Es ist nie genug und dann zu spät

 

„Hör auf so deutsch zu sein, блядь“, brach es aus meiner Mutter heraus. Ich wurde still. Über zwei Stunden hatten wir uns am Telefon gestritten. Zuerst wollte ich nur kurz fragen, wie sie sich das eigentlich mit meinem Kindergeld gedacht hatten. 280 Euro. Noch drei Monate, bis ich 25 wurde, auf ihr Konto. Vielleicht waren es auch 250 Euro oder 220. Die Zahl war auch egal. Es ging ums Prinzip. „Nur, weil ich schon mit dem Studium fertig bin, heißt das nicht, dass ihr mir das nicht mehr geben müsst. Das ist Geld vom Staat für mich. Ich hab ein Recht darauf.“
Meine Mutter sagte dazu lediglich: „Юлия, unser Bankkonto, das ist ein Topf. Eine Familie, ein Konto. Das Geld geht dahin, wo es gebraucht wird. Wenn du Geld brauchst, sagst du Bescheid. Jetzt müssen wir erst mal neue Reifen kaufen. Weißt du, was das kostet?“
„Nee“, spuckte ich aus. „Und ein Topf? Was soll der Sowjet-Scheiß?“
Ich starrte auf das braune Wasser des Río de la Plata und hatte einfach Schiss. Ich wollte nicht aus Buenos Aires zurück nach Berlin kommen und keinen Job haben. Ich hatte mich für Linkssein und Politikwissenschaften entschieden und bettelte meine Eltern um drei Monate Kindergeld an.
Unser Gespräch wurde von Rufen der Straßenverkäufer unterbrochen. „Was verkauft der denn?“, fragte mein Vater. Ich glaube, ihn interessierte das wirklich. „Churros“, antwortete ich. „Das sind so lange Teigdinger in Fett gebacken, wie кребли, nur andere Form.“
„Verrückt, dass du die verstehst“, sagte er und ich verstand: „Dein Spanisch ist mittlerweile also besser als dein Russisch. Jetzt sitzt du in Argentinien rum und redest über die feministische Streikbewegung? Klatsch, lern erst mal Russisch, du Opfer.“ Zum Thema Kindergeld meinte mein Vater nur, dass er gar nicht wisse, worum es eigentlich gehe, denn er habe eh nie verstanden, wie sich das zusammensetze. Und dann meine Mutter: „Hör auf so deutsch zu sein, блядь“.

Блядь – das benutzten eigentlich nur meine älteren Cousins. Sie waren mit 15 in kratzigen Wollpullis am Frankfurter Flughafen angekommen und mussten sich von da an auf der Hauptschule in einem westdeutschen Kaff beweisen. Es gab die Russengang und die Türkengang. Nach der Schule Arbeiten, Sparen auf den ersten gebrauchten Audi A3, Arbeiten, Russendisko, Arbeiten, Heiraten, Arbeiten, Haus und sonst eigentlich nichts zu tun auf dem Land. Als ich ins Alter kam, mich für oder gegen die Russengang, für oder gegen Arbeiten, Heiraten, Haus entscheiden zu müssen, zog ich weg.
Блядь war ein letzter Versuch meiner Mutter, sich mir gegenüber Gehör zu verschaffen.
Und dann konnte sie nicht mehr: „Weißt du eigentlich, dass deine Oma im Sterben liegt?“
Sie hatte sich zwei Stunden lang angehört, wie ich auf den deutschen Staat und meine Rechte pochte. Dabei kam sie gerade aus dem Krankenhaus. Immer noch wollte sich Großmutter die Spritzen selbst setzen. Sie traute den deutschen Ärzten nicht. In Kasachstan war sie die Dorf-Krankenschwester gewesen, hatte dem ganzen Dorf die Spritzen gesetzt. Sie war mit ihren Stiefeln aus Filz im Winter von Haus zu Haus gelaufen, wenn der Schnee sich meterhoch am Straßenrand türmte, die Spritzen in einer Stofftasche nah am Körper, damit die Flüssigkeit nicht gefror. Das erzählte sie jedes Mal, wenn ich sie im Krankenhaus besuchte. Und jetzt sollte sie auf Männer hören, die ihr erklärten, dass Margarine besser für sie sei als Butter. Immer nur irgendwelche zermatschten Erbsen und Möhren, beschwerte sie sich laut in russlanddeutschem Dialekt und mir war es ein bisschen peinlich, weil ihre Zimmernachbarinnen, deutsche Omis, bestimmt voll auf zermatschte Erbsen und Möhren standen, auch, weil man mir beigebracht hatte, in der Öffentlichkeit Hochdeutsch zu sprechen. Oma Vika waren all diese Sachen scheißegal. „Ich geh bald nach Argentinien“, hatte ich ihr beim letzten Besuch gesagt. Sie hatte nur genickt und wir redeten weiter über die Spritzen und über richtiges Essen, vor allem über Krautpiroschki. „Hast du das Rezept noch?“ Ich nickte.
Als sie mal für ein paar Wochen zu Hause war, hatte ich sie besucht. Sie war gerade aus einem sechswöchigen Koma aufgewacht und erst vor wenigen Tagen entlassen worden. Weil sie nicht mehr laufen und im Garten arbeiten konnte, begann sie zu sticken: Badehandtücher mit blau-weißen Segelschiffen, Küchentücher mit roten Pfirsichen und Trauben. Aus ihrer gebückten Haltung im Sessel am Fenster, wo sie die Stickereien ins Tageslicht hielt, die Augen zusammengekniffen über der seit Jahren zu schwachen Brille, sah sie manchmal auf, wenn sie Wortfetzen aufschnappte, die sie interessierten. Manchmal warf sie dann etwas ein. Wer wann wen geheiratet hatte, wer wohin umgesiedelt wurde, wer in der Trudarmee gestorben, wer verhungert, wer erfroren war, wer wann Schuldirektor in Дружба gewesen war, bei welchem товарищ man bei der Feldarbeit am besten Steckrüben mitgehen lassen hatte können, wer wie lange auf ein Haus vom колхоз gewartet hatte, wie oft sie dieses Haus dann weiß gekalkt hatten und wer das am ordentlichsten konnte, wer als erstes in Дружба ein мотоцикл hatte und wer das мотоцикл dann bekommen hat, als die ersten weggingen, wer wann nach Deutschland gekommen war, in welches Auffanglager, in welches Bundesland, in welche Stadt.
Und wenn sie so redete, waren wir immer wieder überrascht über ihr Gedächtnis. Wir, das waren meine Mutter, meine Tante und ich. „Wenn ich wieder daheim bin, muss ich mal was aufschreiben“, hatte Oma Vika mehrmals im Krankenhausbett gesagt. Jetzt war sie zu Hause und musste sticken. „Ich könnte das aufschreiben“, bot ich ihr jedes Mal an. „Kannst du das, ja?“, fragte sie dann und stocherte weiter in ihren Erbsen rum.
Ich war also gekommen, um von Oma zu lernen, wie man Krautpiroschki macht. Eigentlich wollte ich diese eine Erzählung hören, die nach kohärenter Familiengeschichte klang. Oma Vika nahm ihre Funktion in der Weitergabe traditioneller Rezepte sehr ernst, und meine halb historischen, halb persönlichen Fragen interessierten sie wenig. Meine Mutter und Tante nutzen die Gelegenheit, um über mehrere Stunden mein Leben zu kommentieren. Ich stand da und knetete Teig. Sobald ich zu einer Frage ansetzte, merkten sechs Augen, und vor allem die von Oma Vika hinter ihren zu schwachen Brillengläsern, sofort, dass ich langsamer knetete, und sie sagte nur: „So wird der Teig nicht locker. Du brauchst mehr Kraft in den Armen.“ Ich knetete weiter. Nach fünf Stunden waren acht Bleche Krautpiroschki fertig. Ich wusste, dass ich mir drei davon mit nach Berlin nehmen musste, um sie einzufrieren, denn auf gar keinen Fall würde ich jemals in meiner eigenen Küche einen Tag lang den Teig gleichmäßig in alle Richtungen schaukeln. „Jetzt kannst du heiraten. Das Rezept hast du dir aufgeschrieben, oder?“

Diese Erinnerungen gingen mir durch den Kopf, während ich noch immer auf den siffigen Río de la Plata starrte, meine Eltern am Telefon. „Soll ich kommen?“, fragte ich. „Musst du nicht arbeiten?“, fragte meine Mutter zurück. Ich machte gerade irgendein Praktikum. Hauptsächlich versuchte ich, Journalistin zu werden. Seit ein paar Wochen hatte ich Twitter und mittlerweile 100 Follower. Genau 100. Für meine Eltern klang das nach viel. Oma Vika wusste nicht mal, dass ich tippen konnte, vielleicht auch nicht, was ein Computer war. In dieser anderen Welt mit den Twitterleuten und dem ganzen Social Media war mein Leben in Reichweite gemessen ein Witz. Die Twitterleute zu fragen, wie lange sie gebraucht hatten, um sich ihre Crowd aufzubauen und wem sie was bezahlt hatten, war mir zu peinlich. Gastro ging aber langsam auch nicht mehr.
„Wenn ihr wollt, komm ich morgen. Dann müssten wir nur das ganze Kindergeld für meinen Flug auf den Kopf hauen.“ Meine Eltern lachten nicht. Die Promenadebänke am Río de la Plata waren leer. Es regnete. Ich fuhr in meine Wohnung und setzte mich an den Küchentisch in meiner WG in Buenos Aires. Es war Samstagabend und meine Mitbewohnerinnen waren nicht zu Hause.

Als Oma Elvira starb, war ich 13. Ich war bei dieser Aufnahmeprüfung fürs Internat. Mama und Papa haben nicht angerufen, damit ich den letzten Assessment-Center-Tag überstehe. Dann hat Papa mich abgeholt. Ich habe ihn nie gefragt, woran er dachte, als er mit 170 über die Autobahn gerast ist. Ich habe nur darüber nachgedacht, ob ich wohl reinkomme. Alle anderen Kids hatten sich die Bewerbungen von ihren Eltern schreiben lassen, das war offensichtlich. Ich hatte mit einem Füller auf liniertes Collegeblock-Papier geschrieben, dass ich mich anstrengen würde. Hätte mir denken können, dass das später für eine Charity-Nummer ausgeschlachtet werden würde. Obwohl, damals konnte ich mir das vielleicht noch nicht denken. Kurz nach der Beerdigung saßen wir wieder im vollgepackten Toyota. Ich kam rein, ich zog aus. Ich habe mich damals gefühlt, als würden wir in Urlaub fahren. Nur, dass man im Urlaub keine Uniform tragen und das Auto nicht auf dem Parkplatz am Waldrand parken muss, weil es für den Schulhof zu alt ist.

Als Opa Andrej starb, war ich in meinem Zimmer im Internat, am Schreibtisch. Ich hatte damals kein Handy. Warum eigentlich? Ich muss 16 oder 17 Jahre alt gewesen sein. Es gab einen hölzernen Telefonzellen-Kasten auf dem Flur, mit einem kleinen Hocker neben dem Telefon. Draußen im Flur hörte man alles, was drinnen gesagt wurde. Ich glaube, ich war die Einzige, die diese Telefonzelle benutzte. Elia hat an die Zimmertür geklopft und meinte, meine Eltern seien dran. Ich nahm den nächsten Zug. Wir hatten Opa Andreas an Ostern nochmal besucht, noch ein gemeinsames Familienfoto gemacht. Er hatte Krebs und bestand nur aus Haut und Knochen. Allen Enkeln drückte er einmal kurz die Hand, meine hielt er fest und sagte so was wie: „Du bist auf dem falschen Weg. Du musst härter arbeiten, du musst Ärztin werden.“ Dabei war ich zu dem Zeitpunkt schon mit einem Stipendium auf einem Internat, wo nur Bonzenkinder in Segelschuhen rumliefen und schickte Zeugnisse nach Hause, auf denen nur Einsen standen. Ich habe damals nichts gesagt zu meinem Weg und zum Ärztinwerden. Opa Andreas war Lkw-Fahrer gewesen, hatte in der Sowjetunion Getreide von einem Dorf zum nächsten gekarrt. In Deutschland hatte er in den ersten Monaten eine Wohnung bei einer Bauernfamilie angemietet. Sie hatten ihn jeden Abend kostenlos ihre Kuhställe ausmisten lassen, weil sie sagten, das gehöre zum Deal der Wohnung. Danach haben sie ihm noch einen Liter Milch verkauft. Die Geschichte wird manchmal so nebenbei erzählt, wenn sich irgendwer in der Familie über Deutschland aufregt. Warum sind wir da eigentlich nicht nochmal hingegangen? Da hätte man doch nochmal was sagen müssen. Oma Vika wohnt immer noch im Nachbardorf. Aber sie kamen auch gerade aus einer sowjetischen Landwirtschaftskolchose, in der es genauso lief und die übersetzt „Freundschaft“ hieß.

Als Opa Alexander gestorben ist, war ich in Argentinien, zum ersten Mal. Nach dem Eliteschulen-Abi machte ich auf Into the Wild und einen Freiwilligendienst in einem Nationalpark in den Anden. Ich hatte immer noch kein Handy, es gab nicht mal Internet. Erst Wochen später habe ich auf einem Campingplatz in Patagonien die verpassten Anrufe auf Skype gesehen. In meinem E-Mail-Postfach Fotos von der Beerdigung. Und dieser Grabkranz „Von Юлия“ mit goldenem Garn auf weißen Stoff gestickt. Ich musste mich übergeben. Ich wollte nur noch weg von diesem Campingplatz voller französischer Hippies, die mir irgendwas von Akzeptanz und meinem Aszendenten erzählten und meinten, ich sollte mal San Pedro trinken, den Saft von diesem Kaktus, das würde mich mit den Toten verbinden. Ich wollte keinen Kaktussaft trinken. Ich war 19 Jahre alt und wollte nach Hause. Aber es war zu spät und die Flüge zu teuer. Ein paar Monate später kam die Zusage fürs Politikstudium, und ich zog nach Berlin.

Jetzt war ich wieder in Argentinien. Es regnete immer nochund ich hatte echt vorhin am Telefon von Recht und dem deutschen Staat geredet. Dabei war das Einzige, was ich gerade wollte, nochmal mit Oma Vika Krautpiroschki backen und den Teig so lange kneten, wie sie es möchte. Ich wollte löffelweise ausgekochte Butter ins Kraut geben und nicht darüber nachdenken, wie fett und ungesund russisches Essen ist. Ich wollte all das und dazu halb fertig erzählte Geschichten. Ich schrieb meiner Mutter eine SMS: „Wenn es nochmal schlimmer wird, ruft mich an, dann buche ich sofort einen Flug. Und kauft auf jeden Fall die Reifen. Ich suche mir einen Job, wenn ich in Berlin bin. Macht euch keine Sorgen.“ Morgen könnte Flor mir noch schnell den lila Undercut wegrasieren. Wobei, lila Haare oder keine Haare – war beides kacke. Über das neue Tattoo am Handgelenk könnte ich zumindest ein Pflaster kleben.

Um fünf Uhr morgens klingelte mein Handy. Ich wusste kurz nicht, ob ich abheben oder lieber noch drei Stunden länger schlafen sollte. Drei Stunden, in denen ich so tun könnte, als sei alles gut. Und dann würde ich zurückrufen. Ich ließ das Handy klingeln. Es war ein iPhone, das mir Flor geliehen hatte, nachdem mein altes Samsung eine Mauer runtergefallen und auf dem Steinboden zerschellt war. Jedes Displayöffnen per Fingerabdruck fühlte sich nach sozialem Aufstieg an. Ich nahm es vom Nachttisch. Drei neue Twitterfollower, sagte es mir sofort. Ich hasste Twitter. Meine Mutter nahm mir gerade eine Sprachnachricht auf. Ich rief sie zurück. „Доча, wir konnten nichts mehr machen. Sie konnte nicht auf dich warten.“ – „Ich buch mir einen Flug.“ Und mein Vater: „Willst du nicht nach Patagonien fahren? Das war doch gut damals bei Opa.“

 

Lektorat: Kaśka Bryla & Olivia Golde

Prosa#6PS