Vom Aufstehen
1 – Morgenröte
Sonntag, 06:12 Uhr morgens
Die ersten Sonnenstrahlen tropfen in die Szenerie. In perfekter Fluchtpunktperspektive lenken, von grobem Schotter und Unkraut flankierte, rostig-dunkle Schienen den Blick auf den Betriebshof der S-Bahn. Auf der Bedienanlage der Kabine einer quaderförmigen Lok im Marken-Orange der WHG-VG – der Verkehrsgesellschaft von „Wachsende-Hippe-Großstadt“ – liegen Füße, Schuhgröße 41. Reste von Essen in Tupperbehältern, zwei bunte Sonnenbrillen, die ihre besten Tage bereits hinter sich haben, eine blau-grün karierte Waschtasche, ein Handtuch, eine Jeans und ein gemustertes, eher Anfang der Neunziger modern gewesenes Hemd liegen zu beiden Seiten zweier übereinandergeschlagener Beine. Knöpfe und Schalthebel füllen die Zwischenräume. Kurze, dunkle Härchen schraffieren zehn Zehen der an den Sohlen hornhautverstärkten Füße. Unter einer dünnen Decke zeichnet sich eine kleine, im Fahrerinsitz zusammengekauerte Person ab. Am oberen Ende der Decke kringeln dunkle Locken ins Licht. Andächtige Stille. Leises Gurgeln begleitet taktvoll ein paar Vogelstimmen. Wieder Stille.
06:15 Uhr. Der Weckruf eines Mobiltelefons. Eine Hand tastet nach dem Geschrammel von „Work/Life Balance“ der Band Pisse. Linda öffnet die Augen, blinzelt, streckt sich und denkt: „Länger schlafen direkt am Arbeitsort für die perfekte Work-Life-Balance.“ Ein entscheidendes Problem in ihrer Morgenroutine: Keine sanitären Anlagen vor 06:30 Uhr. Pinkeln kann mensch ja draußen, aber irgendwann müssen alle mal kacken. Ein flüchtiger Gedanke an die sauberen kleinen Läufer, auf die sie bis vor Kurzem nach der Dusche trat, aber die Realität holt sie ein. Duschen ist nicht! Wenn sie ihre Periode bekommt, vor allem am ersten, manchmal auch am zweiten Tag, ist es am schlimmsten. Texas Chainsaw Massacre in der Hose. Wann es soweit ist, kann sie nie sagen, denn das wollte und wollte einfach nicht regelmäßig passieren. Wieso denkt sie jetzt daran?
06:19 Uhr. Sie befühlt ihren Schritt. Ein wütendes „Shiiiiit!“ durchfährt die Idylle und der Vogelschwarm macht sich vom Acker – kollektives Flügelklatschen. Eine beeindruckende Palette unterschiedlicher Rottöne ziert nun ihre Hand. Rot, die Farbe der Achtung, des Aufhorchens. Das Signalrot, bei dem ihre Lok steht. Im Dänischen lautet ein Kosename für die Vulva ,,Axtwunde“. Es gibt zum Glück schönere.
Sie findet die Taschentücher.
06:27 Uhr. In Windeseile saubere Sachen anziehen. Sie greift nach dem Handtuch und einer Thermoskanne, verlässt die Kabine, überquert mehrere Schienenpaare auf dem Weg zum Hauptgebäude, meldet sich am Schalter zur Arbeit, stellt die Thermoskanne in einen Automaten, dem sie Knöpfe drückend Anweisungen gibt, und verschwindet – mittlerweile ist es 06:31 Uhr – in den Toiletten des Ziegelbaus. Fast zehn Minuten später: erneuter Zwischenstopp am Kaffeeautomaten, raus aus dem Gebäude, Rennen über die Fluchtpunktlinien, zurück in die Kabine. Sie stellt die Thermoskanne in den Getränkehalter, wirft mit einer ausholenden Bewegung gekonnt den größten Teil ihrer privaten Dinge vom Bedienpult in eine schwarze, auf dem Boden gelagerte Sporttasche und startet das Arbeitsgefährt. Während sie den Schlüssel herumdreht, eine übriggebliebene Socke von einem der Schalthebel fingert, die sie zu den anderen Sachen in die Tasche wirft, spielt sich eine Szene des Films The Shining in ihrem Kopf ab:
Im Flur des ehrwürdigen und prächtigen Hotels, ein riesiger Prunkbau aus alter Zeit und Kulisse der Verfilmung von Stephen Kings Roman durch Stanley Kubrick, schießen Wellen von dunkelrotem, an Massen von Rotwein erinnerndem Blut wie morbide Wasserfälle aus dem Fahrstuhl. Die roten Fluten reißen erbarmungslos Möbel und andere Gegenstände mit sich, färben die Tapete, wo immer sie sie berühren, bis von der beschaulichen Hotelkulisse nur noch ein Schlachtfeld übrig ist. ,,Pause halb elf “, denkt Linda. 06: 42 Uhr. Erste Haltestelle.
Pünktlich!
2 – Einbeinig, ohne zu fallen
Drei Monate und zwölf Tage zuvor
,,Aber eine Modernisierung ist doch keine Instandsetzung. Soweit ich weiß, sind Sie auch nicht gezwungen zu modernisieren. Und …“ Sie ist nervös, kramt in ihrer Erinnerung: ,,… das meiste ist völlig unnötig und wird uns dann von Ihnen auf die Miete umgeschlagen.“ Unruhig rutscht Linda auf dem viel zu kleinen, einbeinigen Möchtegern-Stuhl-Dings herum, das ihr angeboten wurde, und versucht sich an die Argumente zu erinnern, die sie gemeinsam erarbeitet hatten. Dabei muss sie leicht nach oben schauen, um ihr Gegenüber anzusprechen. Das futuristisch anmutende, einbeinige Sitzmöbel aus festem Kunststoff mit einer Art Kugelgelenk am unteren Ende wackelt stark und zwingt sie in einen permanenten Kreislauf aus balancierenden, ausgleichenden Bewegungen. Der seltsame Mischgewebestoff am Polster der Sitzfläche zwiebelt ekelhaft auf ihren Beinen, bereitet ihr dieses brennende, juckende Gefühl, das sie fast wahnsinnig macht. Im Sommer trägt sie beinahe ausschließlich kurze Hosen, verflucht diesmal aber ausnahmsweise ihre Entscheidung. Mit dem Hintern versucht Linda nun verzweifelt, eine Position zu finden, mit/in der sie den Stuhl ausbalanciert, und dabei möglichst wenig Kontakt mit dem zwiebelnden Stoff bekommt, ohne diesem Vorgang allzu viel Aufsehen zu verschaffen. Die Genugtuung zu wissen, wie unwohl sie sich hier fühlt, will sie dem neuen Vermieter nicht geben. Sie schaut in den Raum. Hinter ihr das Schaufenster, rechts neben dem Ausgang des Büros Regale mit Akten. Vor ihr: ihr neuer Vermieter. Der einzige Stuhl, der nach echtem Sitzmöbel aussieht, ist für sie unerreichbar.
Er steht auf der anderen Seite eines Monstrums von Schreibtisch. Darauf sitzt ein dicklicher Mann Anfang fünfzig mit rundlichem, fast kindlich wirkendem Gesicht, dünnen, sauber zurückgekämmten Haaren und Doppelkinn, dessen gedrungene Statur durch den hoch eingestellten, ergonomisch geformten Sitz eher dürftig kaschiert wird. Der massive Schreibtisch aus dunkel gebeiztem Eichenholz mit seinen opulenten Zierschnitzereien schafft ausreichend Sicherheitsabstand. Im Raum verteilt stehen speziell angefertigte Büromöbel aus der ebenfalls dem Mann gehörenden Firma für Objekteinrichtungen. Mit Papp-, Holz-, Textil-, Glas-, Kork- und Stahlelementen, teilweise sogar Baumrinden, hip, aber minimalistisch gehalten, machen sie es schwer, das Büro von einem der teuren Cafés im Stadtbezirk der Rabenow Immobilien GmbH zu unterscheiden, in dem sich Linda das Kaffeetrinken kaum leisten kann. Alles wirkt auf sie wie ein zu groß geratenes Schaufenster, eine Kulisse. Nur der Tisch des Mannes erinnert ein wenig an den eigentlichen Zweck des Raumes.
,,Wie ich bereits bei meinem Besuch vor Ort erklärte …“, leiert er in einer schnarrenden, gleichförmigen Tonlage, als lese er, ohne sich dabei Mühe zu geben, von einem Skript ab. ,,Sie meinen wohl den Besuch, bei dem Sie unangemeldet unter falschem Vorwand ins Haus kamen, um uns dann zu sagen, dass Sie uns kaufen und unsere Miete verdoppeln?“ Mojtaba, Lindas Begleiter, sitzend auf einem weiteren Einbeiner, ein dunkelhaariger Mittdreißiger mit einer etwas ramponierten Schiebermütze, unterbricht ihn mit lauter, fester Stimme. Der Mann hinter dem Schreibtisch lässt sich davon nicht stören: „Wie ich Ihnen also bereits erklärte, ja …“, er gönnt sich eine großzügige Kunstpause, atmet demonstrativ lang und tief ein, nimmt einen Schluck von einer auf dem Tisch vor ihm stehenden Flasche fair gehandelten Superfruchtsafts, bevor er weiterspricht: „… habe ich vollstes Verständnis für Ihre Situation und bin gerne bereit, mit Ihnen Optionen für die etwa zwei bis drei Jahre andauernden Baumaßnahmen zu besprechen. Wenn Sie sich die Miete danach noch leisten können, dürfen Sie natürlich gern dort wohnen bleiben, gar kein Problem.“ Linda, die bei dieser Bemerkung fast vom ,,Stuhl“ in Richtung holzvertäfeltem Fußboden rutscht, fängt sich, fühlt Wut in sich aufsteigen. Ein paar hip, aber minimalistisch gekleidete Menschen halten vor dem Schaufenster, zeigen auf die Möbel um Linda herum. Sie zücken ihre Handys, machen Selfies. ,,Was sollen das für Lösungen sein? Manche von uns wohnen dort seit 30 Jahren …“, Linda wird nun laut, „… unsere Kinder gehen im Kiez zur Schule. Sie müssen doch wissen, dass es mittlerweile fast unmöglich ist, hier bezahlbaren Wohnraum zu finden! Diese Menschen brauchen ein Zuhause in ihrem Stadtbezirk, wo sie leben, verwurzelt sind … und …“ Sie überlegt kurz. Taktik liegt ihr genauso gut wie Mojtaba. „… den Sie für Ihren persönlichen Profit unbezahlbar machen!“ Während der Eigentümer sich in seinem Sessel zur vollen Größe aufbaut, erschrickt Linda ein wenig über sich selbst. Diese Art von Direktheit haben sie vermeiden wollen. Manche in Lindas Haus haben Angst vor der Reaktion des neuen Eigentümers und wollen die Wogen flach halten. Es könnte ja sein, dass dieser Typ sich plötzlich entscheidet, ihre Interessen zu berücksichtigen. Linda verdreht bei diesem Gedanken innerlich die Augen. Mojtaba, der abwechselnd von Linda zu Herrn Rabenow und zurück schaut, wirkt erfreut, aufgeregt. Hinter dem Schreibtisch wahrt der Besitzer die Contenance: „Ich weiß nicht, warum Sie sich so aufregen. Ich habe das Haus gekauft und damit ist der Fall klar. So ist das nun mal im Leben.“
3 – So ist das im Leben
Gegenwart
Wieder sitzt Linda auf dem wackeligen Einbeiner. Doch etwas ist anders. Stimmenähnliche Geräusche sind zu hören, die wohl aus dem Mund des Mannes hinter dem überdimensionalen Schreibtisch kommen. Er bewegt seine Lippen, ist aber zu weit weg, um ihn zu verstehen. Dabei klingt er, als würde er durch Watte sprechen. Neben ihr sitzt Mojtaba, ihr Mitbewohner. „Moj, was sagt er?“, fragt Linda. Doch noch bevor der antworten kann, hebt hinter ihnen ein Chor zum Sprechgesang an:
Er sagt, so ist das im Leben! Er sagt, so ist das im Leben! Er sagt, so ist das im Leben!
Er sagt …
so ist das …
im Leben!
Linda steht auf und schaut in die vertrauten Gesichter. Es sind ihre früheren Mitbewohner, die Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hatte. Ihr Herz macht einen schmerzhaften Hüpfer. Es tut ihr weh, sie hier zu sehen. Sie wirken wütend, fast rasend, ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Die Lautstärke ihres Sprechgesanges steigert sich mit jeder Wiederholung bis an den Rand des Aushaltbaren. Noch einmal schaut Mojtaba lächelnd zu Linda und erhebt sich von seinem Einbeiner. Er stellt sich dazu und stimmt in den Chor ein. Da fällt Linda eine riesige, verschlossene Tür auf, die sich hinter dem Chor befindet. Sie schaut noch ein zweites Mal hin, denn das kann einfach nicht stimmen. Diese Tür war vorher ganz sicher nicht Teil des Büros. Es ist auch nicht irgendeine Tür. Es ist die alte, schwere, rote Holztür ihres Zuhauses, die sie dort sieht. Jene unendlich schwergängige Tür, die sie viele Jahre lang täglich passiert hatte, die mit dieser Sicherheit spendenden Verlässlichkeit den Eintritt in ihren Rückzugsraum, ihren Wohlfühlort markierte. Sie schließt die Augen, atmet tief und ruhig ein. Plötzlich weiß Linda wie instinktiv, was sie tun muss. Während der Chor unbeirrt und wütend seine Botschaft spricht, läuft sie an ihm vorbei zu der Haustür, streckt sich nach der Klinke und zieht ruckartig, mit ihrem ganzen Gewicht, daran. Doch sie bewegt sich nicht. Der riesige Mann hinter dem Schreibtisch verfällt in ein irres, grausames Lachen. Es klingt, als käme es von sehr weit her. Der Boden unter ihr zittert. Die Stimmen des Chors verstummen abrupt, und in der Kürze eines Wimpernschlages sind Menschen direkt hinter ihr. Viele Arme greifen gleichzeitig nach der großen, rostigen Klinke und zerren mit ihr an der alten Holztür. Da verstummt auch das Lachen des Mannes hinter dem Schreibtisch. Sie dreht sich um, wirft einen hastigen Blick auf den Riesen. Panik breitet sich in dessen Gesicht aus, als die Tür endlich nachgibt, mit ehrfurchterregendem Knarzen aufspringt und einen roten Wasserfall entfesselt, der sich mit mächtigem Schwall unaufhaltsam seinen Weg in Richtung des Schreibtisches bahnt.
Es ist dunkel. Ein Klappsofa im Wohnzimmer der Rosa-Luxemburg-Straße von Wachsende-Hippe-Großstadt. Von der Straße her sind dumpf, in unregelmäßigen Abständen, Motorengeräusche zu hören. Ein regelmäßiges, gurgelndes Geräusch gibt der Klangkulisse ihren Grundton. Tief schlafend liegt Linda auf dem bequemen Klappsofa einer Freundin, ein paar Häuserblocks von ihrem früheren Zuhause entfernt. Die Lichter einiger Elektrogeräte blinken im Takt. Durch den Vorhang der Balkontür fällt ein Lichtschein der Straßenlampe auf Lindas Gesicht. Wie in einem plötzlichen Anfall von Aktionismus fährt Linda hoch, hörbar Luft in ihre Lungen saugend und mit weit aufgerissenen Augen. Ein vertrauter Geruch von altem, rostigem Metall streift ihre Nase, als sie das Mobiltelefon zu sich hebt. Es verrät: Montag, der 30.09.2019, 04:37 Uhr.
Linda Meyer wird heute nicht zur Arbeit erscheinen.