturkritik leider oft auch so zu beobachten ist. Mithu Sanyal hat mal von einer „Community aus Büchern“ gesprochen, und das finde ich rhizomatisch und erstrebenswert. An dieser Stelle möchte ich unbedingt noch einmal auf die Literatur von Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami, SAID, Aras Ören und auch May Ayim u.v.a. verweisen. Es gibt diese Tradition von deutschsprachiger Literatur, die aus marginalisierter Perspektive vielstimmig und ästhetisch innovativ schon lange gegen ein Machtzentrum anschreibt. Das ist nichts Neues. Mit dieser Generation ist aber genau das passiert, was wir nicht wollen – ihnen wurde als Autor*innen von ‚Migrationsliteratur‘ eine kleine verstaubte Box im Ordnungssystem der deutschen Literatur zugewiesen. Aus diesem Grund verstehe ich auch, dass es BPoC-Autor*innen gibt, die den Begriff der postmigrantischen Literatur für ihr Schreiben ablehnen. Ihnen möchte ich zusammenfassend sagen: Es geht uns nicht um eine (Selbst-) Essentialisierung des Anderen oder eine Festschreibung auf antirassistische oder herkunftsgebundene Literatur. Vielmehr können mit dieser Selbstpositionierung weiße Machtstrukturen sichtbar gemacht werden. Gegennarrative können leichter zueinander in Verbindung gesetzt werden. Und wie Maha unter dieser letzten Frage schreibt, kann dies für die Analyse zum Beispiel heißen, Ästhetiken des Schreibens aus marginalisierter Sicht eingehend zu betrachten. Außerdem ist da immer noch der empowernde Aspekt des Postmigrantischen, wenn wir es denn so sehen wollen: als BPoC-Literaturwissenschaftler*innen, Kritiker*innen, Autor*innen, nicht nur theoretisch über Weiterentwicklungen hin zu einer gleichberechtigten Gesellschaft und Kultur nachzudenken, sondern in diesem Geist auch emanzipatorisch und solidarisch zu handeln. Das ist nicht einfach. Wir sind alle durch einen rassifizierenden Kapitalismus und den damit einhergehenden Buchmarkt konditioniert. Das Postmigrantische und mehr noch das Postkoloniale bieten uns jedoch einen Raum für solidarisches Handeln, aus dem alle gestärkt hervortreten können.
Zitierte Literatur
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Lektorat: die Redaktion