Hort

 

Als kleines Kind saß sie oft mit alten Männern zusammen, in dunklen Wohnzimmern mit schweren Möbeln. Sie war vier, fünf, irgendwann sieben. Sie trug Kleidchen, Strumpfhosen, hatte Schleifen im Haar. Den weißen Kragen trennte ihre Mutter jedes Mal vom Kleid ab, wusch und bügelte ihn, nähte ihn wieder an.
Manchmal bekam sie Ohrringe aus Weißgold, Gelbgold oder Rotgold, manchmal Perlen. In diesen Jahren lernte sie gerade, ihr Deutsch nicht mit ihren Muttersprachen zu vermischen.

Sie mochte es im Kindergarten nicht, weigerte sich zu essen und ekelte sich vor den kleingeschnittenen Möhren, die immer schon ein bisschen ausgetrocknet in blassgrünen Tupperdosen rumstanden. Kakao aus Plastikgefäßen derselben Farbe. Und immer wieder die Erwachsenen, die ihr ungeduldig das Du anboten.
Wenn sie sich geweigert hatte, in den Kindergarten zu gehen, geweint oder einfach nur apathisch in die Luft gestarrt hatte und es schwierig gewesen war, sie aus dem Bett zu ziehen, dann verbrachte sie ihre Tage bei den alten Männern.
Sie war auch dann dort, wenn sie krank war und Fieber hatte. Sie versuchte es zu verstecken, wurde von ihrer Mutter ermahnt, nicht zu verraten, wie sie sich fühlte, weil die alten Männer nicht gerne kranke Kinder auf ihrem Sofa sitzen hatten. Manchmal gelang ihr das nicht, und sie spürte, wie sie ihr und der Mutter böse Blicke zuwarfen, sie mieden, Andeutungen machten, sie aber nicht rausschmissen. Sie erzählten ihr dann keine Geschichten und forderten sie nicht auf, zu rechnen, belohnten sie nicht mit Münzen, wenn sie die richtigen Lösungen parat hatte.

Am häufigsten kam sie mit, wenn Ferien waren. Dann wurde sie geweckt, gewaschen, angezogen. Ihre Haare gebürstet und geflochten, immer so, dass es an der Kopfhaut zog und ihr kurz schwindelig wurde. Im Auto lief dann Musik, und immer wenn zu viele Autos am Morgen durch die Straßen ihrer Kleinstadt fuhren, wurde ihre Mutter nervös, fingerte am Autoradio herum, machte leiser, verfehlte den Knopf, schaltete um. Ihre Mutter hasste es, Auto zu fahren, aber sie fuhr, morgens, mittags, abends, von einem Haus mit schweren Möbeln zum andern. An ihrem Autoschlüssel hing eine kleine Ledertasche, die am Morgen leer war und am Abend schwer am Schlüssel zog.

Während sie bei den alten Männern saß, schrubbte ihre Mutter Böden, Toiletten, Treppen. Es gab nie viel Staub, die Alten waren zu alt, um viel davon aufzuwirbeln. Trotzdem hob ihre Mutter eine kleine Porzellanfigur nach der anderen hoch, wischte über das dunkle Holz, und stellte sie wieder der Reihe nach auf. Die Alten, das waren Herr Komnik, Herr Plaake, Herr Güldenhöven und so weiter. Manche von ihnen waren aufgeweckt und liefen durch das Haus, holten ein Fotoalbum nach dem anderen heraus, das sie dem Kind zeigen konnten. Herr Plaake bat sie, sich auf sein Holzbein zu setzen und lauter zu sprechen. Er konnte sie nicht sehen und tastete ihr Gesicht ab, lobte ihre langen Haare und Frisuren. Manchmal bat er sie, eine alte Porzellanpuppe auszuziehen, wieder anzuziehen und kontrollierte danach, ob alles richtig saß. Meistens erzählte er aber von der Zeit, als er noch laufen konnte und sehen. Das war bevor er in den Krieg gezogen war, an die Ostfront. Er erklärte ihr, wie unterschiedlich die Waffen waren, die er führte, und wofür welche sich am besten eignete. Er erzählte ihr von den Krankenhäusern, die zu voll waren und von Gerüchen. Sie hörte zu und klopfte immer wieder auf sein Holzbein. Sie konnte ihm nicht glauben, dass er nichts fühlte, glaubte, sie würde einfach nur zu schwach klopfen und schlug härter und härter zu, fragte ihn, ob er denn sogar dann nichts spüren würde, wenn mehrere Jungs dagegen treten würden. Er wartete geduldig, bis sie das Fragen für diesen Besuch aufgab und erzählte weiter vom Osten.
Herr Komnik war einer von denen, die Bilder zeigten. Er hatte auch Zeichnungen, aus der Kriegsgefangenschaft. Manche waren bunt ausgemalt, eine zeigte schöne Frauen, die Wasser aus dem Brunnen holten. Die Zeichnungen waren in einem kleinen Notizbuch, sie wechselten sich ab mit Liedern, Gedanken und Gedichten. Sie saß neben ihm, auf einem langen, dunkelgrünen Sofa, der Fernseher lief, und sie täuschte vor, die Schrift seiner Kameraden zu entziffern. Er vergaß, dass sie zu jung war, um überhaupt lesen zu können und mischte seine Geschichten über den Krieg gegen die Bolschewiken immer mit Meinungen über die Politik. Er sprach viel über die Amerikaner, schimpfte, fluchte, und sie wunderte sich nicht, denn zu Hause schimpften auch alle über die Amerikaner.
Manchmal sangen die Alten Lieder mit ihr, präsentierten ihr Wortfetzen auf Polnisch oder Russisch, erzählten, wie sehr ihre Frauen gelitten hatten, weil sie anstehen mussten mit Lebensmittelmarken. Einer hatte ein Buch über den großen Krieg, in dem war ein Foto abgedruckt, schwarz-weiß, eine ganze Seite füllend, und da sah man sie, seine Frau, die in einer Reihe stand und darauf wartete, dass sie ihre Karten einlösen konnte für ein paar Gramm Butter und Brot. Die Geschichten waren immer ein bisschen traurig, immer ein bisschen schwer, auch ein wenig wütend. Sie hatten den Krieg verloren, welchen Krieg, den großen, davon sprachen sie, wieder und wieder.
Die Mutter wusch derweil den Boden, einmal im Monat putzte sie die Fenster, im Frühjahr, wenn die Sonne stärker wurde, sogar öfter. Die oberen Etagen wurden nur alle zwei Wochen geputzt, da die Alten ohnehin nicht die Treppe hochkamen. Sie hatte Angst vor den oberen Etagen, die dunklen Stufen knarzten, und das Geländer war immer ein wenig zu hoch für sie. Halb kletterte sie die Treppen auf Knien hoch, und es war nie hell da oben, auch dann nicht, wenn die Sonne gleißend durch die Fenster fiel. Es war so still in diesen Zimmern, dass sie jedes Mal kurz die Luft anhielt, warum genau, wusste sie nicht. Ihr kam es komisch vor, dass ihre Mutter Klobrillen abwischte, auf denen niemand gesessen hatte, seit sie das letzte Mal die Treppen hochgeklettert war. In den Bädern standen teure Parfüms, und ihre Mutter besprühte sich jedes Mal damit. Fand Faltencremes, die sie sich ins Gesicht massierte. Es roch süß und beißend in diesen Bädern.

Wenn sie und ihre Mutter abends beisammensaßen, schauten sie Filme, in denen Menschen verschleppt und ermordet wurden. Es war nicht wichtig, ob sie zu klein dafür war, Albträume hatte sie sowieso. Die Filme waren kaum schlimmer als die Geschichten, die ihre Großmutter erzählte, von Lagern, während sie hauchdünne Spiralen von den Kartoffeln schälte. Sie handelten von den alten Männern, sie erzählten gleiches und ganz anderes. Die alten Männer standen an einem anderen Ort der Geschichte und gleichzeitig im selben Wohnzimmer wie sie. Doch beim Filme schauen schwiegen sie es aus, vielleicht weil ihre Mutter es sonst nicht ausgehalten hätte, die Toiletten und die schweren Möbel.

 

Lektorat: Carolin Krahl, Olivia Golde

Prosa#5PS